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»Er schläft oben im Speicher. Er hat Angst so ganz allein und findet keine Ruhe. Ich dachte mir, daß er hier besser aufgehoben wäre.«
»Was für eine Idee! Er muß sich abhärten. Ihr wollt einen Schwächling aus ihm machen. Als ich ein Kind war, habe ich auch auf diesem Speicher geschlafen.«
»Und Ihr habt Euch nicht vor den Ratten gefürchtet?«
»Natürlich. Aber ich habe mich daran gewöhnt.«
»Nun, er gewöhnt sich nicht daran. Er schläft da oben wenig oder gar nicht. Das ist einer der Gründe, warum er so mager und kränklich aussieht.«
»Er hat sich niemals beklagt.«
»Kinder beklagen sich selten, vor allem, wenn sich niemand die Mühe nimmt, ihnen zuzuhören«, sagte Angélique trocken.
»Ein Junge muß hart werden. Ihr sprecht wie eine Frau.«
»Nein, wie eine Mutter«, antwortete sie, ihn ernst betrachtend.
Sein Blick verschleierte sich. Er stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Ich hatte mir geschworen, daß niemals jemand anders in diesem Bett ruhen würde, in dem sie ihren letzten Atemzug getan hat.«
»Die Beständigkeit Eures Gefühls macht Euch Ehre, Maître Gabriel. Aber glaubt Ihr nicht, daß sie sich für ihr Kind freuen würde?«
Der Kaufmann seufzte erneut.
»Ach, ich weiß es nicht«, sagte er. »Ihr bringt das ganze Haus durcheinander. Ich glaubte, daß der Kleine mit seinem älteren Bruder zusammen schliefe. Es ist ja wahr, daß der Speicher ... ich gebe zu, ich habe ihn in schlechter Erinnerung. Schön ... macht, was Ihr wollt.«
Angélique kannte den Weg zum Dachboden zu gut, um erst eine Kerze holen zu müssen. Drei Stufen auf einmal nehmend, lief sie hinauf.
»Ich nehme dich mit«, sagte sie zu Laurier, der noch immer wach wie ein kleiner Nachtkauz auf seinem Lager hockte.
»Wohin wollt Ihr mich bringen?«
»Dorthin, wo du dich wohl fühlen wirst. Ganz in die Nähe deines Vaters .«
Sie trug ihn vorsichtig hinunter. Entzückt betrachtete Laurier das behagliche Zimmer, die Gestalt seines Vaters und sog den vertrauten Geruch der unteren Stockwerke ein. Von seinem Bett aus konnte er auf der anderen Seite des Treppenabsatzes den Widerschein des Feuers aus der großen Küche sehen. Die Verblüffung machte ihn gesprächig.
»Hier soll ich schlafen? Jede Nacht?«
»Ja, dein Vater meint, du seist jetzt groß genug für ein großes Bett.«
»Oh, danke, Vater.«
Angélique entfernte sich, um das Nachtlämpchen vorzubereiten. Als sie mit der Schale aus rotem Glas zurückkam, war Laurier eingeschlafen. Sein mageres Gesichtchen ruhte auf dem Kopfkissen. Er schien in dem mächtigen Bett wie verloren, aber ein Ausdruck unschuldigen Behagens verwandelte seine Züge.
Maître Gabriel sah nachdenklich auf ihn hinunter. Angélique beugte sich über das Kind, um sanft seine bleiche Stirn zu streicheln.
»Kleiner Mann!« murmelte sie zärtlich.
Sie hob die Augen zu dem Kaufmann.
»Seid mir nicht böse. Ich konnte es nicht ertragen, ihn unglücklich zu wissen.«
»Macht Euch keine Sorgen, Dame Angélique. Es ist schon alles gut so.«
Nach kurzem Zögern fügte er hinzu:
»Das heißt: nein. Während ich heute abend über den Schriften saß, habe ich mir Vorwürfe gemacht, weil ich mich gegen Euch nicht gerecht verhalten habe. Ich hätte Euch einen Vorschuß auf Eure Löhnung geben müssen.«
»Ihr seid nicht dazu verpflichtet, Maître Gabriel. Ich weiß, daß sich eine Dienstmagd erst einen Monat bei ihrer neuen Herrschaft bewähren muß, bevor sie ihren Lohn erhält.«
»Aber Ihr seid ohne den geringsten Besitz zu mir gekommen. Und in der Bibel steht: >Du sollst den armen und bedürftigen Söldner nicht unterdrücken, ob er nun einer deiner Brüder oder ein Fremder ist, der in deinem Land, innerhalb deiner Tore bleibt.
Du wirst ihm den Lohn seiner Tagesarbeit vor dem Sinken der Sonne geben, denn er ist arm und bedarf seiner.< Ich habe deshalb beschlossen, Euch dies zu geben.«
Er reichte ihr eine Börse, die er aus einem der Schöße seines Rockes gezogen hatte.
»Allerdings ist es schon ein wenig nach Sonnenuntergang«, fügte er hinzu.
Ein leiser Humor milderte zuweilen den Ernst und die Feierlichkeit seines Benehmens. In einer anderen Konfession, einer anderen Stadt geboren, dachte Angélique, hätte er ein geistreicher Epikureer sein können wie etwa der Chevalier de Mère.
»Ich fühle mich in Eurem Hause nicht unterdrückt, Maître Gabriel«, sagte sie lächelnd. »Seid versichert, daß ich mich beim Ewigen nicht über Euch beschweren werde. Ich werde Eure Güte nie vergessen.«
Während sie sich entfernte, begann Angélique zu begreifen, warum sich zwischen ihr und dem Kaufmann sofort eine Art Vertrautheit, ein Einverständnis ergeben hatte, wie sie Menschen verbindet, die sich schon unter anderen Umständen begegnet sind. Jetzt war sie sicher, daß sie ihn irgendwo schon einmal getroffen hatte. Wo? Wann? Bei welcher Gelegenheit hatte er sich mit jenem ruhigen, hochherzigen Lächeln ihr zugeneigt, das manchmal sein kaltes, verschlossenes Gesicht erhellte?
Der Gedanke, daß Maître Gabriel ihr früher schon einmal begegnet sein müsse, plagte sie lange, bis sie ihn schließlich vergaß.
Des Abends, wenn Tante Anna und die Gäste sich nach dem Gebet zurückgezogen hatten, befand sich Maître Gabriel zuweilen noch in geselliger Stimmung. Er begab sich dann in sein Zimmer vor die Wand, an der seine Pfeifensammlung hing, und wählte eine lange holländische Pfeife, die er sorgsam mit Tabak stopfte. Drauf kehrte er in die Küche zurück, um sie an einem Stück glühender Kohle in Brand zu setzen.
Danach lehnte er sich an den Türrahmen und rauchte, während er mit halbgeschlossenen Augen durch den aufsteigenden Qualm über den vertrauten großen Raum blickte und das Hin und Her der Mägde, der Kinder und der beiden Hauskatzen verfolgte. An diesen Abenden wußten seine Kinder, daß er bester Laune war, und wagten es, ihm Fragen zu stellen und ihm von ihren Angelegenheiten zu erzählen. Seit einiger Zeit tat auch Laurier dabei mit. Er verwandelte sich, zeigte sich gewitzt und wehrte Martials Spöttereien ab.
Als er eines Abends auf Angéliques Knien saß und sie ihm sanft über das Haar strich, begegnete sie zwischen blauen Rauchspiralen dem nachdenklichen Blick des Kaufmanns. Sie kam dem Tadel, den sie kommen fühlte, zuvor.
»Ihr findet, daß ich ihn für einen Jungen zu sehr verwöhne? ... Seht doch, wieviel kräftiger er geworden ist! Die Wangen sind schon viel rosiger. Kinder brauchen Zärtlichkeit, um zu wachsen, Maître Gabriel, wie die Blumen Wasser brauchen.«
»Ich leugne es nicht, Dame Angélique. Ich erkenne an, daß Ihr dabei seid, aus diesem Zwerg, dessen Anblick - ich gebe es zu - mir peinlich war, durch Eure Pflege ein schönes Kind zu machen ... Ich habe durch Ungerechtigkeit, auch durch Unwissenheit gesündigt. Ich verstehe mich besser darauf, die Qualität eines guten Branntweins oder eines kanadischen Pelzes festzustellen, als herauszufinden, was einem Kind nutzen kann. Was mich verwundert, ist lediglich, warum Ihr Eurem eigenen Kind gegenüber so wenig von dieser Zärtlichkeit Gebrauch macht ... Ihr sorgt für sein Wohl, gewiß, aber ich habe nie gesehen, daß Ihr es geküßt, ihm zugelächelt oder daß Ihr es auch nur an Euch gedrückt hättet.«
»Ich? ... Ich sollte das niemals getan haben?« rief Angélique, während sie bis zu den Haarwurzeln errötete.
Und sie betrachtete betroffen Honorine, die vor ihrem Teller Milchbrei saß.
Man hatte sie allein am Tisch zurückgelassen, weil sie sich nicht beeilte. Seit einiger Zeit brauchte sie Stunden zum Essen, den Löffel in der kleinen Faust, den Blick ins Leere gerichtet. Angélique hatte den Verlust ihres kräftigen Appetits dem Eingeschlossensein in den vier Wänden des Hauses zugeschrieben; das Kind war es bisher gewohnt gewesen, im Freien zu leben. Konnte es sein, daß Honorine unter der Vernachlässigung durch ihre eigene Mutter litt? Was für Vergleiche stellte sie hinter ihren kleinen wachen und glänzenden Augen an? Zuweilen hatte sie Zornausbrüche, die Angélique reizten. Diesen winzigen Willen zu entdecken und seine Hartnäckigkeit zu spüren, erstaunte und entrüstete sie. Sie verlor die Geduld. »Geh weg!« rief Honorine ihr zürnend zu. Angélique brachte sie dann zu Bett oder vertraute sie Rebecca an, für die die Kleine eine Schwäche hatte. Angélique hatte sich über Laurier geneigt. In ihm fand sie ihre kleinen Jungen, ihre wahren Kinder wieder. Honorine war noch nicht wirklich ihr Kind.
»Maître Gabriel hat recht«, sagte sie sich. »Meine Tochter . ich habe sie in mein Leben aufgenommen, aber noch nicht in meine Liebe . Er kann es nicht wissen! . Es wäre unmöglich für mich. Wenn er wüßte, würde er verstehen .«