142842.fb2 Haus der Eriinnerungen - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 15

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Kapitel 15

Nun war es also endlich soweit! Das, was ich gehofft und gefürchtet hatte, war eingetreten: Die Verbindung zur Vergangenheit war hergestellt.

War dies der Grund, weshalb ich in diesen Ablauf der Ereignisse hineingezogen worden war? War dies der Zweck, den ich zu erfüllen hatte? Es war, als hätten sich plötzlich die Wolken gelichtet und die Sonne träte hervor.

Bei meinen Worten hatte Harriet zu weinen aufgehört und aufgeblickt. Ihr Gesicht war erschrocken gewesen, als hätte sie sich ertappt gefühlt. Und doch hatte sie mich anscheinend nicht wirklich gesehen. Sie hatte mit zusammengekniffenen Augen in meine Richtung geblickt, als versuchte sie, etwas zu erkennen, und dann hatte ihr Gesicht sich entspannt. Was war ich in diesem Moment für sie gewesen? Eine optische Täuschung, durch einen Lichtreflex hervorgerufen? Ein Schatten an der Wand? Was hatte Harriet gesehen, als sie den Kopf gehoben und zu mir herübergeblickt hatte?

Viel konnte es nicht gewesen sein. Nachdem sie einen Moment lang wie fragend den Kopf zur Seite geneigt hatte, hatte sie ihn wieder auf ihre Arme gesenkt und weitergeweint. Doch es blieb die Tatsache bestehen, daß sie mich gehört hatte. Ich hatte ihren Namen gerufen, und sie hatte mich gehört. Und dann hatte sie etwas gesehen — drüben, an der offenen Tür. Meiner Meinung nach konnte das nur eines bedeuten: daß das Zeitfenster größer wurde; daß nun auch der letzte der Sinne — der Tastsinn — miteinbezogen wurde und die Möglichkeit der Berührung gegeben war.

Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück und ließ die Ereignisse der anderthalb Wochen, die ich nun in Großmutters Haus lebte, in mir Revue passieren. Ich erinnerte mich meiner ersten >Begegnungen<. >Für Elise< vor dem Hintergrund der Dudelsäcke. Victor am Fenster. Es ergab eindeutig ein Muster. Erst das Gehör. Dann das Gesicht. Dann der Geruch. Dann vage körperliche Empfindungen wie zum Beispiel Kälte oder ein Gefühl der Nähe, wenn einer von ihnen an mir vorüberging. Und heute abend schließlich hatte Jennifers Hand meinen Fuß berührt. Wir kamen in Kontakt.

Und mit dem Kontakt würde die Verbindung kommen. Hatte nicht Victor sich einmal umgedreht, als ich ihn beim Namen gerufen hatte? Und jetzt Harriet. Harriet hatte augenblicklich reagiert, als ich sie angesprochen hatte.

Es war also soweit. Für mich gab es jetzt keinen Zweifel mehr daran, daß ich bald in der Lage sein würde, mit ihnen zu sprechen, mich ihnen bemerkbar zu machen, ihnen sichtbar zu werden. Darauf also hatte alles hingeführt, auf diesen letzten Moment, da ich wirklich zu ihnen gehören würde.

Aber wozu? Aus welchem Grund? Sollte ich in diesem Drama der Vergangenheit eine aktive Rolle spielen? War ich dazu bestimmt, irgendwie einzugreifen?

Das mußte es sein. Eine andere Erklärung fiel mir nicht ein. Aus irgendeinem Grund war ich auserkoren worden, im Familiendrama der Townsends eine Rolle zu übernehmen. Während ich mich mit Fragen herumschlug, auf die ich bei mir keine Antworten finden konnte, rannte ich im Wohnzimmer umher wie in Raserei. Ich war enttäuscht über meinen Mangel an Wissen und Verständnis, zornig, daß ich nicht klar und deutlich erkennen konnte, worauf alles hinauslief.

Ich ging in die Küche, schenkte mir ein großes Glas von Großmutters Kirschlikör ein und kippte es hinunter. Es war nur ein leichter Likör, der mir nicht die erwünschte Entspannung brachte, aber es war immerhin etwas.

Als ich die Küchentür hinter mir schloß und die Polsterrolle wieder an ihren Platz schob, schoß mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf, bei dem mir glühend heiß wurde. Wenn es mir soeben gelungen war, die Kluft zu Harriet zu überbrücken, und wenn diese Kluft, wie ich fest glaubte, mit der Zeit schrumpfen würde, bedeutete das dann nicht, daß ich bald auch mit Victor Townsend würde Kontakt aufnehmen können?

Ich ließ mich erregt aufs Sofa fallen. Mich Victor zeigen! Mit. ihm sprechen! Unvorstellbar!

Aber wieso unvorstellbar, da ich doch genau diese Vorstellung im Fall von Harriet und Jennifer ohne Schwierigkeiten akzeptieren konnte? Wieso war da eine Verbindung zu ihm für mich undenkbar?

Weil es nicht sein darf, kam die angsterfüllte Antwort aus meinem Innern. Du darfst dich ihm nicht zeigen. Ich verstand mich selbst nicht mehr. Ich hatte die Berührung von Jennifers Hand an meinem Fuß gespürt. Ich hatte Harriet angesprochen und war gehört worden. Wie würde der nächste Schritt aussehen? Würde ich plötzlich mitten unter ihnen sichtbare Gestalt annehmen, mit Victor sprechen, seine Berührung fühlen.

«Es ist jetzt schon zwei Monate her«, sagte jemand ganz in meiner Nähe.

Ich hob mit einem Ruck den Kopf. Jennifer und Harriet saßen in den Sesseln vor dem

Feuer.

«Wir hätten doch wenigstens einen Brief bekommen müssen oder irgendein anderes Lebenszeichen«, sagte Harriet.»John ist jetzt genau zwei Monate fort.«

Jennifer war so verändert, daß ich erschrak. Ihre strahlende Schönheit war von einer tiefen Schwermut überschattet, die ihr Gesicht bleich machte und zu beiden Seiten ihres Mundes tiefe Linien eingegraben hatte. Ihre Schultern waren gebeugt, als trüge sie eine schwere Last, und ihr Haar war nachlässig frisiert. Sie wirkte um Jahre gealtert, und doch waren seit Johns Flucht erst zwei Monate vergangen.

Harriet, die an einem Taschentuch stickte, trug ein Spitzenhäubchen auf dem Kopf, das ihr kurz geschnittenes Haar ganz verbarg. Die beiden jungen Frauen wirkten niedergeschlagen und unfroh.

«Vielleicht«, meinte Jennifer, deren schmale Hände untätig auf den Sessellehnen lagen,»ist er an einem Ort, von wo er keine Briefe absenden kann. Oder vielleicht ist er auch sehr weit weg, und die Briefe, die er geschrieben hat, sind verlorengegangen.«

«Er hätte telegrafieren können.«

«Wer weiß, wo er ist, Harriet. Vielleicht befindet er sich schon auf der Rückreise und möchte uns überraschen. «Harriet schüttelte den Kopf.»Ich verstehe nicht, wie Victor das tun konnte. Wie er seinem eigenen Bruder so etwas antun konnte.«

«Keiner von uns ist ganz ohne Tadel, Harriet. «Ich versuchte, mich ihren Gedanken und Gefühlen zu öffnen, um das Unausgesprochene zu erfahren. Aber das einzige, was ich empfing, war eine einfache Botschaft von Jennifer: Ich habe Victor seit fast drei Monaten nicht mehr gesehen. Das also war der Grund für ihre Veränderung, für den apathischen Blick, mit dem sie ins Feuer starrte. Es war so still im Zimmer, daß jeder Nadelstich Harriets in dem straff gespannten Leinen des Taschentuchs zu hören war.

Ich wünschte mir, ich hätte in diesem Augenblick mit Jennifer sprechen können, mit ihr allein, ohne Harriet. Ich hätte ihr so gern gesagt, daß Victor zurückkommen würde, daß ihre gemeinsame Zeit noch nicht um war.

Im Geist hörte ich Großmutters Worte: Victor kam eines Abends betrunken nach Hause und zwang sie.

Ja, dachte ich traurig, deine Zeit mit Victor ist noch nicht um.»Ich glaube, Victor ist völlig verbittert, seit er den Posten in Edinburgh ausgeschlagen hat«, bemerkte Harriet.»Er war ja wie verwandelt, als er nach Hause kam, nicht wahr? Und er ist nie mehr der alte geworden. Das ist jetzt zwei Jahre her, aber ich erinnere mich an den Abend, als wäre es gestern gewesen. Wie schockiert er war, als er von deiner Heirat mit John hörte! Und wie er Hals über

Kopf hinausstürmte und sich im Horse's Head einmietete. Ich habe nie verstanden, warum er Vater nachgegeben hat und hierher zurückgekommen ist. Es war doch abgemacht, daß er den Posten in Schottland übernehmen würde. Und dann tauchte er plötzlich hier auf.«

«Manchmal ändert man eben seine Pläne.«

«Ja, das ist wahr. Und vielleicht hat John auch seine Pläne geändert. Was ist, wenn er nicht mehr nach Hause kommt? Was wirst du dann tun?«

Jennifer zuckte die Achseln. Es war unwichtig. Ohne Victor war alles unwichtig.

Der ätzende Unterton in Harriets Stimme beunruhigte mich. In den drei Monaten, seit sie ihr Kind verloren hatte, schien Harriet bitter und hart geworden zu sein. Die abwertende Art, wie sie von Victor gesprochen hatte, gab mir Anlaß zu der Frage, ob nicht er derjenige gewesen war, der ihr zur Strafe das schöne Haar abgeschnitten hatte. Ich hatte noch die Worte im Ohr, die sie im Salon zu sich selbst gesprochen hatte.»Er hat dich bestraft, weil du es gesagt hast. Sein gutes Ansehen ist ruiniert. Er wußte nicht, wie er sonst seinen Zorn und seine Wut an dir auslassen sollte.«

Ich schüttelte die Erinnerung ab. Mochten die anderen ihn verdammen, ich konnte nicht glauben, daß Victor der schlechte und gemeine Mensch war, als den seine Nachkommen ihn hinstellten. Wie Großmutter ihn beschimpft hatte! Ihm allein hatte sie die Schuld an der Tragädie dieser Familie gegeben. Aber Victor war so sehr Opfer wie die anderen und gewiß nicht der allein Verantwortliche.

Mein Kopf begann zu schmerzen. Ich rieb mir die Augen und kämpfte gegen das Gefühl, daß an dem, was alle behaupteten, vielleicht doch etwas Wahres sein könnte. Großmutter hatte ihre Geschichten nur aus zweiter und dritter Hand, aber hier sprachen die, welche ihm am nächsten gewesen waren. Was war in diesen letzten drei Monaten wirklich geschehen?

Als ich meine Hände von den Augen nahm, sah ich, daß Jennifer und Harriet mich verlassen hatten. Ich war wieder allein in dem tristen kleinen Wohnzimmer, mein Kopf schmerzte zum Zerspringen, und mein ganzer Körper schrie nach Schlaf. Ich blickte trostlos auf das regenasse Fenster. Wie lange würde ich noch die Gefangene dieses Hauses und seiner Vergangenheit bleiben?

Zuerst glaubte ich, das Dröhnen sei in meinem Kopf, aber als ich die Augen öffnete und das wäßrig graue Morgenlicht durch die Scheiben sickern sah, erkannte ich, daß es von Großmutter kam, die oben mit ihrem Stock auf den Boden klopfte. Ich stand aus dem Sofa auf und versuchte, mich aus den Nebeln des Schlafs zu befreien. Als ich auf die Uhr sah, stellte ich fest, daß es fast acht war. Ich hatte anscheinend den größten Teil der Nacht geschlafen, aber ich fühlte mich wie gerädert. Ich war so schlapp und kraftlos, daß ich die Treppe hinaufkeuchte wie eine uralte Frau. Wie schaffte Großmutter das nur? Als ich in ihr Zimmer kam, saß sie schon aufrecht in ihren Kissen, und sie war es, nicht ich, die rief:»O mein Gott, du siehst ja schrecklich aus!«

«Wie fühlst du dich heute morgen, Großmutter?«

«Die Arthritis hat mich immer noch in ihren Fängen, Kind. Aber der Regen kann ja nicht ewig anhalten. Im Radio haben sie wenigstens gesagt, daß es heute abend besser wird. Dann bekommen wir vielleicht ein bißchen Sonne. Elsie und William werden sicher vorbeikommen, wenn der Regen nachläßt. Dein Großvater hat ja jetzt schon ein paar Tage keinen Besuch mehr gehabt. Wir dürfen ihn nicht beunruhigen.«

«Kannst du nicht aufstehen, Großmutter?«

«Andrea, was ist mit deinen Augen?«

«Ich weiß nicht. Warum?«

«Schau dich doch nur mal an. «Ich ging zum Toilettentisch und warf einen scharfen Blick in den Spiegel. Meine Augen waren so rot und verschwollen, als hätte ich einen Boxkampf hinter mir.

«Und wie blaß du bist. Du siehst richtig ausgelaugt aus. Ja, völlig ausgelaugt. Als hätte dir jemand das ganze Blut aus den Adern gesogen. Wie fühlst du dich denn?«

«Ach, ganz gut. Nur müde bin ich.«

«Ich glaube, für dich ist es das Beste, wenn du bald wieder nach Hause fliegst. Wenn dieses schlechte Wetter vorbei ist, gehst du ins Reisebüro und buchst einen Flug.«

Ich zwang mich zu einem Lächeln.»Das klingt, als wolltest du mich loswerden.«

«Unsinn! Aber ich mache mir Sorgen um dich, Kind. «Meine Großmutter sah mich so ernst und durchdringend an, daß ich mich abwenden mußte. Tief im Innern spürte ich die Veränderung, die sich vollzog. Ich wußte, daß mir etwas fehlte, aber ich hatte zu große Angst, es mir einzugestehen. Wenn ich es einfach ignorieren, darüber hinweggehen, so tun konnte, als wäre es nicht da… Doch Großmutters tiefe Besorgnis machte mir auf unangenehme Weise bewußt, daß mit mir etwas nicht in Ordnung war.»Ich mache dir eine Tasse Tee, Großmutter. Und Toast dazu?«

«Ach, das ist lieb von dir. Obwohl es mir weiß Gott nicht recht ist, mich von dir bedienen zu lassen. Aber wer hätte gedacht, daß solches Regenwetter kommt, hm? Laß dir Zeit, Kind, und sag's mir, wenn das Wetter besser wird. Du weißt, sobald es ein bißchen heller wird, werden Elsie und William kommen. «Ich spürte ihren scharfen Blick im Rücken, als ich zur Tür hinausging. Im Flur, wo sie mich nicht mehr sehen konnte, lehnte ich mich an die Wand und holte mehrmals tief Atem. Ich fühlte mich so schwach wie kurz vor einem Zusammenbruch. Es war eine Kleinigkeit, den Tee zu kochen und den Toast zu machen, solange ich nur durch den Mund atmete und darauf achtete, daß der Geruch nicht in meine Nase drang. Wenn das doch geschah, bekam ich sofort heftigen Brechreiz und mußte schleunigst aus der Küche stürzen. Als ich schließlich mit einem einigermaßen appetitlich gerichteten Tablett zu meiner Großmutter ins Zimmer trat, sah sie sich ihr Frühstück erfreut an und fragte:»Wo ist denn deins?«

«Unten, Großmutter. Ich esse gleich unten, wenn du nichts dagegen hast.«

«Natürlich. Sieh zu, daß du runterkommst und setz dich an die Heizung. Dreh sie ruhig ganz auf. Ach, warum ziehst du nicht eine Wolljacke von mir über.«

«Im Wohnzimmer ist es ja warm.«

«Weißt du, du bist furchtbar mager geworden. Was soll denn deine Mutter sagen, wenn sie dich sieht? Sie wird sich fragen, was wir hier mit dir angestellt haben. Ehrlich, du bist so klapprig wie ein Skelett.«

Ich nickte nur und dachte, gestern hast du mich mit einer Leiche verglichen. Vielleicht werde ich wirklich langsam eine. Als ich wieder unten im Wohnzimmer war, ließ ich mich in einen der beiden Sessel fallen und rührte mich nicht mehr von der Stelle. Ich war wirklich wie tot. Ich konnte nur auf die Entfaltung der nächsten Episode warten, meine kostbaren Momente mit der Vergangenheit. So unglücklich und tragisch sie waren, ich sehnte mich nur nach ihnen. Sie waren meine Wirklichkeit. Aber warum raubten sie mir Schlaf und Appetit? War das notwendig? Wie lange konnte ich das durchhalten, ohne tatsächlich zusammenzubrechen? Wenn Elsie heute abend oder morgen vorbeikam, würde sie bestimmt erschrecken — ich war ja selbst erschrocken, als ich mich im Spiegel gesehen hatte — und versuchen, mich zu sich nach Hause zu holen.

Würde ich gehen dürfen? Oder hielten sie mich hier fest, um mich langsam zu töten, damit ich eine der Ihren werden würde?

Am Nachmittag war ich wieder in der Vergangenheit. Ich war eingeschlafen, aber ich fand weder Frieden noch Ruhe in diesem Schlaf. Schreckliche Träume quälten mich, und eine tödliche Kälte hüllte mich langsam ein, drang durch meine Haut und meine Knochen bis ins Mark. Zitternd vor Kälte hatte ich mich den ganzen Nachmittag herumgewälzt und war, als ich erwachte und Jennifer allein am Kamin sitzen sah, noch matter und erschöpfter als zuvor.

Sie war dabei, einen Brief zu schreiben. Ich rutschte bis an die äußerste Kante des Sofas und beugte mich, die Ellbogen auf die Knie gestützt, so weit vor, wie ich konnte. Nun konnte ich lesen, was sie schrieb.

«Juli 1894 Liebster Victor, ich schreibe diesen Brief in der Hoffnung, daß er von einem hilfreichen Menschen befördert wird, der weiß, wo Du Dich aufhältst, und daß er Dich so über kurz oder lang erreicht. Ich habe Dir mittlerweile drei Briefe geschrieben, die alle ohne Antwort geblieben sind. Vielleicht hast Du sie nicht erhalten. Vielleicht möchtest Du mir nicht antworten. Ich werde dennoch versuchen, an der Hoffnung festzuhalten, daß Du am Leben und bei guter Gesundheit bist und mir antworten könntest, wenn Du nur wolltest.

Vier Monate sind vergangen, seit ich Dich das letzte Mal gesehen habe. Wie gut ich mich an den Tag erinnere. Ich sehe noch Mr. Johnson vor mir, wie er dich von der Kanzel herab verdammte, während Du stolz und aufrecht in der Kirche saßest und mit keiner Miene verrietst, wie sehr die Verletzungen schmerzten. Und als ich Dich später am selben Nachmittag beschwor, Dein Schweigen zu brechen und Dich zu verteidigen, sagtest du nicht ein einziges Wort zu mir, sondern gingst daran, deine Koffer zu packen. Ich werde niemals verstehen, warum Du es schweigend hinnahmst, daß diese Stadt Dich an den Pranger stellte, obwohl doch Menschen dawaren, die an Dich glaubten. Ich weiß nicht, ob Du getan hast, was man Dir vorwirft, und ich würde mir niemals anmaßen, ein Urteil über Dich zu fällen. Aber ich weiß eines — an dem Tag, an dem Du aus Warrington fortgingst, ist etwas in mir gestorben.

Ich möchte, daß Du zurückkommst, Victor. Oder daß Du mich zu Dir kommen läßt, ganz gleich, wo Du bist. Warum willst Du nicht begreifen, daß es Menschen gibt, die Dich lieben und Deine Abwesenheit nicht ertragen können?

John ist nicht zurückgekehrt und hat auch niemals geschrieben. Ich fürchte, ich werde nie wieder von ihm hören. Wo immer Dein Bruder auch sein mag, vielleicht ist er dort glücklicher. Ich frage mich, ob Du es auch bist.«

Jennifer hörte plötzlich zu schreiben auf, packte das Blatt mit einer raschen, zornigen

Bewegung, zerknüllte es in ihrer Hand und warf es ins Feuer. Dann schlug sie beide Hände vor ihr Gesicht und begann zu weinen.

Ich war ihr so nahe, daß ich den Duft ihres Rosenwassers riechen konnte. Ihre schmalen Schultern zitterten, Sie dauerte mich so sehr, daß ich sie am liebsten in den Arm genommen hätte. Ich besaß das Wissen, das sie trösten konnte; ich wußte, daß Victor zurückkehren würde. Aber wie konnte ich ihr das mitteilen?

Ich versuchte es wieder.

Ich holte tief Atem, um mir Mut zu machen, und sagte dann in ruhigem Ton:»Jennifer.«

Mit einem Ruck hob sie den Kopf und kniff die Augen zusammen, als versuche sie, mich zu sehen.

«Jenny«, sagte ich, ohne mich von der Stelle zu rühren. Mein Herz klopfte wie rasend. Jetzt war es soweit! Das war der Moment des Durchbruchs.»Jenny, du brauchst nicht zu weinen. Er wird zurückkommen. Victor wird zurückkommen. «Sie hielt einen Moment den Atem an.»Wer — wer bist du?«Ich glaubte, ich würde ohnmächtig werden vor Anstrengung und Spannung.»Eine Freundin.«

«Du kommst mir bekannt vor…«

«Er kommt zurück, Jenny…«Doch noch während ich mit Jennifer sprach, verschwand sie mir aus den Augen. Ich glitt von der Couch und blieb wie betäubt auf dem Boden liegen. Das Zimmer drehte sich in schwankenden Kreisen um mich, der Boden hob sich, und die Zimmerdecke senkte sich herab. Die Wände kamen mir entgegen und wichen wieder zurück. Ich krallte meine Finger in den dünnen Teppich, um nicht ins Leere zu stürzen. Ich spürte, wie der Boden unter mir sich öffnete, und ein Gefühl überkam mich, als treibe ich im freien Raum.

Als das Zimmer wieder ruhig wurde und ich wieder festen Boden unter mir fühlte, stand ich stöhnend auf. Ich war so matt, daß diese einfache Handlung meine ganze Kraft und Konzentration in Anspruch nahm, und als ich mich endlich hochgerappelt hatte, schaffte ich es nicht, aufrecht stehenzubleiben. Ich taumelte so stark, daß ich mich sofort wieder in das Sofa fallen ließ.

Mein ganzer Körper war schweißgebadet. Das T-Shirt lag naß auf meiner Haut, mein feuchtes Haar klebte mir im Nacken. Und ich fühlte mich am ganzen Körper krank und elend. Ich hatte, wenn auch nur einen flüchtigen Moment lang, die Zeitbrücke überschritten.

Jennifer hatte mich gesehen, hatte zu mir gesprochen. Sie mußte mich einen Augenblick lang in aller Deutlichkeit wahrgenommen haben, denn sie hatte ja geglaubt, mich zu kennen. Lag es an der Familienähnlichkeit? Oder hatte es einen anderen Grund? Langsam wurde mir die Tragweite dessen, was geschehen war, voll bewußt. Ich hatte die Kluft zwischen den Zeiten überwunden. Einen Herzschlag lang war ich in der Welt des Jahres 1894 gewesen.

Ich wußte jetzt mit Gewißheit, daß meine nächste Begegnung länger dauern, intensiver sein würde. Ich würde mit ihnen sprechen, sie berühren — und was noch? Und mit wem? Victor? Wäre ich nicht körperlich so geschwächt gewesen, so wäre ich vielleicht auf den Gedanken gekommen, mich zu fürchten. So aber, erschöpft und ausgelaugt wie ich war, konnte ich nur immer über das Phänomen nachdenken, dem ich mich jetzt gegenübersah. Es gab jetzt für mich keinen Zweifel mehr daran, daß meine Reisen in die Vergangenheit einen ganz bestimmten Sinn hatten. Es hatte seinen guten Grund, daß ich in die Vergangenheit geholt wurde.

Aber was für ein Grund war das?

Ich streckte mich auf der Couch aus und ließ in der linden Wärme des Zimmern meine Haut und meine Kleider trocknen. Nebelhaft noch begann sich eine Vorstellung in meinem Hirn zu bilden. Es hatte etwas mit Veränderung zu tun.

Schon einmal hatte ich die Zeitkluft überwunden und hatte den Ablauf der Ereignisse im Jahr 1894 unterbrochen. Ich hatte Jennifer aus ihrer Traurigkeit gerissen und ihr gesagt, daß Victor zurückkehren würde.

Was würde ich das nächste Mal tun? Was würde ich zu dem nächsten toten Townsend sagen, mit dem ich zusammentreffen würde?

Natürlich. Das war es. Das war der Sinn. Das war der Zweck, den ich zu erfüllen hatte.

Ich konnte zurückgehen in der Zeit und die Geschichte verändern.

Schon hatte ich den ersten kleinen Schritt in dieser Richtung getan. Ich hatte Jennifer getröstet und ihr gesagt, daß sie Victor wiedersehen würde. Hätte ich es nicht getan, so hätte sie weiter getrauert und geweint, wäre todunglücklich gewesen, bis zu dem Tag seiner Rückkehr. So aber, dessen war ich sicher, saß sie jetzt, in diesem Moment, an einem Juliabend des Jahres 1894 in ihrem Wohnzimmer und machte sich Gedanken über die Prophezeiung, die sie aus dem Mund einer geisterhaften Erscheinung gehört hatte. Und zweifellos hatte sie jetzt wieder einen Funken Hoffnung, der ihr versagt geblieben war, hätte ich nicht eingegriffen.

Was also würde dann als Nächstes kommen? Was würde ich bei der nächsten Begegnung mit einem Mitglied der Familie Townsend sagen oder tun?

Eines fiel mir auf und irritierte mich: Ich hatte keine Entscheidungsfreiheit darüber, ob und wann ich rückwärts reisen wollte; ich konnte nicht einmal aus eigener freier Wahl dieses Haus verlassen. Dennoch war es mir überlassen, mit meinen Vorfahren Verbindung aufzunehmen oder nicht. Ich war nicht gezwungen worden, jene Worte zu Jennifer zu sprechen. Ich hatte sie aus freiem Willen gesprochen. Die Entscheidung, einzugreifen oder nicht, lag offenbar ganz bei mir.

Aber welchen Zweck, welche Aufgabe sollte ich dann erfüllen? Warum war ich auserkoren worden, in die Vergangenheit zurückzukehren, wenn es dann ganz mir überlassen blieb, ob ich in die Ereignisse eintrat oder an ihrer Peripherie verharrte? Und wozu eingreifen? Warum sollte mir überhaupt der Gedanke kommen einzugreifen?

Das hatte doch nur einen Sinn, wenn es einem guten Zweck diente.

Plötzlich hatte ich die Antwort.

Ich hob den Kopf und blickte zum Fenster gegenüber, ich sah den Regen, der immer noch in Bächen an den Scheiben herabströmte, und ich dachte, es liegt in meiner Macht, das Schicksal dieser Familie zu ändern.

Plötzlich erschien mir alles ganz einfach, gar nicht mehr rätselhaft. Das Geheimnis war endlich gelüftet. Ich wußte, wozu ich in das Haus in der George Street gekommen war. Ich wußte, wozu ich auserwählt worden war und worin meine Bestimmung lag.

«Solange Victor Townsend lebte, machte er den Menschen in diesem Haus das Leben zur Hölle.«

Das hatte meine Großmutter an meinem zweiten Tag in diesem Haus zu mir gesagt. Sie hatte von» unsäglichen Scheußlichkeiten «gesprochen, Victor als einen Teufel bezeichnet, der mit dem Satan in Verbindung stand. Mir war jetzt alles klar. Von seinem Bruder und den Bürgern des Städtchens zu Unrecht verdächtigt und verdammt, war Victor Townsend in Zorn und Bitterkeit fortgegangen. Sein Leben war verpfuscht. Er hatte seine berufliche Karriere aufgegeben, er hatte Jennifer verloren, er war aufs Schlimmste verleumdet und aus seiner Heimat vertrieben worden.

Während ich auf dem Sofa saß und ins Leere starrte, sah ich ihn vor mir, wie er nach Hause zurückkehrte, ein völlig anderer. Ich sah ihn getrieben von finsterer Rachgier, die einen grausamen, brutalen Menschen aus ihn gemacht hatte, für den nur noch eines zählte — es denen heimzuzahlen, die ihn mit Füßen getreten oder tödlich verletzt hatten.

War es so gewesen? War Victor nach Monaten des Alleinseins und der Einsamkeit, in denen der Gedanke an Rache allmählich sein Herz vergiftet hatte, mit dem Ziel zurückgekehrt, die zu vernichten, die er einst geliebt hatte?

War an Großmutters Geschichten vielleicht doch etwas Wahres?

Die Stunden verrannen träge. Ich saß in unveränderter Haltung auf dem Sofa, gelähmt von meiner körperlichen Schwäche und niedergedrückt von meinen Gedanken, die unablässig um dasselbe kreisten.

Es lag, sagte ich mir, in meiner Macht, wenn nicht Harriet, so doch wenigstens Jennifer vor der Rache des außer sich geratenen Victor Townsend zu bewahren. Wenn er wirklich so zurückkehren sollte, wie ich es mir vorstellte, würde es mir dann möglich sein, einzugreifen und Jennifer vor dem Schicksal zu retten, das ihr zugedacht war?

Konnte ich die Geschichte verändern?

Und wenn ich es tat, was würde dann aus mir werden? Jennifer war meine Urgroßmutter. Sie war von Victor vergewaltigt worden, und aus diesem Akt der Gewalt war Robert hervorgegangen, ihr Sohn, mein Großvater. Was aber würde geschehen, wenn es mir tatsächlich gegeben war, einzugreifen und die Gewalttat zu verhindern? Das würde doch heißen, daß mein Großvater nie geboren werden würde.

Und würde das nicht in letzter Konsequenz bedeuten, daß auch ich aufhören würde zu existieren?

Es konnte nur so sein, daß die Wahl, die mir gewährt wurde, mit Selbstaufgabe verbunden war. Ich mußte entscheiden, was ich tun wollte: Untätig zusehen, wie Victor sich an seiner Familie und der Frau, die er geliebt hatte, rächte, oder eingreifen und das verhindern.

Und wenn ich es verhinderte, kam das für mich einem Selbstmord gleich.

Mir war, als befände ich mich in einem Labyrinth, aus dem es kein Entkommen gab. Immer tiefer trieben mich mein Denken und Forschen in mich selbst hinein, ich stieß auf Winkel meiner Seele, in die noch nie Licht gekommen war, ich begegnete Seiten von mir, die ich nie kennengelernt hatte.

Und dazwischen fragte ich mich immer wieder: Ist es möglich, daß ich mich in Victor täusche?

Was wird geschehen, wenn ich mich täusche und einen nicht wiedergutzumachenden Fehler begehe, indem ich die Vereinigung von Jennifer und Victor verhindere, zwei guten und reinen Menschen, und so in meiner Tölpelhaftigkeit meinen eigenen Tod herbeiführe? Mein Großvater, meine Mutter, Elsie und William, meine Cousinen und mein Vetter, mein Bruder und ich selbst — alle in einem Wimpernschlag ausgelöscht. Ich brauchte nur einzugreifen und Victors Verbrechen zu verhindern. Aber kann man die Geschichte wirklich verändern? Oder waren alle meine Überlegungen nur die Wahnvorstellungen eines Menschen, der seit Tagen nicht gegessen und geschlafen hat und sich am Rande des nervlichen und körperlichen Zusammenbruchs befindet? Woher sollte ich das mit Sicherheit wissen?

Das Klopfen von oben weckte mich. Ich lag auf dem Boden in der Mitte des Wohnzimmers. Ich brauchte einen Moment, um die Orientierung zu finden, und als ich mich aus meiner Benommenheit befreit hatte und das Klopfen aus dem oberen Stockwerk hörte, fragte ich mich, ob es von Großmutter kam, die mich brauchte, oder von einem Besucher aus der Vergangenheit. Mit Mühe stand ich auf und torkelte zur Tür.

Im Flur war es dunkel. Die Treppe schwang sich in eine Finsternis hinauf, die mir schwärzer und undurchdringlicher erschien als je zuvor. Die Stille war beinahe greifbar. Sie beengte mich und machte mir das Atmen schwer. Bei jedem Schritt aufwärts mußte ich keuchend um Atem ringen; mein Körper rebellierte gegen die Kraft, die ihn vorwärts trieb. Und bei jedem Schritt dachte ich, wenn ich recht habe und Victor nur zurückkommt, um grausame Rache zu nehmen, werde ich dann dabeistehen und zusehen können, wie er die Menschen quält, die ich lieben gelernt habe, oder werde ich den Mut haben, einzugreifen und das Unglück abzuwenden und damit mich selbst auszulöschen? Als ich das Ende der Treppe erreicht hatte, lehnte ich mich schwer atmend an die Wand. Die Luft erschien mir dünn und eisig hier oben, als wäre ich in polare Zonen hinaufgeklettert, und während ich dastand und meine Kräfte sammelte, dachte ich weiter: Und wenn ich es schaffe einzugreifen, wie wird es vor sich gehen? Ich habe erfahren, daß ich nun feste Form für diese Menschen angenommen habe und mit ihnen sprechen kann. Bei der nächsten Begegnung werde ich ihnen noch realer erscheinen. Wie also werde ich die Wahnsinnstaten Victors verhindern? Wird allein schon mein Anblick, wenn ich ihm plötzlich erscheine, ihn abschrecken? Werde ich ihn lange genug zurückhalten können, um Jennifer Gelegenheit zu lassen, sich zu retten? Wie werde ich es anstellen?

Ich drehte mich um und spähte durch den dunklen Korridor. Das Klopfen kam natürlich aus dem Vorderzimmer. Im Schlafzimmer meiner Großmutter war alles still.

Ehe ich den unvermeidlichen Weg antrat, dachte ich, und was ist, wenn ich mich täusche? Was ist, wenn Victor als Geschlagener nach Hause kommt, der nichts sucht als Trost und Liebe? Was ist, wenn ich einen Akt der Liebe verhindere? Wenn ich die falsche Entscheidung treffen sollte?

Tausend Fragen und keine Antwort. Ich konnte nur den Flur hinuntergehen, in das Schlafzimmer treten und dem Schicksal fürs erste seinen Lauf lassen.