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Fleisch im Goldmantel
Lieber Giuseppe“, schreibe ich im E-Mail-Fenster von Facebook, „wie geht es Dir? Vor einiger Zeit wollte ich Dir schon einmal eine Mail schicken, aber die Adresse hat leider nicht mehr gestimmt. Was machst Du denn gerade?“ Giuseppe macht immer so allerlei, das weiß ich schon, weil immer das eine, das er gerade am liebsten macht, nicht lebens- oder geldbeutelfüllend ist. Ich habe ihn bei einer Safari in Afrika kennen gelernt, und sogar bei 40 Grad Hitze hat er weder seine gute Haltung noch seinen gelben Seidenschal abgelegt, noch jemals seinen Charme. Seiner Heimatstadt Mailand hat er also alle Ehre gemacht. „Ich bin wieder zurück in meinem Bürojob“, teile ich uncharmant mit, „und nebenbei arbeite ich an einem neuen Buch. Es soll um Sachen gehen, die den Namen von Städten tragen, aber die man dann vor Ort nicht finden kann. Ich habe schon jede Menge Beispiele, suche aber immer noch mehr. Da bin ich jetzt über die Piccata alla Milanese gestolpert. Klingt das irgendwie vertraut für Dich? Existiert das? Essen echte Mailänder sowas wirklich? Ich war schon öfter bei Euch in Mailand, habe es aber nie bekommen, was natürlich daran gelegen haben kann, dass ich nur in der Art von Lokalen war, wo es Thunfisch-Carpaccio und schwarze Trüffel gab. Mailänder Salami dagegen ist mir tatsächlich schon untergekommen. Aber wenn Dir diese Piccata spanisch vorkommt - prima! Dann werde ich bei meinem nächsten Recherchetrip vorbeikommen und herausfinden, warum . Liebe Grüße! Deine Felicia!“
Die Antwort folgt postwendend: „Also, Piccata gibt es schon, aber nur ohne Milanese. Piccata heißt einfach irgend ein Fleisch mit gekochten Tomaten und Petersilie. Ein berühmtes Gericht ist aber Cotoletta Milanese, das ist ganz genau dasselbe wie Wiener Schnitzel, aber sehr berühmt und beliebt.“ Wir verabreden uns zeitnah zum Schnitzelessen in Mailand.
Mailand. Die Schein- und Sein-Stadt. Kein Wunder, dass dort sogar die Schnitzel Kleider tragen, unter falschem Namen in die Welt gehen, ihre wahre Natur unter goldglänzender Panade verbergen. Aber vielleicht ist diese Annahme über die Stadt genau so falsch wie die, dass dort eine Piccata existiert. Die Piccata alla Milanese findet sich ja zumeist in Kantinen oder auch in alpenländischen Ausflugslokalen, ein Schweineschnitzel in einem Teig aus Mehl, Eiern und geriebenem Parmesan, eben gar nicht dasselbe wie ein Wiener Schnitzel, was damit beginnt, dass Letzteres vom Kalb kommt. In Argentinien, noch weiter entfernt vom Sehnsuchtsland Italien, ist die Milanesa gar ein Rinderschnitzel in Semmelbröselpanade, wahlweise mit roter Salsa oder auch mit Spiegelei belegt. In Japan immerhin ist man weltläufig und nennt das in Bröseln panierte Fleisch artig Tonkatsu: Schweine-Kotelett. Dass man damit dem Mailänder Gericht am allernächsten kommt, ist wahrscheinlich purer Zufall. Wüsste man es, hieße der beliebte Snack sicher „Tonomilano“ (die Mailänder würden bei dem Namen eher an Thunfisch denken), aber die Japaner kommen ja zumeist nicht wegen der Speisen nach Mailand, sondern wegen da Vincis „Letztem Abendmahl“ und natürlich der Geschäfte wegen.
Außerhalb Mailands findet man alles toll, was irgendwie mit Lifestyle zu tun hat und mit der Stadt in Verbindung steht.
So feierte man in der Mode-PR-Welt frenetisch, dass in der legendären Luxusgasse Via Della Spiga eine „Swatch“-Filiale eröffnet wurde - das zeige, dass die Schweizer Plastikuhren nun im Olymp des Stils angekommen seien. Ich war bei der Shoperöffnung mit großem Brimborium und Champagnerumtrunk dabei und hörte die Mailänder murmeln, dass es mit der Luxusgasse nun bergab gehe, wenn sich so eine Filiale dort breit mache. Demnächst gebe es ja dann wohl dort auch Billig-Turnschuhe oder „Pimkie“, und das neben „Versace“, „Prada“, „Armani“, „Dolce & Gabbana“. Madonna mia! Was zum Mailänder Lifestyle gehören darf und somit einen Platz in der Via della Spiga verdient hat, möchten die Mailänder schon gerne selbst entscheiden. Mit der Piccata könnte es ähnlich sein.
In weiteren E-Mails verrät Giuseppe dann, dass er zwar gebürtiger Mailänder ist, seine Eltern aber aus Verona kommen. Und er eigentlich Seppi genannt wird. Die eine Verhüllung weg, eine andere dazu. So ist auch die ganze Stadt, als ich ankomme und vor unserem Treffen durch die Modemeilen spaziere. Die Türen der Boutiquen, ob „Prada“, „Armani“ oder „Tiffany“, werden mir von freundlich grüßenden Sicherheitsleuten aufgerissen, die nicht erkennen können, dass meine Handtasche von „H&M“ ist und der Mantel vom Flohmarkt. Die Verkäuferinnen sehen das natürlich mit einem Blick und bedienen nur auf Aufforderung. Geizig rücken sie die Waren Stück für Stück aus ihren Vitrinen heraus. Ohne Rolex am Handgelenk wäre ich wahrscheinlich stehengelassen worden. Trotzdem schaffe ich es ohne Mühe, in eineinhalb Stunden über tausend Euro für Kleinigkeiten auszugeben. Nur bei „Douglas“ werde ich freundlich und zuvorkommend bedient, obwohl ich dort das günstigste Stück des Tages kaufe, einen lächerlichen Lippenstift. Unfeines hinter feinen Fassaden findet sich in der Innenstadt aber auch noch viel unvermittelter, etwa in der berühmten Einkaufsarkade „Galleria Vittorio Emmanuele II.“, einem wuchtigen Prachtbau am Domplatz, mit angeberischer Kuppel und imposanter Fassade ist sie gleichsam die Einfallschneise in das Luxusviertel. Gleich am Eingang jedoch hat sich eine Filiale von „Autogrill“ eingenistet, immerhin italienisch, aber dem Urlauber eher bekannt als Betreiber von Autobahnraststätten, mithin alles andere als glamourös. Das Angebot umfasst unter anderem eine Theke von „Burger King“ und eine von „Spizzico“, Italiens Pizza-Schnellimbiss. Da stehe ich also an einem Essplatz am Fenster, die „H&M“-Tasche mit „Prada“-Produkten drin auf das schmuddelige Bord neben mich gestellt, esse ein „Menu PizzaPata“, das ist eine Pizzaschnitte mit Pommes und Cola dazu, und blicke hinaus auf den Domplatz. Vor dem Fenster hampeln Jugendliche herum. Neben mir steht ein dicker alter Mann, der dem Menü sogar noch eine Frucht-Torte hinzugefügt hat. Immer wieder stolzieren zwischen den Normalos auffällige Fashionistas mit den richtig großen Tüten aus der Via della Spiga vorbei. Das Unfeine, das Unpassende wird ignoriert. Wenn die Jugendlichen sich nach den Fashionistas umdrehen, registrieren sie dies nicht einmal, genauso wie die gepflegten Männer mit den glänzenden Schuhen, den feinen Schals und den teuren Brillen mich ignorieren, egal ob ich bei Autogrill im Schaufenster stehe oder einen Blick auf die Timer bei Gucci werfen möchte. Sein ist, wenn der Schein stimmt. Wenn du einfach nur Seppi aus Verona bist, hast du in Mailand wohl wenig zu melden.
Sogar der „Standa Supermercato“ nutzt diesen MailandEffekt: Im Erdgeschoss, von der Straße aus einzusehen, schön gepflegte Theken mit feinen Broten, Salaten und leckeren Snacks, die von jungen Männern in Schürzen angeboten werden. Wer aber wirklich einkaufen will, muss durch den ganzen Lebensmittel-Showroom, dann hinten eine Treppe runter in den Keller. Dann kommt der eigentliche Supermercato, eng, voll, muffig, mit riesigen Schlangen an den Kassen.
Giuseppe und ich treffen uns schließlich in Brera, im Inviertel des Zentrums, das Quartier Latin von Mailand, sagt er. Im „Café Brera“ gibt es weder Cotoletto Impanada noch Piccata. Auch seine Freunde, die er angeblich gefragt hat, haben noch nie etwas von der Piccata Milanese gehört. „Wie, ein Parmesanschnitzel mit Spaghetti und Tomatensauce soll das sein? Igitt!“ Also essen wir Kuchen, wir rauchen, trinken Vino und Café in der Sonne. In meinem neuen Kochbuch, gekauft bei „Mondadori“ in der Fußgängerzone, habe ich Ossobuco Milanese gesehen - ob er das wenigstens kenne? Sicher, sicher, das liebe er, das ist lecker, besonderes das Innere vom Knochen, das ich hasse. Nebenan wird, Gott sei Dank, Pizza Margherita serviert, Schinkenplatten, Mozzarella mit Tomaten. Bar-Essen eben. Um mir zu beweisen, dass es nicht einmal im echten, traditionellen Ristorante ein paar Häuser weiter solche Verirrungen zu essen gibt, fragt er den schmierigen Schlepper, der im Nadelstreifenanzug in der Gasse steht und die Gäste einweist. Ja, doch, doch, sagt der, das hätten sie schon, das sei ein leichtes Kalbsschnitzelchen mit Gewürzen, in Brühe zubereitet, etwas Leichtes im Gegensatz zum panierten Cotoletta, eher mediterran. Aber eigentlich nicht typisch für hier, man sei ja schließlich im Norden. Giuseppe sagt zu diesem Thema erstmal nichts mehr und meint dann, dass es hier in Brera ja doch sehr touristisch sei, schon schön, aber halt, naja, schon etwas für die Fremden.
Da ist er wieder, der Mailand-Effekt, das Schein und Sein und Zu-Sein-Versuchen. Fare bella Figura, wo man auch hinsieht. Da bietet das Lokal, das auf ausländische Gäste schielt, also doch die Piccata Milanese an, aber es ist nicht das, was man erwartet, sondern das, was das Lokal meint, das die Gäste erwarten, nämlich etwas Mediterranes, Feines, schließlich sind sie ja in Italien. Dass die deutschen Gäste, so sie denn zu Hause Kantinenesser sind, mindestens überrascht, wenn nicht gar enttäuscht sind? - Egal! Man hat schließlich einen Ruf zu verteidigen. Nicht einmal ein Schnitzelchen kommt in eine beliebige Verpackung. Das wäre so, als würde „Prada“ in der Via Della Spiga die gekauften Waren nicht mehr in Seidenpapier einschlagen, in eine weiße Kartontüte mit einer kleinen Schleife stecken und dem Kunden überreichen, sondern sie einfach wie bei „Mondadori“ in eine fiese, laut raschelnde Plastiktüte packen.
Später fahre ich mit Giuseppe durch die Stadt, da parkt er den Wagen in zweiter Reihe, springt in eine Bäckerei im 5oer-Jahre-Stil und dem Firmennamen „Panarello“ in einer Art Westernschrift über der Tür, kommt mit einer großen, weißen Papiertüte wieder zurück und sagt: „Da! Probier! Das sind Cantuncini, die besten der Welt, und überhaupt das beste, was es in Mailand zum Naschen gibt.“ Es sind kleine Blätterteighörnchen, außen zuckerknusprig, sodass ich beim Hineinbeißen erwarte, dass das Gebäck im Mund explodiert und dann mit seinen trockenen Krümeln allen Speichel im Mund aufsaugt. Aber es wäre kein Mailänder Gebäck, wenn die Hülle nicht eine Überraschung verbergen würde, in diesem Fall eine üppige Füllung aus Vanillepudding. Wir bröseln mit den Cantuncini im Auto herum, lassen die Seitenscheiben herunter und die sonnenwarme Luft streicht herein. An einer Hauswand hängt eine riesiges Werbeplakat, auf dem steht: Der Urlaub, der ihr Leben verändern wird. „O-ho!“, sagt Giuseppe, und ich sage: „Lass uns das buchen!“
Wenn ich richtiges Abendessen haben wolle, lecker und sehr italienisch und natürlich auch ein bisschen typisch mailändisch, solle ich am besten zu „I Matteoni“ gehen, sagt Giuseppe. „Brera, pfft, wer geht dort schon hin.“ „I Matteoni“ sei toll, weil es eines von drei verbleibenden Lokalen in Mailand sei, die ein Raucherzimmer hätten, und weil es ein Freund von ihm betreibe. Das Essen sei natürlich auch lecker. So. Er selbst hat keine Zeit mitzugehen, aber er zeichnet mir eine Karte, wie man dort hinfindet und organisiert eine Reservierung. Perfetto. Da sitze ich dann also, mitten in der Mailänder Samstagnacht ...
Die Matrone von Chefin, die Juniorchefin, der Kellner, alle wissen Bescheid: Das ist die Dame, die Giuseppe geschickt hat. Ich bin tatsächlich im Raucherzimmer untergebracht, natürlich die einzige allein speisende Person im Lokal. Es ist ein Ort, den nur Wissende finden können, die Fenster mit weißen Laken zugehängt, sodass es dem äußeren Augenschein nach auch eine Arztpraxis sein könnte, eine Motorradwerkstatt oder der Raum einer Kinderkrabbelgruppe. Hinter der Eingangstür sagt aber sofort die Vitrina, was gespielt wird. Sie ist voll mit eingelegten Antipasti und auf der Anrichte steht ein halb verzehrter Parmaschinken, aus dem der Knochen herausragt wie ein Schaltknüppel.
„Prosecchino!“, sagt der Kellner, schenkt ein und stellt mir einen Teller mit frittierten Bällchen hin, die auf braunem Packpapier liegen. Sie könnten aus Kartoffelteig sein, aus Fleisch oder Thunfisch, vor allem sind sie fettig, aber außen knusprig und innen fluffig. Die Pastasauce Fiorentina zur Vorspeise besteht aus derben, großen Fleischbrocken, und dann, hurra, erwarte ich die Cotoletta alla Milanese. Die soll genau so sein wie Wiener Schnitzel und nicht mediterran, weil man ja im Norden ist. Es kommt - ein frittiertes Monstrum von paniertem Fleisch am Knochen, auf Packpapier angerichtet. Ein profanes Ding, das nach Imbissbude riecht, auf der Karte aber einen stolzen Preis hat. Die Panade ist dicker als das Fleisch und tatsächlich: es ist eine richtige Wiener-SchnitzelPanade, kein Parmesan, keine Kräuter, keine Extras. Das ist ein Essen, das einen warm macht, und ich frage mich, wie die es hinbekommen, dass das Fleischteil selbst ganz dünn geschnitten ist, hinten aber ein dicker Knochen dranhängt. Es ist ehrlicher Batzen Kalorien, ohne auch nur einen winzigen Schnitz Zitrone zum Drüberträufeln. Bei diesem Ding gibt es keinen MailandEffekt, es ist so direkt wie eine Ohrfeige, so stilvoll wie ein Gummistiefel, so unmissverständlich wie ein Stoppschild. Kein Wunder, dass es kein Exportschlager wurde, denn dass sie dieses Monstrum gerne essen, behalten die Mailänder zu Recht für sich. Wie würde denn das zur Via della Spiga passen? Sie bewerben es nicht wirklich als typische Leckerei, sondern lassen die Fremden lieber glauben, dieses Ding sei identisch mit dem Ding im Eier-Käse-Teig und den Spaghetti. Wenn dann doch jemand das panierte Stück bestellt und sich wundert, kann man sich ja immer noch damit rausreden, dass es einen Unterschied zwischen Cotoletta und Piccata gebe. Ich trinke ziemlich viel Vino della Casa dazu. Statt der Rechnung legt mir der Kellner am Ende eine Rose auf den Tisch - Giuseppe habe ihm am Telefon gesagt, der Abend gehe auf ihn.
Dann stehe ich da mitten in der Mailänder Samstagnacht, beschwipst, mit einer Rose in der Hand - und allein. War das nun ein Date oder war es keins? War das doof oder süß von ihm? Will der was oder will der genau nichts? Und warum schickt er vorhin lauter SMS, ob alles in Ordnung sei, wenn er jetzt, wo ich mich bedanken will, nicht ans Telefon geht? Was ist denn da los? Schein? Sein? Die Mailänder sehen eine sehr schön angezogene Frau auf Highheels durch die Nacht gehen, mit einer langstieligen Rose in der Hand und ein paar Tränen auf der Wange. Niemand wundert sich.