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Wie ein Dorf auf den Hund kam
Niemals, niemals darf eine Reisereportage mit der Schilderung der Fahrt vom Flughafen in die Stadt beginnen. Nur wenige Orte auf der Welt rechtfertigen einen Einstieg mit der Anreise. Entweder weil es UnOrte sind, an denen man nie wirklich ankommen kann und daher von ihnen auch nichts zu berichten hat (wie etwa die englische Stadt Swindon, deren einzige Merkwürdigkeit ein komplexer Kreisverkehr ist) oder weil es die Anreise als solche ist, die das Wesen des Ortes bestimmt. Die erste Kategorie ist so häufig, dass es nicht wert ist, über die einzelnen Orte zu berichten.
Die zweite Kategorie ist so selten, dass es verwunderlich ist, wie wenige Reportagen über diese Orte geschrieben werden. Es mag daran liegen, dass die Reise im Vordergrund steht und nicht das Innehalten am Ort selbst. San Bernardino in der Schweiz ist so ein Fall. Sie fahren und fahren, vermutlich schon eine ganze Weile, wenn Sie dort ankommen, und haben dann auch noch einen weiten Weg vor sich bis zu ihrem eigentlichen Ziel. Dann ist San Bernardino nur ein Punkt auf der Route nach Italien oder Südfrankreich. Schon kurz nach der Grenze zu Österreich ist San Bernardino als Grobrichtung angezeigt, aber bis dahin passieren Sie noch die Ausfahrten nach Vaduz, ins Heididorf, nach Thusis, und sehen Glamouröses verheißende Wegweiser nach Davos und St. Moritz. Während Sie auf eine Wand aus Bergen zufahren, deren Spitzen auch im Sommer schneebedeckt sind, wird die Straße, die eigentlich als Autobahn in der Karte eingezeichnet ist, immer kleiner und windiger. Schließlich kringelt sie sich steil, kurvig und einspurig das Gebirge hinauf. Wenn Sie Glück haben, ist nur ein Wohnmobil vor ihnen oder ein Milchtransporter. Wenn Sie Pech haben, ist es ein überbreiter Schwertransport, der eine Caterpillar-Raupe geladen hat und damit aus unerfindlichen Gründen über die Alpen will. Mit gemächlichen fünfzig Stundenkilometern örgelt der dann vor Ihnen die Straße hinauf, und Sie haben sehr, sehr viel Zeit und Muße, in die Schluchten zu blicken, auch im Hochsommer nach Schneefetzen in der Landschaft Ausschau zu halten, die Staumauer eines Sees zu bewundern und eigenartige BetonTürme, die irgendjemand in dieser Höhe gebaut hat. Kurz vor dem Tunnel können Sie überlegen, ob sie lieber über den Pass fahren, aber das macht dann natürlich doch niemand. Im Tunnel selbst darf man ohnehin nur achtzig fahren, was machen da noch ein Huckepack-Caterpillar oder ein Wohnmobil.
Vor lauter Begeisterung, am anderen Ende des Tunnels in der italienischen Schweiz und damit offiziell im Süden zu sein, geben Sie Gas und achten keine Millisekunde auf die Ausfahrt, die in das Dörfchen San Bernardino führt, sondern sehen nur nach vorn, wo es abwärts geht, raus aus den Alpen. Dann sehen Sie auch, dass alles viel schlimmer sein könnte, nämlich, wenn man der Gegenverkehr des Schwertransports ist und von der Polizei gestoppt warten muss, bis das Tunnelmaul endlich, endlich den Superlaster freigibt. Der Stau zieht sich weit hinunter in Richtung Comer See, die Leute gehen schon auf der Straße herum, telefonieren, lassen Kinder am Seitenstreifen herumlaufen. Diese Menschen brauchen dringend Trost und Unterstützung. Am besten durch einen tapsigen, geduldigen Hund mit einem Schnapsfässchen um den Hals. Aber darauf können die Reisenden, die am San-Bernardino-Pass im Stau stehen, lange warten. Nicht einmal die gelben Blechhunde kommen vorbei, um Tee zu bringen. Die Alpen zu überqueren ist Alltag und Privatvergnügen, kein Abenteuer und keine besondere Leistung mehr, und wer im Stau steht, hat Pech gehabt.
Was müssen Sie tun, um in San Bernardino von einem Samariter-Bernhardiner gerettet zu werden? Geben Sie dem Dorf San Bernardino eine Chance. Versuchen Sie es auf dem Rückweg von der anderen Seite, nicht getrieben vom Erlebnishunger auf die bevorstehenden Ferien, sondern satt vom mediterranen Essen und den Ereignissen der schönsten Zeit des Jahres. Staunen Sie bei der Anfahrt, wie die tapferen Bronzezeitleute auf die Idee kamen, ausgerechnet am Ende dieses immer schmäler werdenden Tales könnte ein Übergang über die großen Berge zu finden sein. Bewundern sie die wackeren Baumeister des Mittelalters, die auf den Felsen von Mesocco, der das Tal wie ein Korken zu verschließen scheint, eine Festung und eine Kirche gebaut haben. Wundern Sie sich über den Landwirt, der sich schottische Hochlandrinder angeschafft hat und sie auf den letzten Wiesen des Tales weiden lässt. Kurbeln Sie in aller Ruhe die Serpentinen hinauf, riskieren Sie einen Blick auf die kleinen Steinschuppen, die scheinbar sinnlos in den Steilhang gebaut sind und ein wenig aussehen wie Hundehütten. Fühlen Sie sich wie auf einer Expedition, denn nur Abenteurer in Not werden vom großen Hund gerettet, nicht diejenigen, die schneller unterwegs sind, als der Vierbeiner laufen kann.
Stürzen Sie sich nicht gleich in den gähnenden Rachen des Tunnels, sondern entdecken Sie San Bernardino Villagio. Wenn der Wind durch die Tannen in der Senke fährt, in die sich das Dorf kuschelt, rauschen sie wie das Meer. Erhöht, aber noch an der Hauptstraße thront die Kirche des Heiligen Bernhard. Der Piz Ucello leuchtet milchschokoladenfarben, an der Dorfstraße verkaufen nette ältere Leute Käse aus einem Hauseingang heraus. Honig, Marmelade und frische Kuchenteilchen gibt’s an einem Stand. Vor den Gasthäusern trinken die Bergfreunde Kaffee, die Kinder des Dorfes grüßen artig die alte Dame am Käsestand. Schilder weisen den Wanderern den Weg: Zwei Stunden zur Passhöhe mit dem alten Hospiz, fünf Stunden zum Alp de Rog, vier Stunden zum Nufenen.
Aber sehen Sie noch genauer hin, lassen Sie sich Zeit, die Weiterreise kann noch einige Minuten warten. Versuchen Sie, die Kirche zu besichtigen, über deren Portal so vielversprechend „Divo Bernardino“ steht. Die Tür ist abgesperrt. Dafür liegt auf der Straße unterhalb der Stufen so viel Hundedreck, dass Sie darum herum einen Spitzentanz machen werden. Das Hotel „National“, laut Gedenktafel im August 1858 die Herberge des Herzogs Camillo Benso di Cavour, einer der Befreiungshelden Italiens - verrammelt, verschlossen. Das Lokal „Internazionale“ am anderen Ende des Ortes - ebenfalls eine Ikone der Tristesse. Der Hauseingang, in dem der Käse zum Verkauf liegt, ist in Wirklichkeit ein heruntergekommener Kramerladen. In der Touristeninformation hängen Plakate aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als Skifahren in San Bernardino schick war, eben aus der Zeit, aus der die meisten Häuser an der Hauptstraße stammen. Sehen Sie die Hunde an, die die Kinder spazieren führen. Das Dorf ist ganz und gar grauenhaft. Es ist einer jener zahlreichen und zu Recht unbekannten Skiorte in den Alpen, die alles falsch gemacht haben. Chance auf Rettung? Verpasst. Der brave, treue Bernhardiner, eines der Ursymbole der Schweiz, wohnt hier nicht mehr.
Wundern Sie sich, wie San Bernardino auch sein letztes Kapital verspielt. Rottweiler, Zwergpudel, Malteser und ein Beagle laufen auf der Straße herum. Ein russisch sprechender Gast führt gar einen Staffordshire-Terrier spazieren. Auf dem Schild, das Gäste dazu anhält, ihre Hunde anzuleinen, ist ein Dobermann als Piktogramm abgebildet. Auf dem Tütenspender für Hundekot der Kopf eines Scotchterriers. Kein Wunder, dass den niemand nutzt und die Haufen einfach liegen bleiben. Blicken Sie in das Souvenirgeschäft, das aussieht wie ein sparsam bestückter Lebensmittelladen im alten Ostblock. In einem Körbchen sitzen kleine Bernhardinerhunde aus Plüsch, die Auswahl an grienenden Plüschkühen ist jedoch beträchtlich größer. Die zwei großen Stoffbernhardiner im Schaufenster sind in Plastik eingepackt - offensichtlich werden sie so selten nachgefragt, dass sie ohne Verpackung verblassen würden wie der Charme ihres Heimatdorfs. In dem sind sie nicht mal ursprünglich beheimatet, sie tragen nur dessen Namen. Der Hund mit dem Fässchen, der Bernhardiner, kommt aus dem Ospizio San Bernardino (zwei Stunden Wanderung) und wurde im Mittelalter gezüchtet, damit die Mönche dort oben nicht so allein und schutzlos waren. Im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts soll von dort aus der Lawinen-Bernhardiner „Barry“ ganzen 40 Menschen das Leben gerettet haben. Das Hospiz gibt es noch, man kann dort im Sommer, wenn der Pass freigegeben ist, für ein paar ruhige Tage einkehren oder als Motorradfahrer eine Pause einlegen, aber die Hunde sind längst keine Retter mehr. Auch mit dem Bernhardiner Hund hat man das gemacht, was man dem Dorf angetan hat: Blinden Auges in die Unbrauchbarkeit geführt und dann als zu träge abgeschrieben. Der Rassehund ist zu massiv, um noch als Retter zu dienen, groß und schwer, triefäugig und träge, aber vor allem freundlich. Das nutzt ihm wenig. Auch er ist nicht zu retten, denn kaum jemand will ihn haben.
San Bernardino selbst hat sich und den Hund offensichtlich abgeschrieben. Der neue Hochseilgarten - ein Versuch, sich wie ein Ertrinkender an einen Trend anzuhängen, der aber eigentlich schon wieder vorbei ist. Klettergärten gibt es fast überall. Steigen Sie ins Auto, fahren Sie auf die andere Seite des Berges, nach Graubünden, wo das Gras grün ist und man keine Lust hat, sich selbst und das berühmteste Wesen, das man je hervorgebracht hat, aufzugeben: Heidi. Diese Romanfigur ist heute lebendiger als der Bernhardiner.