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Diesmal sah sie die Kobolde mit verwirrender Geschwindigkeit an den Stämmen auf und nieder huschen, von schwarzen Katzen begleitet, deren Krallen leuchtende Spuren hinterließen, und Käuzchen und Fledermäuse, ihre alten Hexensabbat-Kumpane, flatterten ihr um den Kopf. Sie zitterte im Fieber. Als ein kaum noch zu ertragender Krampf sie überfiel, erinnerte sie sich der Nüsse, die ihr die Hexe gegeben und die sie in der Tasche verwahrt hatte. Sie aß eine von ihnen, und ihre Qualen ließen gleich darauf nach. Der Schmerz war noch immer da, aber gleichsam entfernt, wie erstickt. Gierig aß sie eine weitere und eine dritte, aus Furcht, sich dem nackten, grausamen Schmerz wieder ausgesetzt zu finden. Sanft ließ sie sich in einen todesähnlichen Schlaf hinübergleiten.
Bei ihrem Erwachen hatte der Wald sein drohendes Aussehen verloren. Ein Vogel sang auf der Spitze eines Astes unter einem perlgrauen, rosig überhauchten Himmel.
»Es ist zu Ende«, dachte Angélique. »Ich bin gerettet.«
Ermattet blieb sie liegen, ohne sich vorerst zu rühren. Endlich richtete sie sich auf. Ihr Körper schien ihr wie aus Blei. Sitzend und sich mit beiden Armen stützend, betrachtete sie dankbar ihre friedliche Umgebung.
»Du bist frei ... bist befreit.«
Aber nirgends waren Spuren des überstandenen Dramas zu sehen. Die Geister mußten sie beseitigt haben.
Angélique fand allmählich ihre geistige Klarheit wieder. Es war da etwas, was sie nicht verstand.
»Was ist geschehen?«
Die Antwort war eine kaum merkliche Bewegung, die sie in ihrem Innern spürte, und sie begriff, enttäuscht und wie vor den Kopf geschlagen. »Nichts ist geschehen. Ich habe vergeblich gelitten. Verwünscht! Verwünscht!«
Die Schande war ihr nicht genommen worden. Von neuem kam es wie ein Anfall von Wahnsinn über sie. Sie schlug sich mit Fäusten, stieß ihren Kopf gegen den Fels.
Dann sprang sie vom Stein und lief zur Höhle Melusines, die sie in ihrer Wut fast erwürgt hätte.
»Gib mir mehr von deinem Mittel .«
Um ihr elendes Dasein zu retten, fand die Zauberin Einwände diplomatischer Überredungskunst.
»Warum willst du deine Frucht loswerden, obwohl alle Welt schon deine Sünde gesehen hat? Warte noch zwei oder drei Monde ... Erwarte deine Stunde! ... Das Kind wird ohnehin deinen Leib verlassen, ob du willst oder nicht . und ohne daß du wie heute den Tod riskierst. Wenn es soweit ist, kommst du zu mir. Ich werde dir helfen . Danach machst du mit ihm, was du willst. Wirfst es in die Vendée, als Opfer in der Schlucht der Riesen oder legst es auf eine Türschwelle in der Stadt ...«
Angélique begann endlich auf sie zu hören.
»Ich werde nie den Mut finden, länger zu warten«, seufzte sie.
Doch sie wußte schon, daß die Zauberin recht hatte.
Sie verließ den Wald und stieß zu den beiden Brüdern des Herzogs de La Morinière. Sie fand sie im Schloß Ronçay, nahe Bressuire. Sie sagte ihnen, daß der Patriarch tot sei und daß sie sein Werk fortsetzen müßten. Es erwies sich als schwierig, sie nach den näheren Umständen dieses Todes zu fragen. Angéliques Haltung schreckte selbst die Kühnsten ab. Ihre Schwangerschaft war nun nicht mehr zu übersehen, und sie suchte sie auch nicht zu verbergen. Es war etwas in ihr, das Redereien darüber verbot.
Die beiden Brüder de La Morinière bezeigten ihr weiterhin die größte Ehrerbietung. Sie glaubten, daß es das Kind Samuel de La Morinières sei.
Auch den Abbé de Lesdiguière fand sie wieder. Sie kamen mit keinem Wort auf das Geschehene zurück, und der junge Geistliche nahm von neuem seinen Platz in der vagabundierenden Eskorte ein, die der Rebellin des Poitou folgte.
Mit dem Frühling durchlief ein Zittern die Natur und schien sich auch den Menschen mitzuteilen. Die Zeit der Kämpfe war nahe. Die Scharmützel nahmen an Zahl und Bedeutung zu, und eine blutige Ära kündigte sich an.
Eine unermüdliche Frau galoppierte, von ihren Getreuen begleitet, kreuz und quer durch die Provinz.
Man erzählte sich, daß überall, wo sie auftauche, der Sieg den Partisanen sicher sei.
Im Juli kehrte sie in das Gebiet von Nieul zurück, und dort verschwand sie für einige Tage.
Ihre Begleiter und Diener suchten sie zuerst und beunruhigten sich ihretwegen, dann schwiegen sie, denn ihnen allen kam plötzlich derselbe Gedanke, und sie verstanden, warum sie sich von ihnen getrennt und sich irgendwo verborgen hatte.
Angstvoll saßen sie um das Feuer und warteten auf ihre Rückkehr. Sie würde zweifellos blasser und verändert wieder auftauchen, doch mit demselben rätselhaften Ausdruck in der Tiefe ihrer grünen Augen. Und niemand würde es wagen, ihre plötzlich schlank gewordene Taille zu betrachten.
Die Lichtung, von der sie aufgebrochen war, verließen sie nicht. Sie sollte sie nicht lange suchen müssen. Sonst vermochten sie nichts für sie zu tun. Sie konnten nichts für ihre Schmerzen und ihren Leidenskampf im Herzen der Wälder. Sie waren Männer, und sie war eine Frau. Sie war schön und stolz und von hoher Geburt, aber der Fluch der Frauen hatte auch sie berührt. Sie wagten nicht an die Einsamen im Wald zu denken, und sie schämten sich, Männer zu sein.
Angélique war wie eine Rasende bis zu den Grenzen des Waldes von Nieul galoppiert. Sie ließ ihr Pferd in einer Meierei, deren Pächterin sie verehrte, und stieg zu den Hügeln des Waldes hinauf. Sie kam außer Atem, während sie sich an den Sträuchern hochzog, um ihr Fortkommen zu beschleunigen. Unter den Bäumen fühlte sie sich wohler, aber sie hatte noch einen langen Weg vor sich. Die Furcht ließ sie nicht los. Sie glaubte, daß es ihr niemals gelingen würde, den steilen Pfad zwischen den Felsen hinabzuklettern, der zu Melusines Behausung führte, und brach schließlich wie ein verwundetes Tier auf dem Sand der Höhle zusammen.
Mit den fahrigen Bewegungen einer aus der Fassung geratenen alten Mutter hob die Zauberin sie auf, bettete sie auf ein Lager von Farnkräutern und streichelte ihr feuchtes Haar mit ihren gekrümmten, verknöcherten Fingern.
Sie flößte ihr ein beruhigendes Getränk ein und legte Pflaster auf, die sie erleichterten. Das Kind kam schnell zur Welt. Angélique stützte sich auf, um mit Schrecken dieses durch ein Verbrechen geborene Wesen zu betrachten. Sie hatte sich darauf gefaßt gemacht, daß es verunstaltet, verkrüppelt sein würde. Ein Kind, das unter solchen Umständen empfangen worden war, konnte nicht gesund sein. Infolgedessen stieß sie einen Schrei des Entsetzens aus:
»Oh, Melusine, sieh doch . Es ist ein Monstrum . Es hat kein Geschlecht .«
Die Zauberin warf ihr durch ihre weißen Strähnen einen spöttischen Blick zu.
»Ach, was! Es ist ein Mädchen .«
Angélique ließ sich zurückfallen und wurde von einem nicht zu bezähmenden krampfhaften Gelächter geschüttelt.
»Wie dumm ich bin! Ich hatte nicht daran gedacht. O nein ... ein Mädchen! Ich wäre nie darauf gekommen. Ich bin es nicht gewöhnt, verstehst du? . Nicht gewöhnt! ... Ich hab’ nur Jungen in die Welt gesetzt ... Ja, drei Jungen ... drei Söhne ... Jetzt hab’ ich keinen mehr. Keinen einzigen! ... Eine Tochter! ... Es ist zu komisch!«
Ihr Lachen ging in ein wildes Schluchzen über, das wie ein Gewitterregen über sie hereinbrach.
Tränenüberströmt sank sie alsbald in tiefen Schlaf. Ihr gelöstes, lichtes Haar umgab sie mit dem Glanz der Unschuld.
Als sie erwachte, hielt der im Schlaf empfundene Frieden an. Ein völlig körperlicher Frieden, der jedoch auch ihre gemarterte Seele betäubte.
Auf einen Ellbogen gestützt, ließ sie ihren Blick zum Eingang der Höhle hinübergleiten und sah unvermutet etwas Bezauberndes: vor der Laubwand hob sich eine grasende Hirschkuh ab, der ein Junges folgte. Die Umgebung der Höhle schien ihr vertraut zu sein, denn sie hob nicht unruhig den Kopf, wie es Tiere tun, die die Nachbarschaft der Menschen spü-ren.
Angélique beobachtete sie eine Weile mit angehaltenem Atem, und als die graziösen Tiere sich entfernt hatten, streckte sie sich von neuem mit einem Seufzer aus. Sie fühlte sich bei Melusine geborgen. Sie begriff, warum ein durch allzu viele Schläge verletztes Frauenherz seinen einzigen Trost in der Einsamkeit der Wälder fand und sich darum endgültig in ihren Frieden flüchtete. So wurde man zur Hexe der Wälder.
Gegen Abend weckte sie ein anderes Geräusch, und sie fuhr hoch, von neuem geängstigt: ein dünner, halb erstickter Schrei, der nicht von einem Tier herrühren konnte.
»Sie hat Durst«, sagte die Zauberin und humpelte in den Hintergrund der Höhle, um etwas zu holen. Sie tauchte mit einem unförmigen, in einen Fetzen roten Chiffons gehüllten Bündel wieder auf, aus dem das Plärren drang.
Angélique sah der Zauberin mit ungläubiger Bestürzung entgegen.
»Es lebt? Aber es hat doch bei seiner Geburt keinen Ton von sich gegeben!«
»Schon richtig. Jetzt schreit sie dafür um so mehr. Sie hat Durst ...«
Und Melusine hielt das Kind an die Brust der jungen Wöchnerin.
Angéliques ganzes Wesen verweigerte sich dieser Bewegung. Ihre Augen blitzten.
»Nein!« rief sie wild. »Nein, niemals ... Sie hat mein Blut, aber sie wird nicht meine Milch bekommen ... Meine Milch ist nicht für sie, nicht für einen Landsknechtsbastard. Nimm sie fort, Melusine! . Schaff sie mir aus den Augen. Gib ihr Wasser, ganz gleich was, damit sie ruhig ist, aber bring sie nicht zu mir ... Morgen werde ich sie in die Stadt mitnehmen.«