142425.fb2
»Ihr Haar ist wie das Kupfer der Kasserollen!« rief Martial.
Sie lachten bezaubert und glücklich, während Honorine fortfuhr, den Pfarrer mit frommer Bewunderung zu betrachten. Der alte Mann schien gerührt und sogar ein wenig geschmeichelt, der jungen Dame ein so ausschließliches Gefühl eingeflößt zu haben. Er bat darum, sie als erste zu bedienen.
»Die Kleinen sind Könige unter uns. Der Herr nahm sich ihrer mit Vorliebe an.«
Er sprach von dem Gleichnis des Kindes, das Jesus mitten unter die zweifelnden Erwachsenen gesetzt hatte, indem er zu ihnen sagte: »Wenn ihr nicht werdet wie dieses Kind, werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.«
Während er sprach, fanden die Gesichter zu ihrer Ernsthaftigkeit zurück, und der älteste Sohn des Hauses erhob sich und reichte die Speisen herum, wie es in den bürgerlichen Familien üblich war.
»Vater«, sagte Séverine, die zwölfjährige Tochter, in leidenschaftlichem Ton, »was hättet Ihr getan, wenn man Onkel Lazare gezwungen hätte zu kommunizieren? Was hättet Ihr getan?«
»Man kann niemand zwingen zu kommunizieren, meine Tochter. Selbst die Papisten würden es als Sakrileg ansehen, als Gott gegenüber nicht gültig.«
»Aber wie hättet Ihr Euch verhalten, wenn sie es trotzdem getan hätten? Hättet Ihr sie getötet?«
Sie hatte schwarze, brennende Augen in einem kleinen, kreidigen Gesicht, dem die weiße, der bäuerlichen Haube ähnelnde Kappe einen ältlichen Ausdruck verlieh.
»Gewalttätigkeit, meine Tochter .«, begann Maître Gabriel.
Ihr großer, unhübscher Mund verzerrte sich.
»Natürlich, Ihr hättet sie es tun lassen. Und unser Haus wäre entehrt.«
»Kinder können über derlei Dinge nicht richten!« donnerte Maître Gabriel, plötzlich von Zorn übermannt.
Er schien äußerlich ruhig, und man hätte ihn sich gern von jovialer, gutmütiger Natur vorgestellt. Doch gab es trotz seiner leicht fülligen Erscheinung und der Sanftheit seiner blauen Augen kaum einen Mann, zu dem diese Eigenschaft weniger gepaßt harte. Im Umgang mit ihm sollte Angélique erfahren, daß die Bewohner La Rochelles unter einer dünnen materialistischen Schale die Härte des Eises verbargen. Blitzartig erinnerte sie sich der Knüppelschläge, mit denen er sie auf der Straße nach Les Sables d’Olonne bezwungen hatte. Geschaffen, um sich vor einer Schüssel voller Fettammern niederzulassen und ihre ganze kernige Vollkommenheit zu genießen, war er auch imstande, ohne sich überwinden zu müssen, wie der gute König Heinrich, der lange Zeit Gast La Rochelles gewesen war, von einem Kanten Brot und einer Knoblauchzehe zu leben.
Als sich die Familie in ein anderes Zimmer zurückgezogen hatte, um dort die Bibel zu lesen, fühlte sich die mit der alten Rebecca allein gebliebene Angélique tief deprimiert.
»Ich weiß nicht, ob Euch diese Mahlzeit wirklich genügt«, sagte sie, »aber mein Kind hat jedenfalls nicht genug gegessen. Selbst im tiefsten Wald ist sie stets besser genährt worden als in diesem Haus, dessen Bewohner wohlhabend, wenn nicht gar reich zu sein scheinen. Haben sich die Hungersnot und das Elend des Poitou etwa bis hierher verbreitet?«
»Was redet Ihr da!« rief die Alte entrüstet. »Wir aus La Rochelle sind die reichsten Leute aller Städte des Königreichs. Aber wir haben unsere Erfahrungen gemacht. Nach der Belagerung hättet Ihr hier nicht einmal ein Radieschen gefunden. Und wenn Ihr jetzt in die Lagerhäuser und auf die Kais geht . Wir quellen von Waren über, von Wein, Salz und Lebensmitteln.«
»Warum dann diese Knauserei?«
»Ah! Man sieht gleich, daß Ihr nicht von hier seid! Ihr müßt wissen, daß wir uns seit der Belagerung daran gewöhnt haben, einen Hering in vier Teile zu teilen und die Bataten zu zählen. Ihr hättet den Vater Monsieur Gabriels erleben müssen. Ah, was für ein prachtvoller Mann! Man hatte ihm Kieselsteine auftischen können, ohne daß es ihm aufgefallen wäre. Nur was den Wein anging, da war er schwierig. Die schönsten Weine der Charente liegen da unten in unserem Keller«, fügte sie hinzu, mit einem ihrer Holzschuhe auf die Fliesen der Küche klopfend.
Während sie plauderte, hatte sie die Teller abgeräumt und begann nun, sie in einem mit heißem Wasser gefüllten Zuber abzuwaschen. Angélique sah ihr mit hängenden Armen zu. Als Dienstmagd war mit ihr nicht allzu viel Staat zu machen. Aber sie hatte Hunger. Sie fröstelte sogar, als ob sie krank würde. Die Brandwunde auf ihrer Schulter eiterte, und ihr Mieder klebte fest. Jede Bewegung erinnerte sie an den schimpflichen Augenblick, an den Schreck, an die Qualen der Angst, die erst so kurze Zeit zurücklagen, daß sie sie noch wie einen kalten Schatten fühlte.
Sie nahm Honorine in die Arme. Die Kleine verlangte nichts. Sie verlangte nie etwas. In den Armen ihrer Mutter geborgen zu sein, schien sie für alle Entbehrungen zu entschädigen. Sie war vielleicht wie diese Protestanten, die, um leben zu können, nur eine wesentliche Sache brauchten und sich aller übrigen zu entäußern vermochten. Wie sie eben dem Kind zuge-lächelt hatten . Dem verfluchten Kind! . Sollte sie in diesem Haus bleiben? . Sollte sie es verlassen? Wo bot sich ein neuer Zufluchtsort?
»Da ist dicke Milch und Brot für die Kleine«, sagte die alte Magd, indem sie eine mächtige Portion auf eine Tischdecke stellte.
»Aber wenn Eure Herrschaft .«
»Sie werden nichts sagen, schon gar nicht ihretwegen . Ich kenne sie. Hinterher könnt Ihr sie dort schlafen legen.«
Sie zeigte Angélique in einer Nische der Küche ein stattliches, hohes, mit Eiderdaunenkissen bedecktes Bett.
»Schlaft Ihr dort nicht für gewöhnlich?«
»Nein, ich habe einen Strohsack im Keller, dicht beim Warenlager. Ich schlafe da, um die Diebe verscheuchen zu können.«
Nachdem Angélique das Kind gesättigt und zu Bett gebracht hatte, kehrte sie zum Herd zurück. Sie wußte, daß sie in dieser Nacht nicht schlafen würde, und zog hundertmal die Gegenwart der offenbar recht geschwätzigen Rebecca vor, die ihr für ihre weitere Existenz in diesem Hause von Nutzen sein konnte. Die Alte stocherte ein wenig in den glühenden Kohlen herum.
»Setzt Euch dorthin, meine Schöne«, sagte sie, auf einen Schemel ihr gegenüber weisend. »Wir werden zusammen eine Krabbe auskratzen und ein gutes, kleines Weinchen von Saint-Martin-de-Ré dazu trinken. Das wird Euch den Kopf wieder zurechtsetzen.«
Die Krabbe, die sie aus einem Fischkasten in der Speisekammer zog, war groß wie ein Teller. Sie bewegte sich ein wenig und veränderte ihre Farbe von Violett zu Rosa und dann zu Rot. Rebecca drehte sie geschickt mit dem Schürhaken um. Dann brach sie sie mit geübtem Griff auseinander und reichte die Hälfte Angélique.
»Macht es wie ich. Haltet Euer Messer so. Vor allem: laßt nur die Schale zurück. An einer Krabbe ist alles gut.«
Das aus den Scheren gezogene dampfende Fleisch hatte den Geschmack des Meeres, so verschieden von dem der Erzeugnisse der Erde, daß es schien, als käme man durch ihn dem Heimweh nach fernen Horizonten nahe, der Poesie der Küsten.
»Kostet mir von diesem Wein«, drängte Rebecca. »Er duftet nach Meergras.«
Sie hob den Kopf und lauschte besorgt nach draußen.
»Manchmal kommt Dame Anna noch mal her. Da würde sie wohl Augen machen .«
Doch das große Haus blieb still. Nach dem Gesang der Psalmen war alles zu Bett gegangen. Eine Öllampe wachte neben dem kranken Greis. Im Erdgeschoß führte Maître Gabriel seine Rechnungsbücher. In der Küche knisterte und knackte das Feuer. Und hinter den geschlossenen Fensterläden war ein raunendes Geräusch zu vernehmen: das Meer.
»Nein, Ihr seid gewiß keine von uns«, begann die Alte wieder. »Mit den Augen, die Ihr habt, könntet Ihr vielleicht aus der Bretagne . kommen.«
»Nein, aus dem Poitou«, sagte Angélique und bedauerte im nächsten Augenblick, sich verraten zu haben.
Wann würde sie wohl lernen, die Welt als etwas Feindliches anzusehen, etwas, das mit Fallen gespickt war?
»Dort ist allerlei Schlimmes passiert«, bemerkte Re-becca mit teilnehmender Miene. »Erzählt ein wenig.«
Ihre Augen glitzerten vor Neugier.
»Ah, ich merke schon«, fuhr sie fort, als Angélique still blieb. »Ihr habt so viel gesehen, daß Ihr nicht davon zu sprechen wagt. Ihr seid wie die Jeanne oder die Madeleine, die Cousinen des Bäckers, oder wie die dicke Sarah aus dem DorfVernon, die beinah närrisch dadurch geworden ist. Macht kein solches Gesicht, ich habe nichts gesagt. Eßt lieber. Verlaßt Euch drauf, man wird mit allem fertig. Jede will die Unglücklichste sein, dabei gibt’s immer eine andere, die Euch noch viel Schlimmeres erzählen kann. Sobald es einmal mit Krieg, Belagerungen und Hungersnot angefangen hat, ist nur eins zu erwarten: Unheil! Und es gibt keinen Grund, warum Ihr bei der Verteilung zu kurz kommen solltet. >Wenn der Fähnrich reitet, verlieren die Mädchen ihre Ehre<, sagt das Sprichwort. Ich habe die Belagerung erlebt, und meine drei Kinder sind Hungers gestorben. Wenn Ihr wollt, erzähle ich Euch davon .«
Betroffen durch ihren naiven Gedankengang, dachte Angélique:
»Ja, aber ich, ich war die Marquise du Plessis-Bel-lière.«
Rebeccas hohe, spitz zulaufende Haube umrahmte ein runzliges Gesicht und lustige, von einem Gewirr von Fältchen umgebene Augen. Selbst wenn sie ernsthaft von tragischen Dingen sprach, behielt ihr Blick einen Schimmer spöttischer Heiterkeit.
»Ich«, sagte Angélique, diesmal laut - und sie war selbst verwundert, sich zu hören -, »ich habe mein ermordetes Kind in den Armen gehalten.« Von einer plötzlichen Erregung gepackt, zitterte sie am ganzen Körper.
»Ich verstehe Euch, meine Schöne. Wenn man ein Kind verloren hat, lebt man in einer andern Welt. Man gleicht nicht mehr den übrigen. Wie gesagt, ich hab’ drei unschuldige Würmer während der Belagerung begraben müssen. Ja, ich habe die Belagerung durchgemacht. Ich war fünfundzwanzig Jahre alt und Mutter von drei Kindern. Das Älteste war sieben und ist zuerst gegangen. Ich dachte, es schliefe, und wollte es nicht wecken, weil ich mir sagte, daß es so weniger Hunger hätte. Aber als es sich gegen Abend noch immer nicht rührte, ist es mir komisch vorgekommen ... Und als ich mich dann dem Bettchen näherte, hab’ ich allmählich verstanden. Es war schon seit dem Morgen tot, vor Hunger gestorben. Ich hab’s Euch ja gesagt, Tochter - warum sollten die Kriege, die Belagerungen uns Glück bringen?«
»Aber warum habt Ihr nicht versucht, die Stadt zu verlassen?« warf Angélique unwillig ein. »War es nicht möglich?«
»Vor der Stadt lagen die Soldaten Monsieur de Richelieus. Und außerdem war’s nicht ich, die entscheiden konnte, ob die Stadt besiegt war oder nicht. Jeden Tag erwarteten wir die Engländer, Aber die Engländer waren gekommen und wieder verschwunden, und Monsieur de Richelieu hatte inzwischen seinen Damm gebaut. Jeden Tag dachten wir, daß irgend etwas geschehen würde. Was, wußten wir nicht. Die Soldaten starben vor Hunger auf den Wällen. Mein Mann hatte nicht mehr die Kraft, seine Hellebarde zu halten, und ich sah, daß er sich gegen die Mauer stützte. Als er eines Abends nicht zurückkehrte, begriff ich. Er war auf dem Wall tot umgefallen, und sie hatten ihn im Massengrab verscharrt. Sie wagten es nicht, die Leichen einfach über die Mauer zu werfen, weil die königlichen Truppen sonst gesehen hätten, daß von der Garnison bald niemand mehr übrig war . Der Hunger, das ist etwas, was man weder beschreiben noch jemand verständlich machen kann, wenn er’s nicht selbst erlebt hat . Vor allem, wenn er lange anhält . Jedesmal, wenn man auf die Straße geht, hofft man, irgend etwas zu finden . Überall sucht man, hinter jedem Prellstein, unter jeder Stufe, man sucht auch auf jeder Mauer, als ob es zwischen den Steinen etwas Eßbares geben könnte . ein Kraut. Welche Freude, als ich die Mäuse unter den Dielen sich rühren hörte! Stundenlang lauerte ich ihnen auf, und mein Ältester war sehr geschickt darin, sie zu erwischen. Ein flämischer Händler verkaufte sechs oder sieben Jahre alte Häute. Sie taten viel Gutes. Die Stadt hat achthundert davon gekauft und sie den Soldaten und den Einwohnern gegeben, die noch imstande waren, Waffen zu tragen. Aus ihrer Bouillon kochte man gute Gelees . ich hab’s selbst gemacht - für die beiden Kinder, die mir blieben. Und noch immer passierte nichts, nur jeden Tag gab’s ein wenig mehr Leid. In den Straßen sah man nur graue Skelette, in Tücher gewickelte Leichen, die man kaum noch zum Friedhof schleppte. Männer trugen ihre Frauen auf den Schultern wie ein Stück Speck ... zwei Mädchen auf einer Bahre, der alte Vater ... Die Mutter trug den Sohn im Arm wie zur Taufe ...«