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Vom Versuch, die britische Süßwarenwelt aufzumischen
Das Wetter und das Essen - zwei der Gründe, die viele Menschen viel zu lange von einer Reise nach England abhalten. Schuld ist, zumindest in Bayern, vor allem der Volksschauspieler Walther Sedlmayr, der mit seinen Reisereportagen in den 70er und frühen 80er Jahren eine ganze Generation prägte, die selbst noch nicht reiseerfahren war, aber ihren reiselustigen Kindern ganz, ganz schlaue Ratschläge mitgab, die sie aus Sedlmayrs Reportagen hatten. Etwa, dass man ein englisches Sandwich, wenn es fertig belegt ist, am besten wegschmeißt. Und dass die Engländer verschroben sind, Melonen tragen und lauwarmes Bier trinken. „Aber der Tee ist gut“ - diesen Spruch durfte ich mir in meiner Jugend gefühlte tausend Mal von meinem Vater und meiner Großmutter anhören, nämlich immer dann, wenn es darum ging, dass ich gerne mal nach England fahren wollte. „Aber der Tee ist gut.“ Und dann gings doch wieder nach Italien oder Jugoslawien. Ich war mir von Anfang an sicher, dass es in London toll ist, die Sandwiches bestimmt lecker sind und das Wetter nicht schlechter als in München.
So war es dann auch, als wir zu Ostern 1989 dort waren, meine Eltern und ich, ein Geschenk zur Firmung. Das schlechteste Essen haben wir im Flugzeug bekommen, kalte Bratwürstchen von PanAm, die einem eine alte Schabracke mit gummibehandschuhter Hand auf das Klapptischchen knallte. In London aber: ausgezeichnetes indisches und chinesisches Essen, viel indischer und chinesischer als in München. Im Sandwichladen an der Fleet Street konnte man sich Brot und Belag schon damals nach Geschmack zusammenstellen lassen. Und erst die Wunderdinge im Supermarkt: Keksregale voller unbekannter Köstlichkeiten, gefüllte Apfelküchlein, Marmeladentörtchen, dicke Kekse mit Marshmallow-Kokos-Schäumchen, Kekse mit dicker Cremefüllung und Kristallzucker oben drauf. Da gab es den fantastischen Riegel „Terry’s Chocolate Orange“ mit Orangengeschmack, den erstaunlichen Riegel „Flake“ aus Schokoladenraspeln, Riegel mit Keksteil und Rosinen, Kartoffelchips mit dem Namen „Golden Wonder Pickled Orange Flavor“. Der Riegel „Rowntree’s Secret“ bestand aus einem Karamell-Candy-Mousse-Kern, der mit Schokoladenfäden umsponnen war. Mein Koffer war bei der Heimreise voller Süßigkeiten, und mir war klar: Da komme ich noch öfter hin. Natürlich auch wegen der Sehenswürdigkeiten und der tollen Geschäfte.
Allerlei Ferienjobs und ein Jahr später war ich wieder da, nicht in London, sondern bei Ron und Dorothy im Dörfchen Byfield in den Midlands, in der Nähe von Banbury und nicht all zu weit weg von Stratford upon Avon. Gutes altes, englisches Kernland. Meine Freundin Tine war auch dabei und mein Banjo. Dort lernten wir die Hochs und Tiefs der englischen Dorfküche kennen. Hier sah die Welt schon ein bisschen anders aus. Es gab keinen Supermarkt, sondern einen Kramerladen namens „Acorn Store“, dessen Angebot aber nicht minder super war. Und einen Pub, in den wir aber nicht hinein durften. In der Umgebung liegen Örtchen wie Fenny Compoton, Bishop’s Itchington und Priors Hardwick, deren Namen klingen, als stammten sie aus Monty Python’s „Flying Circus“, und einen See namens Boddington Reservoir, eingerahmt von den Dörfern Upper und Lower Boddington, um den man mit dem Haushund Alice herumwandern konnte. Alternativ gingen wir mit Alice auch in die Felder hinter Byfield, zu einem halbverfallenen Steincottage auf dem Hügel, das von wilden Brombeersträuchern umrankt war. Von dort konnte man die Fachwerk- und Ziegelhäuschen von Byfield in die sattgrüne Landschaft gekuschelt sehen. Tatsächlich, ein Dorf wie aus einem Kitschfilm, british as can be.
Und so war auch die Küche. Lasagne aus dem Supermarkt, Fleischeintopf, Schweinekoteletts mit Minzsauce, Chicken Caserole (in Gemüse zerkochte Hühnchenbeine). Wir machten auch die Bekanntschaft mit Spam, einem quietschrosa Formfleisch aus der Dose, das es gebraten zu Erbsen gab. Danach wurde später der E-Mail-Müll benannt. Der sehr freundliche und langmütige Haushund Alice hat uns aber dankbar von den unverzehrbaren Resten des Spam erlöst. Shepherd’s Pie, graues Hackfleisch mit Kartoffelbrei überbacken, wollte nicht mal Alice fressen. Lauwarmes Cornedbeef mit Kartoffelbrei war auch nicht jedermanns Lieblingsessen. Einmal nahm uns Dorothy mit zum „Old People’s Lunch“ in die Mehrzweckhalle des Dorfes, da gab es aus der Gulaschkanone Steak and Kidney. Dieser Fleisch-Nieren-Eintopf gehört bis heute zum Scheußlichsten, was ich je auf meinem Teller hatte. Nicht nur in Lage und Lebensweise, auch die Küche Byfields entsprach dem England, das heute so gerne in Rosamunde-Pilcher-Filmen schöngezeichnet wird.
Angesichts so vieler Abscheulichkeiten fällt es dem England-Unkundigen leicht, zu glauben, dass auch der fieseste Kuchen, den die Welt kennt, aus England kommen muss und daher Englischer Kuchen heißt. Den Brocken aus der Kastenform mit den hartplastikartigen Citronat-Brocken, den schleimigen Rosinen-Einschlüssen, dem Geschmack geschredderter Zeitung und der Konsistenz des Grindes, der sich unter 20 Jahre alten Teppichfliesen bildet, dieses Monstrum also, das bei uns unter dem Namen Englischer Kuchen angeboten wird, würde keine englische Hausfrau über ihre Schwelle lassen.
Denn was sie beim Hauptgericht vermasseln, machen die Engländer beim Nachtisch und Süßgebäck wett. Apple Crumble, ein Duett aus frischen, säuerlichen Äpfeln mit ZimtButterstreuseln. Hot Cross Buns, flauschiges Frühstücksgebäck aus Hefeteig. Meringue with Cream and Fruit, diese Wolke aus weichem Baiser mit Extras dazu. Trifle, der perfekte Nachtisch aus Schichten von Fruchtgelee, in Sherry getränkten Keksen, Vanillecreme und Sahne. All das belohnte uns Reisende für Spam und Kidney. Schon allein die Aussicht auf Nachtisch, der irgendwo in Dorothys Küche versteckt sein musste, ließ auch den Shepherd’s Pie halb so schlimm erscheinen. „No matter where I serve my guests, I think they like my kitchen best“ hing als gerahmtes Stickbild über Dorothys Herd: „Egal, wo ich meine Gäste bewirte - in meiner Küche gefällt es Ihnen doch am besten.“
Tatsächlich ist England auch außerhalb der Dorfküchen ein Süßgebäck-Paradies. Der Englische Kuchen deutscher Nation ist dagegen nur ein plumpes Imitat aus Backstuben, die normalerweise überreiche Sahnetorten, Streuselkuchen oder vor Gelee triefenden Obstkuchen herstellen. English Tea Cake, ein leichter, dezenter und dennoch feiner Kuchen, ein enger Verwandter unseres Standard-Rührkuchens, kann gelegentlich mit ein paar Rosinen verfeinert sein, aber ebenso gut mit frischen Kirschen. Teacake, und das ist etwas Spannendes an der englischen Sprache, das man erst nach einigen Reisen und viel Süßwarenkonsum versteht, Teacake kann im Grunde alles Süße sein, das man zum Tee isst. Der zarte Rosinenkuchen in der Vitrine des Tea Room ist genauso ein Teacake wie Scones, die eher an unsere Milchbrötchen erinnern, ein Muffin oder ein anderes eher schlichtes Teilchen. Pies und Tarts sind dann schon die Diven unter den Backwaren, gefüllt, verziert oder sonstwie aufgerüscht. Außer den Klassikern Apple Pie, Lemon Meringue Pie, Jam Tart, die in keinem Tea Room fehlen dürfen, hat fast jede Region ihre eigene Spezialität, wie ich in den Folgejahren mit stetig wachsender Begeisterung herausfinden durfte: Bakewell Tarts, kleine Teilchen gefüllt mit grobem Marzipan und mit Fondant überzogen. Dundee Cake, ein saftiges Früchtebrot. Chelsea Buns, besonders zarte, leichte RosinenRohrnudeln. Den Englischen Kuchen sucht man vergebens. Nur selten findet sich in besonders schlechten Tea Rooms Teacake, der ihm ähnelt, denn Zitronat und Orangeat schmecken sogar den meisten Engländern nicht, und total trockenes Zeug erst recht nicht.
Viel könnte man lernen von der Wunderwelt der britischen Süßwaren, aber nicht einmal der Starkoch Jamie Oliver, der den Ruf der britischen Köche und Küche nachhaltig verbessert hat, hat es bisher geschafft, seine Heimat als Kuchenparadies anzupreisen. Stattdessen wandern aus den USA derzeit die Donuts und Cupcakes ein, und sogar die inzwischen allgegenwärtigen Muffins aus Backpulverteig treten als Amerikaner auf, obwohl ihre Wurzeln in England liegen, in Form eines flachen Hefeteigbrötchens, das ebenfalls in die Kategorie Teacake fällt. Dieses heißt nun in Britannien English Muffin, um sich klar von den bunten, aufgeplusterten Rückwanderern abzugrenzen. Ernsthafte Konkurrenz für Pie und Tart sind sie aber nicht.
Kuchen und Süßigkeiten nach England zu tragen, ist ungefähr so sinnvoll wie Schokolade in die Schweiz zu schicken, und wird mit Skepsis, wenn nicht gar mit offener Ablehnung quittiert. Schokoladen-Ostereier, die ich bei meinem zweiten Besuch als Mitbringsel nach Byfield schleppte, blieben ungegessen als Dekoration auf dem Küchentisch liegen. Beim dritten Besuch 1994 war ich mit meiner Freundin Katrin auf dem Weg nach Schottland. Da wir mit dem Auto unterwegs waren, hatten wir ein ganz besonderes Geschenk dabei: Hermann, den Sauerteig. Für Dorothy, die doch Kuchen und Nachspeisen so liebte. Hermann, das war dieser vor sich hin fermentierende Teigbatzen, in den man alle paar Tage neuen Zucker rühren musste und der sich so stark vermehrte, dass man den daraus zu backenden Kuchen kaum aufessen konnte und Teile des Teiges wie in einem Schneeballsystem an Freunde verschenkte. Hermann, der Teig, verbrachte die ganzen 1300 Kilometer von München nach Byfield in einer mit Alufolie verschlossenen Plastikschüssel, eingekeilt hinter dem Fahrersitz meines Fiat Panda. Da wir für die Anfahrt drei Tage brauchten, fütterten wir ihn auf irgendeinem Parkplatz in Belgien sogar mit Zucker. Der Fiat Panda fuhr maximal 120 Stundenkilometer. Katrin und ich hatten viel Zeit uns vorzustellen, wie Hermann von Byfield aus ganz England erobern würde, von kuchenbegeisterten Hausfrauen von Tür zu Tür weitergegeben.
In Byfield war Hermann allerdings nicht willkommen. Mit kaum verborgenem Entsetzen betrachtete Dorothy den graugelben Teig und las den albernen „Hermannbrief“, den wir für sie ins Englische übersetzt hatten. Sie stellte ihn irgendwo in ihre Küche. Am übernächsten Tag fuhren wir weiter und Dorothy erwähnte Hermann mit keinem Wort mehr, nicht als wir bei ihr waren und niemals später. Ich denke fast, dass sie ihn kein einziges Mal gefüttert hat, sondern in dem Moment im Komposthaufen versenkte, da der Fiat Panda aus ihrer Hofeinfahrt fuhr. Es gibt also in England keinen HermannKuchen und auch keinen Englischen Kuchen - Gott sei Dank, denn beide schmecken wirklich niemandem. Nicht den Engländern, und eigentlich auch nicht den Deutschen.