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Warum Tel Aviv von oben bis unten nach Orangen riecht
Die Sonne steht schon tief, daher leuchtet der Strand von Tel Aviv besonders golden und die ansonsten betonweißen Hotelhochhäuser haben einen versöhnlichen Sepia-Ton angenommen. Es ist die Stunde, in der junge Tel Aviver aus den Büros kommen und sich an den Strand setzen, sich eine Wasserpfeife oder ein Bier genehmigen. In der junge Mädchen nach den knackigen Volleyballspielern vor dem „Hotel Dan“ Ausschau halten und reifere, einsame Mädchen ihren Hund am Wasser spazieren führen, leise hoffend, angesprochen zu werden. Denn es ist auch die beste Stunde, um eine Begleitung für den Abend kennen zu lernen, egal wie alt man ist und wie man aussieht. Der durchtrainierte Soldat mit den schwarzen Locken flirtet mit der blassen, übergewichtigen Touristin, der Rentner in den roten Badeshorts wirft sich in Pose, wenn eine Gruppe amerikanischer Schülerinnen ihn bittet, ein Erinnerungsfoto von ihnen im Bikini zu knipsen, und eine Familie bringt zu jedem Sonnenuntergang ihren behinderten Sohn an den Strand, der dann kreischend in den Wellen hüpft und, bevor die Sonne ganz weg ist, vom Papa trocken gerubbelt wird. Die Stunde vor dem Sonnenuntergang ist der Angelpunkt des Tel Aviver Tages, denn die Hitze hat sich schon hinaus ins Universum verzogen, die Arbeit ist vorbei, und die Nacht, in der getanzt und im Restaurant beisammen gesessen wird, ferngesehen oder die Tante besucht, hat noch nicht begonnen. Der Morgen ist eine ganze Generation weit weg. Nie ist das Leben in Tel Aviv so federleicht und wunderbar wie in dieser Stunde.
Fünf Kilometer weiter südlich, in Jaffa, ist es genau umgekehrt. Wenn hier die grünen Lichter der Minarette zum abendlichen Gebetsruf aufleuchten, herrscht in der Altstadt Hochbetrieb. Man erwacht aus der Siesta, die wegen der Klimaanlagen eigentlich längst überflüssig geworden ist, und summt und brummt durch die Gassen. Der Stau ist nur morgens, wenn die Leute zur Arbeit fahren, ebenso heftig: Eine dicke, nervös hupende, endlose Autoschlange drückt sich durch die schmalen Straßen, es wird aus heruntergekurbelten Fenstern geschimpft, Fußgänger suchen sich ihren Weg, Mofas pflügen durch die Massen. Wer am geparkten Wagen seinen Seitenspiegel nicht freiwillig einklappt, hat hinterher keinen mehr. Während die Besucher vom Altstadthügel aus die Aussicht auf die nunmehr honigfarbene Skyline von Tel Aviv bewundern, den Fischer- und Kanonenbooten auf dem Meer hinterher schauen und über den Platz vor der alten Kirche flanieren, geht es für die Bewohner von Jaffa ums Ganze, nämlich den Einkauf für das Abendessen. Jetzt, sofort, denn wer den halben Tag getrödelt hat, will zumindest wenn’s ernst wird, keine Zeit mehr verlieren. Aus den dünnen, raschelnden Plastiktüten, die sich in Rudeln um die Handgelenke der Einheimischen ballen, ragen Lauchstangen, Büschel frischer Kräuter, und sehr große Sesam-Gebäck-Kringel. Die meisten Geschäfte sind natürlich in der hektischsten Straße, durch die sich die Autos besonders intensiv hupend schieben, wo röhrend Gas gegeben und keifend für die Fußgänger abgebremst wird, und an deren Ende sich die Geister scheiden. Wohin soll es gehen, am Kreisverkehr mit dem alten Uhrturm? In die seit 4000 Jahren bewohnte Altstadt von Jaffa? In die Neustadt, wo hauptsächlich Araber leben und arbeiten - oder doch zurück nach Tel Aviv, der strebsamen Pionier-Siedlung, die sich in nur einem Jahrhundert von ein paar Hütten in den Dünen zur Metropole aufgeschwungen hat und so anders ist als das kleine Nachbardorf Jaffa, das Tel Aviv inzwischen umwachsen hat wie ein Baum manchmal eine Madonna umschließt, die jemand in einem Astloch aufgestellt hat?
Seit biblischer Zeit war Jaffa der große Hafen der Gegend, dann geschlagen von Caesarea, das die Römer weiter nördlich anlegten, und später von Akko, dem Kreuzfahrerhafen, durch den die Eroberer und Glücksritter hinein und die Schätze des Landes mit den Gescheiterten und den reich Gewordenen hinaus geschleust wurden. Früher aber führte kein Weg vorbei an Jaffa, man nannte es Joppe, Yapu und Jafo, baute Mauern gegen die Feinde aus Ägypten, wurde dennoch von Ägypten erobert, bis dann eines Tages die Israeliten vorbeikamen. Noahs Sohn Jafet war der erste, der sich auf dem Felsen an der Küste niederließ, und Plinius wusste noch genau wann: Vierzig Jahre nach der großen Sintflut. Seitdem hat Jaffa viele Gäste und Eroberer kommen und gehen sehen, Phönizier und Philister, Römer und Ägypter, Richard Löwenherz und Saladin, Osmanen und Briten. Geblieben sind die Israeliten, die Araber und einige Christen. Sie alle haben ihre eigenen Sitten mitgebracht und Spezialitäten aus aller Welt, die in den kleinen Lokalen von Tel Aviv und Jaffa nun allen schmecken, die schon da sind, die gerade kommen, eben gehen wollen oder nur einmal vorbei schauen. Im 16. Jahrhundert brachte jemand eine exotische Pflanze mit, eine Art Apfel mit ziemlich harter Schale, der aber ziemlich gut wuchs und ziemlich lecker und erfrischend war, zumal in der Hitze ohne Klimaanlage.
Diese Orangen fand auch die Tempelgesellschaft, eine christliche Sekte, lecker, die sich 1871 auf dem kleinen Landgut Sarona nördlich des arabischen Hafens festsetzte und allerlei Pflanzen anbaute und weiter verkaufte. Das Markenprodukt „Jaffa Orange“ war ihre Spezialität und als solche verkauften sie die Frucht nach Europa. Als die Engländer wenig später vorbeikamen, war es aus mit der kleinen Siedlung, sie wurde geräumt, geplündert und zerstört. Aber die Araber und Juden verzichteten nicht auf die Zitrusfrucht und bauten sie weiter an - denn auch den englischen Besatzern schmeckte die Frucht.
Wie überhaupt alle Geschichten aus dem Land, das heute Israel heißt, kann man auch die mit der Orange ganz anders erzählen. Dann geht sie so: Wie die hebräischen Schriftgelehrten überliefern, waren es die alten Makkabäer, die als erste Zitrusfrüchte in Jaffa anbauten. Damals in Jaffa, zur Römerzeit in Caesarea. Die arabischen Eroberer brachten die Baladi-Frucht mit, eine Bitterorange, als erste einer ganzen Invasion von Orangensorten in den kommenden Jahrhunderten. Die Früchte wurden in den Gärten von Jaffa so gut gehegt und gepflegt, dass schon Napoleon die Qualität der Jaffa-Orangen pries und sie eine Zierde der europäischen Aristokraten-Tafeln wurden. Die moderne Jaffa-Orange, eine Mutation der Baladi-Frucht, wurde zum Exportschlager des 19. Jahrhunderts. Es waren die zionistischen Pioniere, die in Petah Tikva bei Jaffa und unweit des späteren Tel Aviv die erste moderne Orangenplantage anlegten und damit die Lebensgrundlage für die ersten Siedler legten. Die Briten waren die besten Kunden. Fünfundsiebzig Prozent des Exportes aus dem Land im Osten des Mittelmeeres waren Zitrusfrüchte.
Weil die Engländer, wie meine Erfahrung lehrt, gerne Süßgebäck essen, erfanden sie dann auch schnell den Jaffa Cake, einen zarten Bisquit-Kreis, mit kräftigem Orangen-Gelee belegt und mit knackiger Schokolade überzogen. Er hat nur die Größe eines Kekses, ist aber dennoch ein Kuchen, entschied ein britisches Gericht 1991. Wegen seines für einen Keks viel zu hohen Feuchtigkeitsgrades, was eigentlich egal wäre, wenn im britischen Handel Kekse und Kuchen nicht mit einem unterschiedlichen Mehrwertsteuersatz belegt wären. Kuchen -in England Grundnahrungsmittel - ist steuerfrei. Das finden die Keks-, hoppla, Kuchenfabriken, deren größte im Jahr 750 Millionen Jaffa Cakes produziert, natürlich fein.
Während des Zweiten Weltkrieges wollte niemand Obst aus Israel haben - da sind sich alle Geschichten überraschend einig. Danach aber wurde die Orange wieder gerne gegessen. Die Briten zogen aus dem Mittleren Osten ab, die Israeliten und Araber hatten das Heilige Land wieder für sich, und verkauften weiter ihre Orangen in die ganze Welt. „Jaffa“ ist heute ein eingetragenes Markenzeichen für Früchte, und jedes Jahr wird eine Million Tonnen der leckeren Frischmacher geerntet -fünfundachtzig Prozent davon gehen ins Ausland. Aber auch in den Supermärkten im ganzen Land liegt das Obst mit dem kleinen grünen Aufkleber „Jaffa“.
Man könnte die Geschichte noch einmal ganz anders erzählen, so ähnlich wie die mit dem kleinen Bären und dem kleinen Tiger, die eine leere Bananenkiste mit der Aufschrift „Panama“ im Fluss finden und beschließen, dass Panama ein Land ist, das von oben bis unten nach Bananen riecht. Sie ziehen los, um es zu suchen, laufen im Kreis und entdecken schließlich ihre alte Heimat neu, ohne es zu merken, beziehen in trauter Eintracht ihre alte, inzwischen leicht ramponierte Hütte, renovieren sie und genießen das Leben. Die Heimat riecht zwar nicht nach Bananen, aber sie ist perfekt für die beiden unterschiedlichen Charaktere. Janosch, der Autor dieser Geschichte, findet: „Jeder lebte schon immer im Paradies, er hat es nur nicht gewusst.“
In der Stunde vor Sonnenuntergang riecht es in Jaffa genauso wie Tel Aviv: Nach Auspuff, nach heißen Snacks aus den Imbissbuden und ein wenig nach Strand und Meer. Ziemlich paradiesisch also, und doch sehr heutig. Und in der Stunde vor Sonnenuntergang ist der Lebenslust-Pegel in beiden Orten gleich hoch.
Auch in der Bäckerei von Said Abouelafia in der Ladenstraße von Jaffa ist Hochbetrieb. Von hier kommen all die Rascheltüten mit den Sesamkringeln, den Fladenbroten, den kompakten Brötchen mit der Knusperrinde. Der Geruch des frischen Brotes weht so intensiv aus der Backstube, dass er die Auto-und Mopedabgase überdeckt. Die Backstube ist nach vorne zur Straße offen, es gibt keine Tür, sondern ein Verkaufstresen über die ganze Breite des Ladens erstreckt sich direkt am Gehsteig entlang. Verkauft wird direkt von den Blechen weg, und nur, was nicht sofort über den Tresen geht, wird in kleinen Vitrinen aufgestapelt. Der Ruf der Bäckerei von Jaffa reicht sogar noch weiter als der Duft des frischen Gebäcks, der immerhin die ganze Straße erfüllt. Jeder, der einmal eine Nacht in den Clubs von Tel Aviv durchgefeiert hat, erzählt „vom Bäcker in Jaffa“. Wer vom Tanzen erschöpft ist, landet unweigerlich am Strand und wandert wie magisch angezogen nach Süden, wo ihn in der Morgendämmerung eben jener Duft nach Brot empfängt. Er wird sich bei Said Abouelafia und seinen Söhnen die erste Mahlzeit des neuen Tages holen, die vielleicht nicht den Kater vertreibt, aber zumindest neue Kraft gibt, um die Bushaltestelle zu finden oder sogar zurück zu wandern, wieder auf die weißen Hochhäuser zu. Ach, der Bäcker in Jaffa ... so seufzen die ehemaligen Austausch-Studenten und Urlauber, die Club-Gänger und auch die Rucksack-Traveller, die am Strand übernachtet haben.
Ein Vater hat seinen Sohn auf die Schultern genommen, damit der sich aussuchen kann, was gekauft wird, Frauen mit Kopftüchern drängeln sich ebenso am Tresen. Seit 1879 geht das schon so, verrät das Schild über der Backstube. Die beleuchteten Glasmosaike mit Kamelen und Beduinen verweisen auf die noch viel ältere Tradition des Arabischen an der östlichen Mittelmeerküste. Es dauert, bis man ganz vorne ist, und der Hunger wird größer, wenn man nur noch eine Glasscheibe von den Spezialitäten entfernt ist. Trotzdem, Zeit für ein Experiment ist immer: „Einen Jaffa-Cake, bitte!“ Der junge Verkäufer hat für Firlefanz keine Zeit. „WAS?“, fragt er scharf, als hätte er nicht verstanden. „Jaffa-Cake!“ - „Ja, hier, alles Cakes, alles Gebäck! Was wollen Sie denn jetzt?!? Süß? Oder mit Käse? Sesam?“
Entweder, er hat den Spruch schon tausendmal gehört, oder die maschinell gefertigten Kekse aus dem Supermarkt liegen seinem Geist so fern, dass er nicht im Traum darauf kommen würde, jemand könnte sie bei ihm bestellen, wo er doch der Herr über all die Fladen und Kringel, die gefüllten Teigtaschen und verführerisch glänzenden Süßwaren ist. Das ist unglaublich erfreulich. „Geht das nicht schneller?“, schimpft ein alter Mann von hinten, der schon einen kleingerollten Schein in der Hand hat. „Dann bitte einmal Samosa mit Pizzafüllung ohne Schinken, zweimal Pita mit Zatar und einmal Sesambrot.“ Zack, ist alles in der Rascheltüte und der knurrige Alte ruft schon seine Bestellung über den Tresen.
Es ist längst dunkel, als der Stau nach Tel Aviv das Auto endlich wieder frei gibt. Da duftet es schon im ganzen Wagen nach frischem Brot, Kräutern und Käse. Israel riecht nicht von oben bis unten nach Orangen, nicht einmal der kleine Ort Jaffa, und Jaffa Cakes gibt es auch nicht. Aber, genau deshalb: Oh, wie schön ist Israel!