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Angéliques Züge erstarrten. Ihr Ausdruck war so fassungslos, daß Maître Gabriel sich verwünschte, überhaupt davon gesprochen zu haben. Mit der Schamhaftigkeit der Männer, die Gefühlsäußerungen in Verlegenheit bringen, räusperte er sich, schien sich plötzlich einer dringlichen Angelegenheit zu erinnern und ging davon. Laurier folgte ihm. Maître Gabriel hatte ihm erlaubt, jeden Abend noch ein wenig zwischen den Waren des Magazins herumzustrolchen.
Angélique blieb mit Honorine allein. Sie durchlebte einen seltsamen Augenblick von höchster Bedeutung, und die Angst erstickte sie, als ob das, was sie nun tun oder nicht tun würde, über ihr künftiges Leben entschiede. Es war merkwürdig, daß die Ursache ihrer Bedrängnis dieses »kleine Ding« war, wie Maître Gabriel gesagt hatte, das mit einem Ausdruck hochmütiger Träumerei vor ihr saß. Sie glaubte, ihre Schwester Hortense vor sich zu sehen. Obwohl häßlich und boshaft, hatte sie sich immer die Haltung einer Prinzessin gegeben. Kerzengrade aufgerichtet auf ihrem hohen Stühlchen, ganz und gar nicht geneigt, sich zu beklagen, ließ Honorine das entschwundene Bild wieder vor ihr erstehen. Dieselbe Haltung des Halses, dieselbe stolze Art, ihren Kopf zu tragen. Selbst als Kind war Hortense mager gewesen. Honorine dagegen war rund, kräftig gebaut, gut in Schuß. Aber in ihren Bewegungen, im Blick der gleichen schwarzen, weit auseinanderstehenden, forschenden Augen war die Verwandtschaft deutlich zu erkennen. Statt unangenehm betroffen darüber zu sein, fühlte sie sich erleichtert. Sie streckte die Arme nach Honorine aus.
»Komm!«
Aus ihren Träumen erwacht, betrachtete Honorine sie mit nachdenklicher Miene, dann verzog ein Lächeln ihren Mund.
»Nein«, sagte sie, während sie von ihrem Stuhl glitt und sich unter dem Tisch versteckte.
»Komm. So komm doch!«
»Nein!«
Angélique mußte sie holen, mußte sie aus ihrem Versteck hervorziehen.
»Du bist schwer wie Blei.«
Mit fast schmerzlicher Intensität sah sie ihrer Tochter ins Gesicht.
»Du bist rothaarig, aber du bist schön . mein Kind! Ob ich’s will oder nicht, ich war’s, die dich zur Welt gebracht hat. Und nun bist du da. Mir verbunden selbst durch das Entsetzen, das ich empfand, als ich dich in mir spürte, durch unseren gemeinsamen Kampf ums nackte Leben, durch das unerbittliche, das blinde Geschick, das aus uns beiden Mutter und Tochter gemacht hat . Mein Herz!«
Angélique drückte ihre Lippen auf Honorines frische Wange. Ihr Duft rief ihr den des Waldes während jener unvergleichlichen Zeit des Aufstands ins Gedächtnis zurück. Er war in sie eingegangen, um die Härte ihres Hasses zu lösen. Neben den Gemetzeln und Hinterhalten hatte es immer Honorine und ihre kleinen weißen Füße gegeben, die sie vor den Flammen der Kamine erwärmte. Honorine, die ihre kühl prüfenden Augen in den Armen des Abbé de Lesdiguière geöffnet, Honorine, die im Winterwald nach Angélique gerufen und sie dem sie bannenden Entsetzen der Lichtung der Gehängten entrissen hatte.
Da war der Zwischenfall in der Grotte gewesen, in der sie ihren ersten Schrei ausstieß, das Knarren der »Drehlade«, die sie in die Finsternis des Waisenhauses entführte. »Oh, alle die verlassenen Kinder auf den Schwellen der Türen, die von Monsieur Vincent aufgelesen wurden! Wie kann man ein Kind verlassen? Ja, ich habe meine eigene Tochter verlassen. Gesegnet sei die Vorsehung, die sie mir zurückgab. Gibt es einen bittereren Schmerz als den um ein verlorenes Kind? Wo bist du, Fleisch meines Fleisches? Wo irrst du, blind, die kleinen Hände tastend ausgestreckt, durch das Unbekannte, in das ich dich stürzte? Wie werde ich dich im Tode wiedererkennen? Werde ich überhaupt das Recht haben, dich in jener anderen Welt zu erkennen, ich, deine Mutter, die dich verstieß?«
Angélique zitterte und erwachte wie aus einem Traum, Sie war in der Küche Maître Gabriels in La Rochelle, sie hockte vor dem erlöschenden Feuer, und Honorine saß auf ihren Knien und drückte sich heftig gegen sie.
»Mein Leben!«
Die lange unterdrückte, fast unbekannte Flut der Liebe sprudelte mit der Kraft einer Quelle, die sich endlich den Finsternissen der Erde entringt, wehte wie gereinigte Luft.
»Ich wußte nicht, daß ich dich so sehr liebte ...
Und warum liebe ich dich?«
Warum? Ihr Verstand suchte und fand keinen Grund. Es blieb ihr nichts aus ihrem vergangenen Leben. Alles war in den Abgrund der Schatten gestürzt. Die unschuldige Anmut Honorines, die strahlende Lebensfreude dieses runden Gesichtchens, die Glückseligkeit ihres Lächelns, als sie sich über sie geneigt hatte, um sie zu küssen, in der sie nun ihre ganze Welt sah, das beinah sinnliche Gefühl des Besitzens, das Angélique für sie empfand - »Du hast nur mich, ich habe nur dich« -, all das ließ die Gründe, die ihr als Vorwand gedient hatten, diese kleine Existenz zu hassen, wie hinter einem undurchdringlichen Vorhang verschwinden.
Wie rasch der Geist vergißt!
Der Körper vergißt weniger schnell. In ihren Alpträumen hörte Angélique zuweilen das Horn Isaac de Cambourgs, auch geschah es ihr, daß sie an den Gelenken ihrer Hände und Füße den Griff brutaler Hände spürte, die sie am Boden festhielten.
Doch wenn sie erwachte, sah sie auf der Mauer den Widerschein der auf der Spitze des Laternenturms brennenden Flamme tanzen, die die Schiffe in den Hafen geleitete. Honorine schlief neben ihr. Angélique betrachtete sie lange, und der Friede zog in sie ein, während sie diesen Schatz bestaunte, der ihr geblieben war und der ihr armseliges, zerstörtes Dasein rechtfertigte.
»Schlaf, kleines Herz, schlaf, mein Kind . du bist bei deiner Mutter. Fürchte nichts .«
Seitdem sie wußte, daß Angélique eine Papistin war, beobachtete Séverine sie mit heiligem Schrecken.
»Dieses Mädchen ist von der Gesellschaft vom Heiligen Sakrament bei uns eingeschmuggelt worden, um zu spionieren, ich bin dessen sicher«, erklärte sie jedem, der ihr zuhörte.
Tante Anna stimmte zu: »Das ist gut möglich, mein armes Kind. Bitten wir den Herrn, uns vor ihren Schlichen zu bewahren.«
»Was für Klatschbasen!« dachte Angélique, deren Geduld auf eine harte Probe gestellt wurde.
Séverines Augen folgten ihr, um sie bei einer Unvorsichtigkeit zu ertappen. Sie hielt sich steif wie ihre Tante und brach zuweilen in spöttisches Gelächter aus.
»>Der gottlose Mensch, der falsche Mensch trägt die Falschheit im Munde<«, psalmodierte sie.
»>Er zwinkert mit den Augen, spricht mit dem Fuß, macht Zeichen mit den Fingern .<
Nicht wahr, Tante?«
Auf diese Weise erfuhr Angélique, daß diese Damen ihr ein für ihre Lage allzu aufdringliches Wesen vorwarfen.
»Wenn du am Hofe des Königs gewesen wärst, Séverine«, sagte sie ihr eines Tages, »wüßtest du, daß deine stocksteife Haltung und deine Hampelmannbewegungen als Zeichen schlechter Erziehung angesehen würden. Die Ungezwungenheit der Gesten muß gelernt sein.«
»Der Hof ist ein Ort der Verdammnis«, erwiderte Séverine verdrossen. Nun war Angélique an der Reihe, hell aufzulachen. Das Mädchen verließ sie rot vor Zorn.
Séverine war indessen auch verletzlich. Wie alle Mädchen ihres Alters von kleinen Kindern angezogen, brannte sie darauf, von Honorine in Gnaden aufgenommen zu werden. Ungeschickt versuchte sie, sie in ihre Arme zu nehmen, folgte ihr auf Schritt und Tritt, wollte ihr zu essen geben, ihr beim Ankleiden helfen.
»Laß mich! Laß mich!« schrie Honorine mit der Entrüstung einer gekränkten Königin.
Angélique tat es leid, Séverine sich demütig entfernen zu sehen. Es fiel ihr schwer, ihren jähzornigen Sprößling zu liebenswürdigerem Benehmen zu veranlassen. Honorine hatte sehr ausgeprägte Vorlieben und Abneigungen. Im allgemeinen fanden alle Angehörigen des männlichen Geschlechts Gnade vor ihren Augen. Laurier gegenüber beobachtete sie die zärtlichste Ehrerbietung. Maître Gabriel war das Objekt einer respektvollen Bewunderung. Der Pastor Beaucaire erfreute sich auch weiterhin ihrer Gunst, sooft er sich blicken ließ. Aber ihr Idol war Martial. Er hatte ihr mit seinem Messer ein kleines, mit Schnitzereien geschmücktes Kästchen verfertigt, in dem sie ihre Schätze aufbewahrte: Knöpfe, Perlen, Kiesel, Hühnerfedern . Die Kleine hatte eine Manie ihrer Mutter geerbt. Wenn Angélique sie mit dem Kästchen unter dem einen, der kleinen Katze unter dem andern Arm einherspazieren sah, erinnerte sie sich der mit Perlmutt eingelegten kleinen Truhe, in der sie selbst einstmals die im Laufe ihres ruhelosen Lebens gesammelten Erinnerungen verwahrt hatte.
Die Beziehungen Honorines zum weiblichen Geschlecht waren komplizierter. Sobald Frauen das biblische Alter erreicht hatten, flößten sie ihr Gefühle liebevoller Zärtlichkeit ein. Rebecca und sämtliche Großmütter hatten ein Anrecht auf ihr Lächeln. Gegenüber Frauen mittleren Alters bewahrte das Kind betonte Gleichgültigkeit. Mit jungen Mädchen hatte Honorine nicht viel im Sinn, und ihre Altersgenossinnen, die sie unbewußt als Rivalinnen ansah, verfolgte sie mit ihrem Haß. Der kleinen, dreijährigen Ruth, der jüngsten Tochter des Advokaten Carrère, hätte sie fast die Augen ausgekratzt. Alles in allem brachte die rundliche, mit entschlossener Miene auf unsicheren Beinchen in ihren Röcken dahinschwankende Puppe Honorine nicht gerade wenig Leben ins Haus.
Oft stieß sie einen seltsamen Schrei aus, dessen besonderen Akzent Angélique herauszuhören gelernt hatte. Er bedeutete, daß Honorine unter dem sie einschließenden Zwang der Mauern des Hauses litt und das Meer sehen wollte. War sie am Strand, existierte nichts mehr für sie außer dem Spiel der Wellen und des Tangs und dem wundersamen Reich der Muscheln. In geschürzten, vom Wind geblähten Röcken einem Kürbis ähnlich, watete sie versunken durchs flache Wasser. Angélique folgte ihr, hier und da ein paar Worte mit den Miesmuschel-Pflückerinnen wechselnd.
Am Fuß der Wälle ließ die weichende Flut weite, felsige, mit Algen bedeckte Flächen zurück, in deren Tümpeln sich Krabben verbargen. Eine Schar Jungen tummelte sich dort mit den Möwen. Öfter als nötig befand sich unter ihnen der der Schulbank entflohene Martial. Er machte seinem Vater Sorgen. Er zeigte deutliche Befähigung zum Studium, zog es jedoch vor, mit der Bande seiner Freunde herumzustromern, zu der die intelligentesten Burschen des Viertels gehörten, darunter die beiden ältesten Söhne des Advokaten Carrère, Jean und Thomas, und Joseph, der Sohn des Arztes.
Maître Gabriel bedauerte es, daß der Junge nicht die strenge Disziplin einer höheren Schule kennenlernen sollte. Er hatte deshalb beschlossen, ihn nach Holland zu schicken, wo er sich wenigstens auf dem Gebiet des Handels solide Kenntnisse erwerben würde.
Angélique sah seinem Aufbruch betrübt entgegen. So manches an Martial erinnerte sie an ihren Sohn Florimond. Hinter seiner lächelnden Ungezwungenheit erkannte sie die Unruhe des Jünglings wieder, der sich auf Ungewissem Boden voranbewegt und angesichts der Gesellschaft, in der ihm zu leben bestimmt ist, entdeckt, daß sein Platz schon außerhalb ihrer Grenzen ist. Diese schreckliche Entdeckung war es, die Florimond dazu getrieben hatte, seine Mutter zu verlassen, zu fliehen, einen Winkel der Erde zu suchen, wo er er selbst sein konnte und nicht mit dem doppelten Fluch seiner Eltern belastet war.
Auch Martial würde eines Tages fliehen wie alle diese jungen Burschen, die die unglaubliche Verblendung der Erwachsenen noch an diesem verdammten Ufer zurückhielt.
An diesem Tage hockten sie, dicht aneinandergedrängt, zusammen auf einem Felsen, so in Anspruch genommen von irgend etwas, daß sie ihre Annäherung nicht bemerkten. Der Wind spielte in ihren langen Haaren und zerrte an ihren über der Brust offenen Hemden. Angst packte sie bei dem Gedanken, daß die Maschine, die sie zermalmen würde, schon bereit stand, geduckt wie ein Untier im Herzen der Stadt selbst.
Martial las mit beteiligter Stimme:
»>. Niemals ist es kalt auf den Inseln Amerikas. Das Eis ist unbekannt, und es wäre ein Wunder, dort welches zu sehen. Es gibt dort keine vier gleich langen und andererseits unterschiedlichen Jahreszeiten wie in Europa, sondern nur zwei. Die eine, von April bis November, ist die der häufigen Regenfälle, die andere die der Trockenheit ... Doch ist die Erde immer mit angenehmem Grün bewachsen und fast zu jeder Zeit mit Blüten und Früchten geschmückt .<«
»Gibt es dort drüben Weinreben?« unterbrach ein Junge mit strohfarbenem Haar. »Mein Vater ist nämlich ein Flüchtling von der Charente, ein Weinbauer. Und was sollten wir in einem Land tun, in dem es keine Reben gäbe?«
»Ja, es gibt dort Weinreben«, versicherte Martial triumphierend. »Hört zu, wie es weitergeht ... >Die Rebe gedeiht sehr gut auf diesen Inseln, und außer einer Art wilden Weins, der von Natur aus in den Wäldern wächst und schöne, große Trauben trägt, sieht man vielerorts kultivierte Reben wie in Frankreich, die jedoch zweimal jährlich tragen, zuweilen sogar häufiger .<«