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»Ihr gehört zu jenen Frauen, die den Kampf brauchen, um sich erfüllt zu fühlen und um - o ja, so etwas gibt es! - jung und schön zu bleiben. Wärt Ihr mit einem alltäglichen Leben zufrieden, eine Stickerei in den Händen, oder gar mit einer frivolen Existenz?«
»Ich weiß es nicht mehr. Manchmal war mir, als sei ich für ein einfaches, bäuerisches Glück geschaffen: einen Mann zum Lieben, Kinder um einen Tisch herum, für die ich Backwerk kneten würde ... Alle Frauen bewahren dieses Bild in einem Winkel ihres Herzens, selbst die verkommensten, selbst die mondänsten. Und gleichfalls wie jede Frau hoffte ich, Reichtümer zu gewinnen, der Genüsse wegen, die sie verschaffen: Schmuck, Brokat, Pelze, die Bewunderung der Männer . Aber sehr schnell wurde mir klar, daß ich dabei weder glücklich war noch mich wohl fühlte. Es paßte nicht zu mir, während ich die Rolle, die ich während des Aufstands spielte, leidenschaftlich liebte. Ihr werdet mir sagen, es sei nicht Sache der Frau, Blut zu vergießen, es sei gegen die Natur. Aber ich liebe den Kampf. Ich würde lügen, wenn ich es zu verschleiern versuchte. Das Abenteuer, das Warten auf den Sieg, das Zusammenraffen zerstreuter Kräfte, um ihnen ein Ziel zu geben, ja, selbst die Unruhe, die Angst, die Hoffnung, eine verzweifelte Situation in letzter Minute zu retten - all das gefiel mir. Ich habe während der beiden hinter mir liegenden Jahre gelitten, aber ich habe mich nie gelangweilt.«
»Man sagt ja, daß es für den Mann - und mehr noch für die Frau - eine der wesentlichsten Voraussetzungen des Glückes sei, sich nicht zu langweilen.«
»Ihr nehmt also an meinen Geständnissen keinen Anstoß? Wie erklärt Ihr diese Widersprüche?«
»Ein menschliches Wesen ist vieler Dinge fähig. Sie bilden das Gewebe seines Lebens, in dem sich Böses und Gutes, Auflehnung und Unterwerfung, Sanftmut und Gewalt verknüpfen.«
Er murmelte: »Ein jegliches hat seine Zeit, und alles unter dem Himmel hat seine Stunde. Geboren werden und sterben ... vernichten und heilen ...
weinen und lachen, klagen und tanzen ... herzen und ferne sein von Herzen ... schweigen und reden, hassen und lieben .«
»Wer hat das gesagt?«
»Einer der großen Weisen der Bibel. Der Prediger Salomo.«
»Es hätte also nicht nur schmutzige und abscheuliche Dinge in meiner Auflehnung gegeben?«
»Gewiß nicht.«
Angéliques Antlitz leuchtete auf.
»Eure Nachsicht ist tröstlicher als Eure Strenge. Ihr seid anfangs hart zu mir gewesen .«
»Ich wollte Euch Angst machen, um Euch vor dem Untergang zu bewahren. Ich wollte Euch auch zum Sprechen bringen, und ich beglückwünsche mich, daß es mir gelang. Das verriegelte Herz verdirbt.«
Das Kinn in die Hand gestützt, sann er lange nach, wie an ein schwer zu lösendes Problem verloren.
»Ihr müßt diese Erde verlassen«, sagte er endlich.
»Wollt Ihr damit sagen, daß ich sterben muß?« schrie sie entsetzt auf.
»Nein, hundertmal nein, liebe Seele. Ihr, die ihr das Leben selbst seid! ... Ich wollte sagen: dieses Land verlassen, das Land Eurer Kindheit und auch . dieses Königreich, in dem ein Preis auf Euren Kopf gesetzt ist. Diese gequälte Welt verlassen, der es durch ihre noch junge christliche Kultur bisher nicht gelungen ist, sich aus dem ersten Konflikt zu lösen: Gott und Satan. Ihr seid nicht für solche mystischen Auseinandersetzungen geboren. Ihr seid der Natur zu nah. Eure Rechtlichkeit, Eure Neigung zum Ausgleich finden keine Befriedigung in extremen, in gewissem Grade antinatürlichen Gefühlen. Die Werte, die Euch wichtig sind, liegen auf einer anderen Ebene, und Ihr werdet darum immer mit denen, die Euch umgeben, uneins sein. Ihr seid ein wenig wie jene erste Frau, die Gott erschuf und die sich vor den Früchten des Gartens Eden aufs höchste verwunderte ... Ihr müßt fort.«
»Wohin?«
»Ich weiß es nicht. Schafft eine neue, irdischere, duldsamere Welt .« Er hob die Augen zum Fenster.
»Der Schnee ist verschwunden, die Sonne strahlt. Der Frühling ist gekommen. Habt Ihr es bemerkt?«
Das Blau des Himmels füllte den Ausschnitt des römischen Bogens, und auf dem Fensterbrett gurrten zwei Tauben.
»Ich habe Nachrichten eingezogen. Die Soldaten haben das Poitou verlassen. Das Land ist ruhig, wenn auch noch nicht befriedet. Ihr könnt ohne Schwierigkeiten durchs Moor Maillezais und von dort aus die Küste erreichen. Habt Ihr Komplicen, zu denen Ihr Euch gesellen könnt?«
»Wollt Ihr sagen, daß ich fortgehen muß?« hauchte sie.
»Die Zeit ist gekommen.«
Sie sah die feindselige Welt vor sich, die sie jenseits der Pforte der Abtei erwartete, in der sie sich einsam und von lauernden Blicken verfolgt mit ihrem Bastardkind in den Armen würde durchschlagen müssen.
Dicht vor ihm sank sie auf die Knie: »Schickt mich nicht fort. Hier fühle ich mich wohl. Hier ist Gottes Asyl.«
»Die ganze Welt ist Gottes Asyl für diejenigen, die an seine Barmherzigkeit glauben.«
Sie schloß die Augen, und durch ihre langen Wimpern quollen Tränen, die glänzende Spuren über ihre Wangen zogen. Er sah sie vom schwarzen Hof des Unglücks umgeben. Sie war noch nicht außer Gefahr, aber die Gewißheit, daß der Sieg ihr gegeben würde, schien bereits durch. Er war es ihr schuldig, sie wieder in den Wind der Welt zurückzustoßen.
Er streckte den Arm aus, und sie fühlte auf ihrem Haar die unendlich sanfte Berührung seiner Asketenhand.
»Mut, liebe Seele. Gott segne Euch.«
Am folgenden Tage trat der Bruder Pförtner bei ihr ein. Wie sie es sich gewünscht hatte, war ihr ein Maultier gesattelt worden, das sie durch Vermittlung der Mönche von Maillezais zurückschicken würde. Er hatte das Tier mit zwei Körben beladen, die Nahrungsmittel und eine Decke enthielten. Angélique hüllte den Kopf ihrer Tochter sorgfältig in eine Kapuze. Wenn sie schon nicht die Farbe ihrer eigenen Augen verbergen konnte, wollte sie wenigstens die des Haars ihrer Tochter verstecken; sie wußte sehr wohl, daß sie ihren Verfolgern als Frau mit grünen Augen beschrieben worden war, die in ihren Armen ein rothaariges Kind trage. Es war ihr Pech, daß sich auch Honorine durch eine auffallende Besonderheit auszeichnete.
Die Hand schon auf dem Hals des Maultiers, zögerte sie noch einen Moment. War es nicht möglich, ein letztes Mal vom Vater Abbé und ihrem Bruder Abschied zu nehmen?
Der Pförtner schüttelte den Kopf. Die Heilige Woche stand unmittelbar bevor. Das Kloster hatte sich schon gegen die Außenwelt verschlossen.
Wirklich lastete ein noch drückenderes Schweigen als gewöhnlich über der Abtei, Die geweihten Männer sammelten sich für die Wallfahrt der Tage vor Ostern. Die Frau mußte sich entfernen.
Etwas anderes noch riß sich aus dem Herzen Angéliques und blutete schmerzlich. Aber waren nicht auch dieses Leid und die Tatsache, daß sie es empfinden konnte, ein Zeichen ihrer Genesung?
Sie schwang sich auf das Tier, drückte Honorine an sich und ritt unter der Torwölbung hindurch.
Während sie den zum Walde führenden Pfad einschlug, vernahm sie das schwere Knarren des Portals, das sich hinter ihr schloß, und gleich darauf schlug eine Glocke drei helle Töne an.
Wie viele Türen hatten sich schon hinter ihr geschlossen, immer von neuem Auswege versperrend wie Treiber dem gejagten Wild! Jedesmal hatten sich die Möglichkeiten, ihrem Schicksal zu entrinnen, um ein weniges vermindert, und bald würde ihr nur noch ein einziger Weg übrigbleiben: der ihre. Welcher war es? Noch wußte sie es nicht. Sie konnte ihn nur ahnen, und sie begann zu begreifen, daß Katastrophen und unübersteigliche Hindernisse sie immer wieder von ihren eigenen Launen abgebracht und hart einem einzigen, noch unsichtbaren Ziel zugeführt hatten, das das ihre war.
Noch einmal, ein letztes Mal, durchquerte sie den Wald. Bei hellem Tage wagte sie es nicht, sich den Gefahren der Straße auszusetzen. Durch den Wald und die Sümpfe würde sie zur Abtei von Maillezais gelangen.
Als sie die Schlucht der Wölfe erreichte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Ihre Strahlen fielen in das Tal, und Angélique hielt an, als sei ihr ein unglaubliches Wunder begegnet.
Drei Wochen zuvor hatte sie sich gerade hier, von schneidender Kälte gepeinigt, durch den Schnee geschleppt, hatte sie in ihrem Fleisch die ganze Grausamkeit des harten Winters erlitten. Heute schien das Tal wie mit grünem Samt ausgeschlagen, der Bach, dessen Eis sie damals überquert hatte, hüpfte sprudelnd wie ein junges Zicklein, Veilchen schmückten den Saum des Waldes. Der Kuckuck stieß seinen leichtfertigen Ruf aus. Er kündigte laue Lüfte und das Aufblühen der Blumen an, er vollendete den Frühling.
Angéliques Blick feuchtete sich vor diesen Wundern. Auch Natur und Leben warteten also mit huldreichen Überraschungen auf. Aus einem langen und strengen Winter sproß mit verdoppelter Kraft der Reichtum der Blätter, Gräser und Blüten; aus einem widerwärtigen Verbrechen, aus namenlosem Entsetzen war diese Blüte der Anmut gewachsen, rundlich, weiß, von Flammen gekrönt, die sie in ihren Armen hielt: Honorine.
Die schwarzen Raben zogen nicht mehr ihre unheimlichen Runden über der Lichtung der Feen. Niemand wäre auf den Gedanken verfallen, daß der Tod je an diesem Ort umgegangen war.
Der Abbé de Lesdiguière, der Abbé von Nieul. Zwei Erzengel waren nötig gewesen, um sie aus dem Abgrund zu ziehen, in den sie gestürzt war. Diese beiden reinen Gestalten löschten die böse Erinnerung an den Mönch Becher.
Sie dachte, daß es richtig und notwendig für sie sei, bis zu diesem Tag gelebt zu haben .
Am folgenden Tag gelangte sie nach Maillezais, der prächtigen, auf einer Insel inmitten toten Gewässers erbauten, von Weiden umstandenen Abtei. Des Nachts glaubte man noch das Anschlagen der Wellen zu hören, die im zwölften Jahrhundert ihre Fundamente umspült hatten. Ihre Mauern hüteten das schläfrige, bukolische Dasein der Mönche, die ihre Tage damit verbrachten, Frösche und Aale zu fangen, mehr Zeit auf ihre Mittagsruhe als auf das Brevier verwandten und die Tradition Rabelais’ bewahrten, der hier seinen »Gargantua« geschrieben hatte.