142425.fb2
»Und von welcher Farbe sind die Bewohner jener warmen Inseln? Rot, mit Federn, wie in NeuFrankreich?«
Martial durchstöberte das kleine Buch und erklärte, daß er darüber keine näheren Angaben finden könne.
Einmütig wandten sie sich Angélique zu, die, mit Honorine auf den Knien, in ihrer Nähe saß.
»Wißt Ihr etwas über die Hautfarbe dieser Inselbewohner, Madame?«
»Ich nehme an, sie sind schwarz«, meinte sie, »da man seit langem Sklaven aus Afrika auf diese Inseln bringt.«
»Aber die Karibier selbst sind keine Schwarzen«, warf der junge Thomas Carrère ein, der gern den Erzählungen der Seeleute am Hafen zuhörte.
Martial setzte der Unterhaltung ein Ende:
»Wir brauchen ja nur diesen Pastor Rochefort zu fragen.«
»Den Pastor Rochefort, sagst du?«
Angélique war zusammengezuckt.
»Sprichst du von dem großen Reisenden, der ein Buch über die Inseln Amerikas geschrieben hat?«
»Das ich eben meinen Kameraden vorlese. Seht!«
Erzeigte ihr die vor kurzem erschienene, sauber gebundene Ausgabe und fügte gedämpft hinzu:
»Man riskiert fünfhundert Livres Strafe und Gefängnis dazu, wenn man sich im Besitz dieses Reiseberichts erwischen läßt, weil er den Protestanten Lust zum Auswandern machen könnte. Wir müssen also sehr aufpassen .«
Angélique wandte die Seiten um, die mit naiven, Bäume oder Tiere jener fernen Landstriche darstellenden Zeichnungen illustriert waren.
Aus dem Nichts ihrer Vergangenheit stieg von neuem eine vergessene Vision auf, für die sie nie eine Erklärung gefunden hatte und die dennoch vom Siegel des Schicksals geprägt schien: der Besuch jenes Pastors Rochefort in Monteloup, als sie ungefähr zehn Jahre alt gewesen war.
Jener düstere, einsame Reiter, nach langer Reise vom Ende der Welt während eines Gewittersturms eingetroffen, hatte von unbekannten, seltsamen Dingen gesprochen, von roten Männern mit Federn im Haar, von jungfräulichen Ländern, die von vorzeitlichen Ungeheuern bevölkert waren.
Damals jedoch - mehr als zwanzig Jahre waren inzwischen vergangen - hatte das Befremdende, Merkwürdige dieses Besuchs weder in seinem ungewöhnlichen Erscheinen noch in dem exotischen Charakter seiner Äußerungen gelegen. Nein, sein Besuch war der eines Boten des furchtbaren, fast unbegreiflichen Schicksals gewesen, gleich einem Rufer aus der Ferne. Diesem vom anderen Ende der Welt herüberklingenden Ruf hatte ihr ältester Bruder Josselin alsbald geantwortet. Er hatte seine Familie, sein Land verlassen, und niemand hatte jemals erfahren, was aus ihm geworden war.
»Aber jener Pastor Rochefort muß längst tot sein«, sagte sie mit einer Stimme, die ihr schwach und unsicher schien.
»O nein! Er ist sehr alt, aber er reist noch immer.«
Der Junge fuhr leiser fort:
»Im Augenblick ist er in La Rochelle. Niemand darf erfahren, wer ihn verbirgt, sonst würde er sofort verhaftet. Interessiert es Euch, ihn zu sehen und zu hören, Madame?«
Und da sie ein bejahendes Zeichen machte, schob er ihr etwas in die Hand. Es war ein rohes Stück Blei, in das eine Taube und darunter ein Kreuz eingedrückt waren.
»Mit dieser >Marke< könnt Ihr zu der Versammlung gehen, die in der Nähe des Dorfs Jouvex stattfinden wird«, erklärte ihr Martial. »Dort werdet Ihr den Pastor Rochefort sehen und hören. Er wird dort sprechen, denn für ihn wird die Versammlung abgehalten. Mehr als zehntausend der Unseren werden kommen .«
Der Junge war über das Ziel hinausgeschossen, als er sich eingebildet hatte, daß die »Versammlung in der Einöde«, zu der sich Angélique begab, zehntausend Gläubige vereinigen würde. Die Furcht hielt viele von ihnen fern, und die ausgetrocknete, von Deichen umschlossene Salzgrube vermochte ohnedies nur einige tausend Pilger zu fassen.
Die außer Betrieb gesetzte Salzgrube war ausgewählt worden, weil sie eine unübersehbare, enge Schlucht bildete, begrenzt von zwei felsigen Kämmen, die sie dem Blick jener entzogen, deren Weg durch die sumpfige Ebene um La Rochelle führte. Das Meer war nahe und übertönte das Gemurmel der Stimmen durch das Geräusch seiner Wellen, Man begrüßte sich beim Eintreffen und wählte sich einen Platz, während man flüchtige Bemerkungen tauschte.
Ein Halbkreis von Kalkfelsen bildete eine Art von Amphitheater um einen kleinen Tisch herum, vor dem der Prediger sprechen sollte.
»Das dort ist die Kanzel, und der andere, den sie eben bringen, ist der Tisch des Abendmahls«, erklärte ihr Martial.
Er hatte darauf bestanden, sie zu begleiten, stolz darauf, sie angeworben zu haben. Gemeinsam mit ihm hatte sie in der Halbkutsche des Bäckers aus dem Viertel Platz genommen, dessen Sohn Anastase ebenfalls zu den Freunden des jungen Berne gehör-te.
Tante Anna und Séverine, die mit dem Papierhändler, seiner Frau und seiner Tochter in einem anderen Gefährt eintrafen, fuhren erschrocken zusammen, als sie die »Papistin« gewahrten. Erregt sprachen sie auf Maître Gabriel ein, der sie zu Pferd eskortierte, ganz offensichtlich in der Absicht, ihm die in ihrer Anwesenheit liegenden Gefahren klarzumachen. Der Kaufmann zuckte nur mit den Schultern.
Eine Bewegung der Menge verbarg die kleine Gruppe. Man brachte eine mit weißer Leinwand bedeckte Zinnschüssel, in der man die Form eines Brotkuchens erriet, danach zwei Zinnkelche. Am Fuß des Tischs wurde ein gleichfalls durch ein Leintuch geschützter Steinkrug niedergesetzt.
Angélique hatte lange gezögert, bevor sie sich dazu entschlossen hatte, diese Versammlung zu besuchen. Sie riskierte schwere Strafen, wenn eine solche Sache ruchbar wurde. Aber hier riskierte alle Welt irgend etwas; die einen hohe Geldbußen oder Gefängnis, die anderen sogar den Tod wie etwa jene Konvertierten, die sich unglücklich und beschämt zwischen ihren einstigen Glaubensgenossen hindurchwanden, da sie den Gewissensbissen nicht hatten widerstehen können, die sie seit ihrer Abschwö-rung quälten.
Alle diese Verfolgten waren schwarz oder dunkel gekleidet. Nur Monsieur Manigault, einer der bedeutendsten Reeder La Rochelles, erschien sehr würdig in einem Rock aus pflaumenfarbenem Samt, schwarzen Strümpfen und Schuhen mit Silberschnallen, gefolgt von seinem Neger Siriki. Jedermann fand ihn außerordentlich stattlich. Er hielt seinen Sohn Jérémie an der Hand, auf den er sehr stolz war, einen bezaubernden Jungen mit langen blonden Locken, den seine vier Schwestern und seine Mutter wie einen kleinen König umschmeichelten.
Die Familie des Advokaten Carrère war gleichfalls vollzählig zur Stelle. Die Fülle Madame Carrères kündigte eine elfte Mutterschaft an.
Einige echte Edelleute waren an ihren Degen zu erkennen. Sie hielten sich unter sich und plauderten miteinander.
»Platz, Platz für Madame de Rohan!«
Diener schleppten einen mit Gobelinstoff bespannten Sessel in die erste Reihe, in dem eine gebieterische alte Dame Platz nahm, eine der Klaue einer alten Eule ähnelnde Hand auf dem Silberknauf ihres Stockes.
Der Zustrom hatte nun seinen Höhepunkt erreicht, doch alles vollzog sich in größter Ordnung, Junge Leute gingen umher und präsentierten eine Leinwandtasche, in die man den zum Unterhalt der Prediger geforderten Beitrag warf. Der größte Teil der Gläubigen saß zwischen klebrigen Rückständen des Meersalzes auf der Erde. Die reicheren oder mit größerer Voraussicht begabten hatten Kissen, Säcke, einige sogar Holzkohlenwärmer für die Füße mitgebracht, denn es war recht kühl und windig.
Auf der Heide standen, an dürftigen Tamarisken festgebunden oder von dienstwilligen Burschen bewacht, die Pferde, Esel und Maultiere der Anwesenden. Die Burschen dienten auch als Wachtposten für den Fall einer Annäherung der Dragoner des Königs. Die Karren und Kutschen erwarteten mit zum Himmel gerichteten Deichseln das Ende der Zeremonie. Eine Hymne wurde angestimmt und von der Menge in dumpfem, machtvollem Chor aufgenommen.
Drei schwarzgekleidete Gestalten mit großen, runden, gleichfalls schwarzen Hüten traten zu den beiden Tischen in der Mitte der Versammlung.
Eine von ihnen war der Pastor Beaucaire. Doch Angélique musterte gierig den Größten und Ältesten der Gruppe. Trotz des weißen Haars, das das gebräunte, faltige Gesicht umrahmte, erkannte sie den »schwarzen Mann«, den sagenhaften Reisenden ihrer Kindheit. Sein vagabundierendes Leben, die Gefahren, die ihm auf seinen zahlreichen Pilgerfahrten begegnet waren, schienen seinen sehnigen, mageren Körper ungebeugt und kraftvoll erhalten zu haben.
Der dritte war ein stämmiger, untersetzter Geistlicher mit lebhaft gefärbtem Gesicht und lebendigem, gebieterischem Blick. Er war es, der mit kräftiger, weittragender Stimme das Wort nahm:
»Meine Brüder, dem Herrn hat es gefallen, mich aus meinen Ketten zu befreien, und es erfüllt mich mit tiefem Glück, von neuem unter euch meine Stimme erheben zu können. Meine Person hat keinerlei Bedeutung. Ich bin nur ein Diener Gottes, bedrückt von der Sorge um meine kleine Herde, das heißt, um euch alle, euch Reformierte von La Rochelle, die ihr trotz der täglich unnachsichtigeren Nachstellungen die Stimme des Heils zu vernehmen sucht .«
Angélique entnahm seiner Predigt, daß es sich um den Pastor Tavenay handelte, den Verantwortlichen für das Colloquium von La Rochelle, die Gesamtheit der protestantischen Kirchen der Stadt. Auch er war erst kürzlich aus dem Gefängnis entlassen worden, wo man ihn sechs Monate zurückgehalten hatte.
»Manche unter euch sind zu mir gekommen, um mich zu fragen: >Sollen wir zu den Waffen greifen, wie es unsere Väter einstmals taten?<, eine Frage, die sich vielleicht viele von euch insgeheim stellen, der gefährlichen Versuchung des Hasses erliegend, der selten ein so guter Ratgeber ist wie die Klugheit. Ich werde euch also zunächst meine eigene Meinung darüber sagen: Ich bin gegen die Gewalt. Fern sei es von mir, den Heroismus unserer Väter zu verkleinern, die den Schrecken der Belagerung von 1628 standzuhalten wußten, aber ist unsere Konfession aus dieser machtvollen, stolzen Revolte etwa gestärkt hervorgegangen? Nein! Es hätte nicht viel gefehlt, und kein einziger Hugenotte wäre mehr in La Rochelle gewesen, aus dessen Mauern unser Glaube für immer getilgt geblieben wäre.«
Pastor Tavenay sprach noch lange in dieser Weise. Er erinnerte an die nationale Synode, die im folgenden Jahr in Montelimar zusammentreten sollte und in deren Verlauf ein Memorandum über behördliche und sonstige Schikanen, deren Opfer die französischen Hugenotten waren, verfaßt werden würde, ein Memorandum, das man dem König zu eigenen Händen überreichen wollte. Er schloß mit einer letzten Mahnung, Vertrauen zu haben und Ruhe zu bewahren, indem er seinen eigenen Fall und den des Pastors Beaucaire als Beispiel anführte.
Die alte Herzogin de Rohan hatte während der langen Rede mehrfach ihre Ungeduld erkennen lassen. Sie schüttelte mißbilligend den Kopf und stieß ihren Stock auf den Boden. Die bürgerlichen Ermahnungen des Pastors schienen ihr nicht recht zu passen. Doch hielt sie sich wohl für zu alt, um noch die Rebellin zu spielen, und beschränkte sich schließlich darauf, ihr Mißfallen durch einen tiefen Seufzer zu äußern.
Beifälliges Gemurmel stieg von der Zuhörerschaft auf. Nur ein Mann erhob sich, ein Bauer mit breiten Schultern, der seinen Hut in beiden Händen drehte.