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Das Öllämpchen auf dem Treppenabsatz warf ihr mattes Licht über sie, und in dem Ungewissen Halbdunkel schien Angéliques Gesicht, dessen Erregung ihre Schönheit noch vervielfachte, wie aus einer übernatürlichen Welt hierher verschlagen zu sein. Er hielt ein irrendes Phantom in seinen Armen, menschlichen Augen nur sichtbar dank den Zauberkräften einer verwünschten Nacht. Schon war sie nicht mehr eine der ihren.
»Wohin lauft Ihr? Ihr werdet alle Welt närrisch machen.«
»Ich will meine Tochter und Laurier holen. Wir müssen fort.«
Er fragte sie nicht, wohin.
Er betrachtete sie, als ob er sie nicht genau sähe mit ihrem angespannten Ausdruck, ihren von Angst geweiteten Augen. Sie ähnelte jener Frau, der er mit seinem Knüppel auf der Straße nach Les Sables d’Olonne zu Leibe gegangen war und deren grüne Augen, bevor sie ihren Glanz verloren, ihn so schmerzlich angeblickt hatten. Sie ähnelte heute jener elenden, auf der schlammigen Straße nach Charenton aus einem Regenvorhang aufgetauchten Frau, die alles das symbolisierte, was es auf der Welt an geschändeter Schönheit, verhöhnter Unschuld, hartherzig verurteilter Ohnmacht gab, jener Frau, die so oft im Laufe der Jahre in seinen Träumen erschienen war, daß er sie schließlich die »Frau des Schicksals« genannt und sich angstvoll gefragt hatte, was sie ihm eines Tages zu sagen hätte, wenn der Klang ihrer Stimme zu ihm dränge. Denn er sah sie die Lippen bewegen, aber er hörte nicht, was sie zu ihm sprach.
Und an diesem Abend nun sprach sie zu ihm. Er hatte die unabänderlichen Worte gehört, die seit Jahren für ihn bestimmt waren: Wir müssen fort.
»Jetzt? Mitten in dieser schwarzen Nacht? Ihr seid es, die von Sinnen ist.«
»Glaubt Ihr, daß ich warten werde, bis die Dragoner des Königs hier eindringen, um uns zu massakrieren? Daß ich warten werde, bis Baumier mich verhaftet und der Justiz des Königs ausliefert? Daß ich warten werde, bis Laurier weinend in einem jener Karren davonfährt, die jeden Tag die Stadt verlassen und die hugenottischen Kinder fortschaffen, man weiß nicht, wohin? Ich habe genug Kinder weinen und schreien und um Hilfe rufen hören. Ich habe genug Gefängnisse und Gefängniswärter und getäuschte Hoffnungen und Ungerechtigkeiten kennengelernt. Es steht Euch frei, die gleichen Erfahrungen zu machen. Ich jedenfalls gehe mit den Kindern fort . Ich gehe aufs Meer.«
»Auf’s Meer?«
»Jenseits des Meers gibt es neue Länder, nicht wahr? Dort werden mich die Leute des Königs nicht erreichen können. Nur dort werde ich die Sonne wieder strahlen und die Blumen sprießen sehen. Selbst wenn ich nichts anderes besäße - das bliebe mir.«
»Ihr faselt, mein armes Kind.«
Weil er sich nicht erregte und seine Stimme voller Zärtlichkeit war, ließ Angéliques Spannung nach.
Sie fühlte sich unendlich müde, wie ausgeleert.
»Die Aufregungen dieses Tages haben Euch übel mitgespielt«, begann er wieder. »Ihr seid am Ende.«
»Ja, ich bin am Ende«, murmelte sie. »Wißt Ihr, daß dieser Zustand hellsichtig macht, Maître Gabriel? Ich bin nicht verrückt. Ich sehe nur, wo ich stehe: am Ende. Hinter mir nähert sich eine Koppel rasender Hunde. Vor mir breitet sich das Meer. Ich muß fort. Ich muß die Kinder retten. Ich muß meine Tochter retten. Ich kann die Vorstellung nicht ertragen, daß sie von mir getrennt wäre, gleichgültigen Menschen überlassen, verzweifelt nach mir rufend, ein von allen verleugnetes, einsames, kleines Bastardkind . Versteht Ihr, warum ich nicht das Recht habe, mich fangen zu lassen? Nicht einmal das Recht zu sterben?«
Sich von neuem von ihm zu lösen versuchend, fügte sie hinzu:
»Laßt mich, laßt mich los. Ich muß zum Hafen.«
»Zum Hafen? Wozu?«
»Um mich einzuschiffen.«
»Glaubt Ihr, daß sei so leicht? Wer wird Euch aufnehmen? Und wie wollt Ihr Eure Passage bezahlen?«
»Wenn es nötig ist, werde ich mich dem Kapitän eines Schiffs verkaufen.«
Er schüttelte sie wütend.
»Wie könnt Ihr es wagen, so skandalöse Worte auszusprechen?!«
»Sähet Ihr es lieber, wenn ich mich Monsieur de Bardagne verkaufte? Wenn ich mich schon einem Mann verkaufe, soll es der sein, der mich so weit wie möglich von hier fortbringt.«
»Ich untersage Euch, dergleichen zu tun, versteht Ihr? Ich untersage es Euch.«
»Ich werde vor nichts zurückscheuen, und ich werde fortgehen!«
Sie schrie, und das Echo ihrer Stimme hallte durch das alte Haus, von dessen gewirkten Tapeten sich die fahlen oder kräftig geröteten Reeder- und Kaufmannsgesichter in ihren hölzernen Rahmen abhoben. Niemals hatten diese Generationen jemand so schreien und so unziemliche Worte aussprechen hören.
Von oben war das Geräusch hastiger Schritte zu vernehmen, und der Pastor, Abigaël und Tante Anna beugten sich mit Kerzen über das Geländer.
»Einverstanden«, sagte Maître Gabriel. »Ihr geht fort . aber wir gehen alle.«
»Alle?« wiederholte Angélique, die ihren Ohren nicht traute.
Der harte Gesichtsausdruck des Kaufmanns verriet seinen Schmerz und seine Entschlossenheit.
»Ja, wir gehen fort . Wir werden das Haus unserer Väter, die Früchte unserer Arbeit, unsere Stadt verlassen . Wir werden uns das Recht erobern, auf einer fremden Erde zu leben . Zittert nicht, Dame Angélique, meine Liebe, meine Schöne . Ihr habt recht. Der Boden versinkt unter unseren Schritten, und wir sind feige genug, unsere Kinder, die erst zu leben beginnen, in unseren Untergang hineinzuziehen. Vergeblich versuchen wir, uns blind zu machen. Heute habe ich in den Abgrund gesehen . und ich wußte, daß ich Euch nicht verlieren wollte . Wir gehen fort.«
Zwanzigmal am Tag blickte sie auf das Meer hinaus. Über den Wall hinweg sah sie bis in die Ferne seine grauen Wogen tanzen.
»Entführe mich! Entführe mich!« flüsterte sie.
Aber sie mußte warten. Sie hatte die Notwendigkeit dafür eingesehen. Zwei Tage waren verstrichen, seitdem Angélique gemeinsam mit Maître Berne die Leichen in den Brunnen des Papierhändlers Mercelot geworfen hatte.
Das Leben nahm nach außen hin seinen üblichen Lauf. Weder am Portal noch bei den Lagerhäusern hatte sich ein Polizist gezeigt. Man war versucht zu glauben, daß nichts geschehen würde und daß es genügte, sich einzureden, daß auch nichts geschehen war. Daß das Dasein friedlich war, daß es nichts anderes zu tun gab, als den Fleischtopf über die Flamme zu hängen und an einem sonnigen Nachmittag nach Majoran duftendes Leinen zu bügeln.
Vergeblich bestand Honorine jeden Abend darauf, die hölzernen Läden vor den Fenstern zu schließen. Das Haus war deswegen nicht weniger bedroht. Man spürte, daß es ebenso wie seine Bewohner mit einem unsichtbaren Mal gezeichnet war. Die Stadt umschloß sie wie eine Falle. Denn der Hafen, das Vorzimmer der Freiheit, war der Tummelplatz einer kleinlichen Polizei. Die Schiffe wurden einer peinlich genauen Kontrolle unterworfen. Und um frei atmen zu können, genügte es nicht, mit entfalteten Segeln die Schwelle des Hafens zwischen dem Kettenturm und dem Saint-Nicolas-Turm zu überqueren, Richelieus Deich zu umsegeln und das Rund der weißen Klippen hinter sich zu lassen. Die Schiffe der königlichen Marine kreuzten vor der Ile de Ré. Sie kreuzten dort, um die Flucht der Verdammten zu verhindern.
Die Kinder tanzten um den Palmbaum. Ihre schrillen Stimmen drangen bis zu Angélique, zusammen mit dem rhythmischen Klappern ihrer kleinen Holzschuhe auf dem Pflaster des Hofs.
»Zum Miesmuschelfang
will ich nicht mehr gehn, Mama.
Die Jungs aus Marennes nehmen mir meinen Korb, Mama.«
Eine ganze Schar kleiner Nachbarkinder war es, die ihre zum Rat der Alten berufenen Eltern mitgebracht hatten.
Die gestickten Häubchen der kleinen Mädchen, die bunten Schürzen über den dicken, runden Röcken waren wie Blumen, die die Reihe der dunkelgekleideten Jungen unterbrachen.
Auf allen Schultern hüpften blonde, braune oder rote Locken, die Wangen waren rosig, die erhobenen Augen glänzten wie Sterne.
Alle Augenblicke ließ Angélique ihr Bügeleisen im Stich, um sich aus dem Fenster zu beugen und nach ihnen zu schauen.
»Jeden Augenblick«, dachte sie, »kann die Einfahrt sich öffnen, können schwarzgekleidete Männer eintreten oder bewaffnete Soldaten, die die Kinder an den Händen nehmen und für immer fortbringen.«
Die Herren des Konsistoriums traten auf den Treppenabsatz hinaus. Ihre Frauen, die sich solange bei Tante Anna aufgehalten hatten, gesellten sich zu ihnen. Langsam stiegen sie die Treppe hinunter. Sie sprachen gedämpft wie im Hause eines Toten.
Bald darauf erschien Maître Gabriel in der Küche. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich. Doch diesmal griff er nicht wie sonst nach seiner langen holländischen Pfeife, die ihm für gewöhnlich die Mußestunden verschönte.