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Anfangs hatte er sie so eingeschüchtert, daß sie lange brauchte, um diese Eigentümlichkeit zu bemerken und in der Wärme seines Lebens aufzutauen.
Auf den Scherz eingehend, den sie in Erinnerung an Moulay Ismaël gemacht hatte, sagte er: »Das Böse ist das, was Ihr für Eure moralische Gesundheit als schädlich empfindet. Das Gute befriedigt Eure persönliche Neigung für Gerechtigkeit.«
»Nun ist es an mir, Euch zu fragen, Vater, ob Eure Erklärung nicht ein ganz klein wenig ketzerisch ist.«
»Ich erlaube sie mir nur denen gegenüber, die sie zu verstehen vermögen.«
»Habt Ihr so großes Vertrauen zu mir?«
Er betrachtete sie lange.
»Ja, denn Euer Schicksal ist nicht üblich. Ihr müßt Euch außerhalb gebahnter Wege bewähren.«
Er stellte ihr viele Fragen über den Islam. Was sie ihm von den muselmanischen Sitten, von dem intensiven, wilden Glauben berichtete, begeisterte ihn, und ohne Furcht enthüllte sie ihm ihre Bewunderung und das Heimweh, das sie zuweilen danach verspürte.
Sie durchblätterten Folianten, die zwischen kunstvollen Malereien die Geschichte der arabischen Invasionen und die Erläuterung der Botschaft Mohammeds durch die Kirchenväter enthielten. Es waren unvergeßliche, zeitlose Stunden, die Angélique vor den Lesepulten verbrachte, während er mit seinen mageren Händen die Seiten umwandte, Händen, die so schmal und durchscheinend waren, daß sie fast weiblich wirkten. Durch seine intensive Beschäftigung mit den Primitiven schien er deren blutlose Grazie angenommen zu haben.
Eines Nachmittags, während sie ihn erwartete, entdeckte Angélique in einer der Malereien ein Engelsgesicht mit grünen Augen, das ihr vertraut schien. Noch einige Male fand sie diesen Engel im Meßbuch wieder. Ein Engel mit traurigem oder funkelndem Blick, mit gesenkten Lidern unter der lichten Haarkrone, lächelnd oder ernst.
»Nicht wahr, Bruder Jean, als Novize der Abtei von Nieul habt Ihr einstmals dieses Buch ausgeschmückt?« fragte sie lächelnd, als der Vater Abbé eintrat.
Er betrachtete die Bilder und lächelte gleichfalls.
»Wie hätte ich das Kind der Nacht vergessen können, die Poesie, die von ihm ausging? Frische, Schönheit, Lebenslust, alle diese Schätze waren in ihm und verströmten sich durch seine Augen. Mir scheint, daß Gott es ins Kloster geschickt hatte, um mir die Schönheit Seiner Schöpfung ins Gedächtnis zu rufen.«
»Und jetzt bin ich alt, eine gefallene Sünderin.«
Der Vater Abbé lachte herzlich.
»Wo nehmt Ihr nur solche Dummheiten her? Wie kann ein so schöner Mund es wagen, so bittere Worte von sich zu geben? Ihr seid jung! Oh, wie jung Ihr seid!« wiederholte er mit einem feurigen Blick. »Ihr habt Euch, und das ist fast ein Wunder, die Überfülle des Lebens bewahrt. Gewiß, Ihr habt viel gelebt, und dennoch, ich versichere es Euch, liegt Euer wahres Leben noch vor Euch.«
»Ich habe weiße Haare.«
»Ein Schmuck mehr«, sagte er in spöttischem Ton.
Und zum erstenmal seit langen Monaten wurde sie sich vor seinen auf sie gerichteten Augen ihrer selbst bewußt und glaubte, sich in ihnen zu sehen. Sie spürte die Kraft ihres Körpers, ihre in der Luft der Wälder, durch die Härte der Ritte gewachsene Widerstandsfähigkeit. Ihre Taille war nicht mehr so zart, ihre Schultern waren kräftiger, aber sie hatte die rosig überhauchte, goldwarme Hautfarbe der Poitevinerin wiedergefunden, und die Schatten um ihre Augen, diese Schatten, die von zahllosen Tränen sprachen, betonten das Pathos ihres Blicks und unterstrichen seinen Glanz.
Ihre äußere Erscheinung war ihr so gleichgültig geworden, daß es ihr fast peinlich war, sich so plötzlich neu zu entdecken, und daß sie mechanisch die Säume ihres Mantels über ihrer Brust zusammenzog.
»Ihr sucht mich vergeblich zu ermutigen«, sagte sie, den Kopf schüttelnd. »Ihr könnt es nicht verstehen ... Ich sehe aus, als ob ich lebte ... Aber ich fühle mich wie hinter einem dichten Vorhang.«
»Man erholt sich nicht so schnell von einer schweren Krankheit.«
Mit seinem langsamen Schritt, der über die Fliesen zu gleiten schien, kehrte er zu seinem äbtlichen Chorstuhl zurück und musterte sie gedankenvoll, nachdem er sich gesetzt hatte.
»Aber die Genesung ist auf dem Weg. Welch ein Unterschied schon im Vergleich zu jenem Abend, an dem Ihr mit Eurem Kind in der Abtei Schutz suchtet. Seid geduldig. Wendet Euch zum Licht und nicht zur Finsternis, und Ihr werdet in Eurer Seele und Eurem Körper gesunden.«
Sie verwunderte sich:
»In meinem Körper? Ich bin nicht krank!«
»Ihr fürchtet und haßt den Mann. Das ist Eure Krankheit. Oder besser Eure Anomalie, von der man Euch heilen muß. Sie wird Eure Seele ersticken, denn Ihr seid für die Liebe geschaffen.«
Angéliques Verblüffung löste sich in einem jähen Zornausbruch.
»Wovon sprecht Ihr?« rief sie scharf. »In was mischt Ihr Euch? Was wißt Ihr von den Qualen einer Frau, die das Verlangen der Männer verfolgt? Von dem Grauen, das sie vor ihnen und vor sich selbst empfinden kann? Von allem, was die Liebe an Trug und Entartung einschließt? . Und seid ihr übrigens nicht die ersten, die das Gespenst der Wollust aufrichten und Buße fordern?«
Er lächelte, von ihrer Heftigkeit offenbar nicht berührt.
»Warum lächelt Ihr?«
»Weil ich, je länger ich Euch betrachte, um so deutlicher sehe, daß Ihr dafür geschaffen seid, in den Armen eines Mannes zu liegen.«
Die Vorstellung verwirrte und beruhigte sie zugleich.
Er fuhr heiter fort: »Ich spreche nicht im Plural. Ich sagte: eines Mannes. Ihr seid zu sinnlich, um der Liebe zu entsagen. Sucht die Genesung für den, der kommen muß, der .«
»Ja, für den Gatten, den die kluge Jungfrau mit ihrer Lampe in der Hand erwartet. Das paßt auf mich.«
Sie spürte einen jähen, durchdringenden Schmerz, während sie dachte; »Der Gatte! ... Ich habe ihn gekannt. Er erfüllte mich, aber man hat ihn aus meinen Armen gerissen.«
»Ihr müßt Eure Blicke in die Zukunft richten. Sucht den zu erkennen, der kommen wird. Und bereitet Euch darauf vor, ihn zu empfangen. Seid Ihr denn entschlossen, die Schande Eurer Sünden unaufhörlich in Eurer Seele zu bewahren? Nein. Bringt also auch für Euren Körper nicht mehr Stolz auf. Er ist weniger wert. Ihr dürft die Erinnerung seiner Schmach nicht kultivieren. Nach dem Winter kehrt immer der Frühling wieder. Blut und Fleisch erneuern sich. Eure Gesundheit scheint gut .«
Daß er es wagte, zu ihr so offen von dem geheimen Leid zu sprechen, das sie verzehrte, genierte und tröstete sie zugleich.
»Es wird nicht leicht sein«, sagte sie. »Man merkt, daß Ihr nie in einer solchen Lage .«
»Starrkopf! ... Lernt, Euch von dem abzuwenden, was Euch Böses getan hat. Seht, die Sonne scheint zum erstenmal seit vielen Tagen. Nehmt die Hand Eures Kindes, geht im Garten spazieren und denkt dabei über Eure Hoffnungen nach.«
Sie war sich durchaus nicht sicher, ob sie sich jene Zukunft wünschen sollte, die er ihr ausgemalt hatte.
Gab es auf der Welt einen Mann, der imstande war, sie von neuem zu zähmen? Die Wunde saß zu tief. Wenn sie jedoch dem Instinkt nachgrübelte, der sie veranlaßt hatte, ihr nach Trost dürstendes Herz dem Abbé von Nieul zu öffnen, mußte sie sich eingestehen, daß mancherlei in ihr nachzugeben begann. Er hatte sie mit der Geduld eines Vogelfängers zu sich gelockt. Aber der Zauber seiner männlichen, durch Bußübungen verzehrten Persönlichkeit hatte gleichfalls eine gewisse Rolle gespielt. Ja, er hatte recht. Wie sehr sie doch Frau geblieben war! ...
»Was ist in der Abtei mit mir geschehen?« fragte sie sich. »Manchmal ist mir, als hätte ich mich verloren, als schwebte ich in der Luft.«
»Ihr seid in etwas hineingeschleudert worden, was die Mathematiker den »Durchgang durchs Unendli-che< nennen.«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Wenn man die mathematischen Wissenschaften studiert, lernt man, daß nicht alle Lösungen eines Problems notwendigerweise berechenbar sind, das heißt sich eine aus der anderen ableiten und durch ein positives Resultat ausdrücken lassen. Ein paar einfache Beispiele: wir wissen nicht, ob die Lösung einer mathematischen Gleichung plus oder minus ist. Andersherum gesagt: ob man gewonnen oder verloren hat.
Schon das einfache Ausziehen der Quadratwurzel schafft ein philosophisches Problem von beträchtlicher, unberechenbarer Tragweite: Was kann die Wurzel einer negativen Zahl sein? Gegen den Schwindel, der uns angesichts der Unfaßbarkeit packt, sichern wir uns durch die Erklärung, daß sie imaginär oder eine trigonometrische Linie sei. Damit geben wir zu, daß wir nicht mehr wissen, was geschieht, denn es bedeutet, daß wir auf eine andere Ebene physischer Struktur übergegangen sind. Zur größeren Bequemlichkeit des Geistes wird man sagen, daß wir eine Unterbrechung des Zusammenhangs< oder einen »Durchgang durchs Unendliche< passiert haben. Versteht Ihr mich?«
»Ich glaube zu verstehen. Ich verspüre selbst dieses vorübergehende Verschwinden des Problems.«
»Welch tiefer Abgrund ist dieses Unendliche schon im Bereich der reinen Mathematik. Aber auch in unserem täglichen Leben ist es allgegenwärtig. Sobald unser Geist keine klare Lösung mehr sieht, drängt sie der Durchgang durchs Unendliche oder Irrationelle oder Übersinnliche wie von selbst auf. Wir tauchen aus ihm auf, um wieder unserer gewöhnlichen Bahn zu folgen, aber die Lösung ist in der Tat schon gefunden worden.«