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»Die Aureole?« murmelte sie träumerisch. »Die muselmanischen Heiligen sprachen davon ... Ist sie so düster, Vater?«
»Ihr zittert schon bei dem Gedanken, Euch über Euch selbst zuneigen. Was fürchtet Ihr eigentlich zu sehen?«
Sie starrte ihn an. Seine wie Quecksilber glänzenden Augen durchdrangen sie bis auf den Grund ihrer Seele. Sie konnte ihren Blick nicht von ihnen lösen.
»Befreit Euch«, drängte er, »sonst werdet Ihr Euren Lebensmut nie wiederfinden.«
»Lebensmut? Warum Lebensmut? Ich lege keinen Wert auf Lebensmut.«
Sie stand vor ihm, beide Hände an ihrer Kehle, als ob sie erstickte.
»Was sollte ich mit dem Leben anfangen? Ich spuck’ darauf, ich hasse es . es hat mir alles genommen, hat aus mir die Frau gemacht, vor der ich .ja, es ist wahr ... Angst empfinde.«
Erschöpft ließ sie sich auf den Schemel sinken.
»Ihr könnt es nicht verstehen, aber ich stürbe gern.«
»Es ist nicht wahr. Ihr könnt Euch nicht nach dem Tode sehnen.«
»O doch, ich versichere es Euch.«
»Ihr seid nur müde. Aber die Sehnsucht nach dem Tode, die Lust am Tode steht nur denen offen, müßt Ihr wissen, die mit ihrem Leben - kurz oder lang - zufrieden sind, die es erfüllt, die es so gelebt haben, wie sie es zu leben wünschten. Kennt Ihr den Gesang des Greises Simeon? »Meine Augen haben den Erlöser der Welt erblickt, nun kann ich sterben.< Doch solange ein Wesen sich nicht verwirklicht hat, solange es fern von seinem Ziel irrt, solange es nur Niederlagen erlitten hat, kann es nicht den Tod herbeisehnen. Das Vergessen, den Schlaf, das Nichts, ja ... Lebensmüdigkeit? Das ist nicht der Tod, der Schatz, den Gott uns mit unserem Sein anvertraut hat, das unaussprechliche Versprechen .«
Angélique dachte an den Abbé de Lesdiguière, an sein junges, erleuchtetes Gesicht. »O Tod, beeile dich!« hatte er gesagt. Sie dachte an Colin Paturel, der so oft den Henkern ausgeliefert gewesen war, und an das, was sie selbst durchlebt hatte, als man sie unter den grausamen Augen Moulay Ismaëls an die Säule fesselte. Damals wäre sie gern gestorben, sie hatte gespürt, daß sie der Herrlichkeit entgegengehen würde. Aber nicht heute.
»Ihr habt recht«, sagte sie mit jähem Erschrecken. »Jetzt kann ich nicht sterben. Es wäre Verschleuderung.«
Er lachte.
»Ich liebe das Aufflammen Eurer Vitalität! Ja, Madame, Ihr müßt leben. Sterben in der Niederlage - wie lächerlich! Das Schlimmste ...«.
Sie kämpfte mit sich. Sie fürchtete, seinen dunklen, bannenden Augen zu begegnen, sobald sie den Blick hob.
»Ihr belauert mich wie eine Beute«, murmelte sie.
»Ich möchte Euch befreit sehen, damit Ihr von neuem zu leben beginnt.«
»Befreit wovon?« rief sie aufgebracht aus.
»Von jenem tief in Euch vergrabenen Hemmnis, das Euch daran hindert, Freundschaft mit Euch selbst und dem Leben zu schließen.«
»Ich könnte niemals verzeihen.«
»Nicht das wird von Euch gefordert.«
Angélique war in einen inneren Kampf verstrickt. Er beobachtete ihr hastiges Atmen, und die Angst, die dieses schöne Gesicht verzerrte, quälte ihn.
Wie, warum, an welchem Tage würde sie vor ihm niederknien? Ihre Hände krallten sich in das grobe Tuch seiner weißen Kutte, und der Zwang, den sie sich auferlegte, weitete ihre klaren, lichten Augen.
»Hört mich an, Bruder Jean ... Hört mich an ... Wißt Ihr von dem Gemetzel auf dem Feld der Dragoner?«
Er neigte bejahend den Kopf.
»Ich bin es, die es befohlen hat.«
»Wir wissen es.«
»Das ist nicht alles. Hört ... Sie brachten mir den Kopf Montadours, und ich ... ich habe bei seinem Anblick ein schreckliches Vergnügen empfunden. Ich hätte gerne meine Hände in seinem Blut gewaschen.«
Der Geistliche schloß die Augen.
»Seit dieser Nacht«, flüsterte Angélique, »habe ich Angst vor mir und vermeide es, mich über mich selbst zu neigen.«
»Die Verlockung des höllischen Abgrunds hat Euch gepackt. Wollt Ihr diese Erinnerung für immer auslöschen?«
»Von ganzem Herzen.«
Voller Hoffnung sah sie ihn an.
»Könnt Ihr sie löschen?«
»Habt Ihr denn den Glauben Eurer Kindheit völlig verloren, daß Ihr daran zweifelt?«
»Gott weiß es. Was nützte das Bekenntnis, das ich Euch im Beichtstuhl machen würde?«
»Ohne Bekenntnis und Reue vermöchte selbst Er es nicht, Eure Sünde zu vergeben. Darin besteht die menschliche Freiheit.«
Er hatte sie besiegt.
Nach der Absolution war ihr, als genese sie von einer Krankheit. Sie betrachtete ihre Hände, die offen vor ihr lagen.
»Wird das Blut an meinen Händen auch ausgelöscht werden?«
»Es handelt sich nicht darum, den Folgen Eurer Taten zu entgehen, sondern von neuem zu leben. Jahrelang seid Ihr nichts als Haß gewesen. Seid von nun an nur Liebe. Eure Genesung vollzieht sich um diesen Preis.«
Ihr Lachen klang ernüchtert.
»Dieses Programm gefällt mir nicht. Mein Kampf ist noch nicht zu Ende.«
»Es ist eine innere Haltung.«
Sie verspottete seine Bewegung, indem sie herausfordernd das Haar schüttelte.
»Was für Geschichten um einen abgeschnittenen Kopf! Moulay Ismaël opferte täglich zwei oder drei, um Gott angenehm zu sein. Ihr seht, daß es recht schwierig ist, das Gute oder Böse zu definieren, wenn man auf Reisen ist.«
Ihre Bemerkung schien den Vater Abbé zu amüsieren. Sein Lächeln war wie der Abglanz eines Sonnenstrahls auf Schnee. Es verwandelte die strenge, ernste Maske in ein freundliches Gesicht von erstaunlicher Jugendlichkeit.