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Angélique hatte in dem kleinen Laden eines Levantiners einen Vorrat Feigen und getrockneter Trauben für die Kinder gekauft. Von Savary wußte sie, daß sie den Ausbruch des Skorbuts zu verhindern vermochten: jenes von Blutungen des Zahnfleischs begleiteten Aufschwellens des ganzen Körpers, das gewöhnlich tödlich verlief.
Jedermann beschäftigte sich mit seinen Vorbereitungen. Jeder war überzeugt, daß alles gut vonstatten gehen würde. Und wirklich ließ sich auch alles gut an. Angélique schwankte zwischen festem Vertrauen und heimlicher Unruhe. Ihr Instinkt konnte sie nicht täuschen, und sie witterte bereits Bedrohungen, die noch keine Gestalt angenommen hatten. Aber wie solle man sie erkennen? War etwa die Tatsache als gefährliches Zeichen zu werten, daß Monsieur de Bardagne nicht von seiner Reise zur Hauptstadt zurückkehrte, oder jene andere, seltsamere, daß das Verschwinden der beiden zur Polizei gehörenden Männer weder Kommentare noch Nachforschungen in der Stadt ausgelöst hatte? ... Verbarg sich hinter dem kürzli-chen Beschluß des Polizeipräfekten, die Stadttore Tag und Nacht geschlossen zu halten und alle, die hinaus oder hinein wollten, mit größter Sorgfalt zu prüfen, eine Maßnahme zur engeren Überwachung der Hugenotten, oder mußte man im Gegenteil den Vorwand als stichhaltig ansehen: daß nämlich, wie behauptet wurde, Piraten die Küste unsicher machten? Zwar hatte man nicht wie im Mittelmeer bewaffnete Überfälle zu fürchten, aber die braven Kaufleute wußten sehr wohl, was sonst von ihnen zu erwarten war. Die Piraten warfen in der Umgebung Anker, mischten sich in der Stadt unter die Passanten, boten die Früchte ihrer Raubzüge zu konkurrenzlosen Preisen an, ohne auf die Einfuhr und Verkauf ihrer Waren lastenden Steuern bezahlen zu müssen. Es gab immer Händler, die sich in der Hoffnung auf einen ansehnlichen, steuerfreien Gewinn bereitfanden, mit ihnen halbpart zu machen. Traf es zu, daß in den letzten Tagen verdächtige Individuen beobachtet worden waren, die Pelzwerk aus Kanada feilgeboten hatten? War nur ihretwegen ein ganzes Dragoner-Regiment in die Stadt beordert worden? Was auch immer daran sein mochte - die Tore waren von nun an geschlossen und wurden streng überwacht.
Aus diesem Grund war Angélique beauftragt worden, Martial und Séverine von der Ile de Ré abzuholen. Früher wäre es Maître Gabriels Aufgabe gewesen, seine beiden ältesten Kinder zu gegebener Stunde zurückzuschaffen, aber den Protestanten gelang es nur noch unter größten Schwierigkeiten, die Stadt zu verlassen. Man notierte ihre Namen, befragte sie lange, zählte sie und unterwarf sie bei der Rückkehr der gleichen Prozedur.
Andererseits drängte die Zeit. Die heimliche Abfahrt stand unmittelbar bevor. Die holländische Flotte war bereits angekündigt.
Wie oft hatte Angélique sich nicht schon aus dem Fenster gebeugt und Anselme Camisot drüben auf dem Wall gefragt:
»Sind die Holländer schon in Sicht?«
Der Wächter des Laternenturms schüttelte verneinend den dicken Kopf.
»Noch nicht. Warum so ungeduldig, Dame Angélique? Solltet Ihr einen Anbeter unter ihnen haben?«
Schon ging das Gerücht um, daß sie in Brest Anker geworfen hätten. In zwei bis drei Tagen mußten sie hier sein. Am Horizont würden ihre Segel aufblühen. In ein paar Stunden würde das Meer weiß und voller Bewegung sein wie ein Strand voller Vögel. Derbe Burschen mit rauhen, kehligen Stimmen, deren Hautfarbe an die rosige Tönung des Schinkens erinnerte, würden den Hafen überfluten.
Und eine Handvoll gejagter Männer, Frauen und Kinder würden sich in einer dunklen Nacht hastig an Bord eines Schiffes schleichen, Schatten nur, flüsternde Stimmen, Weinen der kleinen Kinder, die man durch sanftes Wiegen zu beruhigen suchte ...
Sie entflohen der Stadt, ihrer Stadt, der Stadt ihrer Väter. In dieser Nacht würde das stolze protestantische La Rochelle die Früchte seiner Niederlage ernten .
Unten im Schiffsbauch würden sie angstvoll die Abfahrt erwarten, auf die von fern her dringende Befehle, den Schritten über ihren Köpfen lauschend. Die Schiffsplanken würden knarren. Sie würden spüren, wie das Schiff sich zu regen begann, wie die Bewegung der See sich allmählich zu ungebrochenem Wogen wandelte. Später käme der Augenblick, in dem sie endlich ohne Gefahr aus dem übelriechenden Sklavenraum an Deck klettern könnten. Das Meer um sie herum wäre verlassen, und sie würden am leeren Horizont das Bild ihrer Freiheit erkennen.
Tief sog Angélique die mit dem Geruch des Salzes und des bitteren Wermuts gesättigte Luft in ihre Lungen. Die kleinen dunkelgelben Blüten sprossen in den Tälern zwischen den Dünen. Honorine pflückte sie eifrig.
»Beeil dich, Liebling«, sagte Angélique.
»Ich bin müde.«
»Dann werde ich dich eben tragen.«
Sie kniete nieder, und das Kind kletterte auf ihren Rücken.
Es tat ihr wohl, sich im Gehen gegen den Wind zu stemmen und dabei die Last dieses leichten Bündels zu spüren. Honorines zerzaustes, seidiges Haar streichelte ihr die Wangen. Sie hörte das Mädelchen lustig lachen. Sie liebte das von tausend Geräuschen - dem des Windes, der Brandung auf dem Geröll am Fuß der Klippe, der Vogelschreie, die sich aus den Binsen erhoben - erfüllte Schweigen der Heide. Angélique stellte fest - und sie war überzeugt, Honorine teile ihre Meinung -, daß sie beide nicht für die Stadt geschaffen waren. Außerhalb der Wälle fanden sie unversehens die Umgebung wieder, in der sie sich zu Hause fühlten: die Heide, den weiten Horizont und die Anziehungskraft dessen, was sich jenseits von ihm wie ein Versprechen verbarg. Dieses Land lag flach, ohne Wälder, nackt unter dem ungreifbaren Schleier eines grünlichen Nebels, der an diesem Tage die aus Dünen, Mooren und dürftigen Feldern bestehende Ebene ins Unendliche dehnte. Zur Rechten war in der Ferne eine Ansammlung elender Hütten zu sehen: der Weiler Saint-Maurice.
Auf der Seite des Meers erhob sich von Richelieus Deich noch immer der von Muscheln umkleidete Steinhaufen, flankiert von kreuzweise verbundenen Balkenstümpfen, die faulend in der Strömung versanken.
Angélique warf nur einen zerstreuten Blick hinüber. Vor ihr öffnete sich das Meer von Pertuis, die Enge zwischen den Inseln von Oléron und Ré, noch vom Land umfangen, doch schon durchtränkt von der Grenzenlosigkeiten des Ozeans.
Honorines kleine Arme klammerten sich fester um ihren Hals.
»Freust du dich?« fragte sie ihre Mutter mit der nachsichtigen Sanftmut, die verzogenen Kindern vorbehalten ist. »Ja, ich freue mich«, erwiderte Angélique.
Und es war wahr. Die Zeit der Befreiung war nahe. Aus dem Anblick dieser noch wilden, von den Menschen und ihren Leidenschaften unabhängigen Landschaft gewann sie die Sicherheit, daß das Meer sie nicht im Stich lassen würde. Eine neue Seite ihres Lebens würde aufgeschlagen werden.
Welche Beschwernisse sich auch auftürmen mochten, sie würde dieses Leben mit einem neuen Herzen bestehen, befreit von einem Druck, der ihr ganzes Dasein belastet hatte. Auf dieser alten Erde ließ sie nichts als ein kleines Grab am Rande des Forstes von Nieul nahe einem weißen, zerstörten Schloß zurück. Und als einzige Habe nahm sie ihre Tochter mit, das ihr ans Herz gewachsene Kind, ihre Freundin.
Nur noch einige Stunden, und sie würde in jene Zone der Ruhe eintreten, in der die vom Sturm erschöpften Vögel sich wie berauscht von sanften Winden dahintragen lassen.
Das Glück war nahe.
»Sing mir ein Lied, wenn du dich freust«, schloß Honorine.
Angélique lachte auf. Ihre Tochter würde immer die guten Gelegenheiten beim Schopf ergreifen.
Sie begann Florimonds Lieblingslied zu trällern, das Lied von der grünen Mühle. Es ging darin um eine grün umrankte Mühle, einen Teufel, der sie sich aneignen wollte, und den Eigentümer, der sich dagegen wehrte. Die Geschichte war lang.
Während sie sang, entfernte sich Angélique vom Rande der Klippen. Sie mußte nun ein Stück der Heide durchqueren, um wieder auf den Karrenweg zu stoßen, auf dem sie den kleinen Hafen La Palice erreichen würde, dessen erste Hütten schon in der Ferne sichtbar waren.
»Schau doch, dort drüben!« rief Honorine. »Ich sehe den Teufel von der grünen Mühle.«
Ihre Mutter wandte mechanisch den Kopf, um mit dem Blick der Richtung des ausgestreckten kleinen Fingers zu folgen, und was sie sah, verschlug ihr den Atem.
Fast genau an der Stelle, wo sie sich hätten befinden müssen, wenn sie nicht vom Uferweg abgewichen wären, tauchte eine Gestalt auf. Angélique war schon zu weit entfernt, um die Gesichtszüge der Erscheinung erkennen zu können. Was sie sah, war ein hagerer, hochgewachsener, düster gekleideter Mann, in einen weiten schwarzen Mantel gehüllt, in dem sich der Wind verfing.
Es war Mephisto!
Im selben Augenblick trieben dichtere Schwaden jenes den Ausblick verschleiernden Nebels vom Meer her über die Küste, und Angélique fand sich inmitten einer traumhaften Unwirklichkeit, in der allein der schwarze Flügel des weiten Mantels unheimlich le-bendig schien.
Es schien ihr, als habe sie aufgehört zu leben oder zumindest, als habe ihr Geist sie jäh verlassen, um sich in jenes Land zu begeben, in dem die Ungewissen Phantasievorstellungen Gestalt annehmen, wo der Traum greifbar wird, während sich die Konturen der Wirklichkeit verwischen.
So mußte es sein, wenn man wahnsinnig wurde.
So oft hatte sie an den scherzenden Wunsch des Sieur Rochat gedacht - »Ich wünschte, daß der Rescator vor La Rochelle Anker würfe!« -, und nun sah sie ihn vor sich. Sie lebte inmitten des in allen Einzelheiten von ihren Wunschvorstellungen geschaffenen Bildes.
Sie glaubte, den Verstand zu verlieren. Sie hatte Angst.
Dann glitt der feuchte Atem des Nebels vorüber. Die Farben des Meers nahmen von neuem ihren lebhaften Glanz an. Alles wurde wieder klar, scharf, deutlich umrissen, und selbst La Rochelle wurde in der Ferne sichtbar, weiß und gezackt wie eine Krone aus purem Silber. Der seltsame Mann hob den Arm. Er näherte seinen Augen ein lang ausgezogenes Fernrohr und beobachtete die Stadt. Er hatte jetzt menschliche Substanz bekommen, und wenn seine tintig-schwarze Gegenwart am lichtüberströmten Klippenrand auch nach wie vor beunruhigend blieb, wirkte sie doch weder gespenstisch noch diabolisch.
Fest auf seinen in Lederstiefeln steckenden Beinen stehend, nahm er sich zur Beobachtung Zeit. Dann ließ er das Fernrohr sinken und schien anderen, noch unsichtbaren Personen unten auf dem Strand Zeichen zu geben.
Angélique fand aus ihrer Benommenheit zum Bewußtsein der Situation zurück. Er würde sich umdrehen und die mitten in ihrer Bewegung erstarrte Frau bemerken. Warum war sie plötzlich so überzeugt, daß dieser Mann und diejenigen, die ihn begleiteten, keinen Wert darauf legten, beobachtet oder gar erkannt zu werden?
Sie sah sich um und lief eilig zu einem Tamariskengebüsch, hinter dem sie sich mit ihrer Tochter versteckte. In der sandigen Senkung ausgestreckt, vermochte sie nur wenig von dem zu sehen, was sich weiter vorn zutrug. Zwei Männer waren zu dem ersten gestoßen. Sie sprachen miteinander.
Dann verschwanden sie.
Sie hätte glauben können, geträumt zu haben, wenn nicht die gedämpften Laute menschlicher Stimmen und unregelmäßige, dumpfe Schläge an ihr Ohr gedrungen wären, die vom Hammer eines Zimmermanns hätten herrühren können.
Ein Windstoß trug ihr den scharfen, unverwechselbaren Geruch geschmolzenen Pechs zu. Über den Rand der Klippen, die an dieser Stelle eine ins Land einschneidende Bucht bildeten, erhob sich ein wenig Rauch.
»Rühr dich nicht«, sagte Angélique zu Honorine.
Doch Honorine dachte gar nicht daran, sich zu rühren. Sich in eine Bodensenke zu ducken wie ein auf der Lauer liegendes junges Kaninchen, entsprach ihrer ungezähmten Natur und schien sie an die frühen Tage ihrer Kindheit zu erinnern.
Angélique schlich sich kriechend durch das Gras bis zum Rand.