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Auf der Suche nach dem Licht in einer eiligen Stadt
Graues Licht fällt in staubbetanzten Bündeln in die Jerusalemer Grabeskirche. Es sollte golden sein, wenigstens an diesem besonderen Ort, sauber und klar, bernsteinfarben, oder wenigstens gleißend hell wie draußen, dadurch im Gebäude erhaben strahlend, aber nein, es ist grau. Grau wie die Wände, die Böden, die Ecken, die Treppen und Kapellen. Grau wie ein Grab, aber grabesruhig ist es nicht, im Gegenteil, denn da an diesem Ort die christlichen Pilgerreisen aus aller Welt ihren Höhepunkt erreichen, ist auch die Aufregung am größten und mit ihr der Rummel. Niemand möchte etwas verpassen, jeder jedes Ritual für sich so intensiv auskosten, wie es nur geht, und auch jedes Foto genau so und genau dort machen, wie es ihm am besten gefällt. Also beginnt die Schubserei schon am Eingang, am Salbungsstein, dem sich die alten Mütterchen aus Osteuropa, mit frisch gestärkten weißen Kopftüchern fein gemacht, in ganz besonders buckliger Haltung nähern und ihn mit dramatischem Singsang küssen und streicheln. Wer einfach nur so mal anfassen möchte oder auch nur gucken, bekommt Ellbogen, Schultern und sogar Hinterteile zu spüren, ganz aus Versehen, natürlich. Drinnen im grauen Grabesdom braucht jeder den besten Platz für sich und seine Gruppe, den Reiseleiter und den Pfarrer. Der enge Zeitplan erlaubt keine Rücksicht auf die anderen Gruppen, die sich wie Schafherden auf der Landwirtschaftsausstellung zusammendrängen. Schließlich wartet draußen die heiligste aller heiligen Städte noch mit vielen anderen heiligen Attraktionen. Also schnell zum gespaltenen Golgathafelsen im Tiefgeschoss, gegen seine Schutzscheibe geblitzt, dass alle halb blind werden von der Reflektion, wieder rauf in die Seitenkapelle, kleine Ansprache vom Pfarrer, fotografieren, andere Gruppen aus dem Weg schubsen.
Der magere koptische Mönch an der Rückseite des Heiligen Grabes verschanzt sich in einem verschlagartigen Kapellchen, zischt die Besucher böse an und fuchtelt mit den Fingern. Keine Fotos! Aber er steht nahezu auf verlorenem Posten. In seiner Kapelle ist Kerzenlicht, warm und heimelig. So unsensibel oder gehetzt kann kein Besucher sein, dass er diesen Schein nicht wahrnimmt und in die Kapelle blickt, aber so sensibel, den kleinen Mönch nicht zu fotografieren, ist eben nicht jeder. Wer sich von seinem dauernden Gezische und Gefuchtel nicht abschrecken lässt, sieht freundliche Ikonen in seiner Kapelle und ein Körbchen, in dem der Mönch gebündelte Kerzen verkauft. Hält man ihm eine Münze hin, hört er sofort auf zu zischen, schaut den Käufer aus rehbraunen, etwas erstaunten Augen intensiv an, reicht das Kerzenbündel heraus und nickt. Währenddessen entstehen geschätzte fünfzig Fotos. Die geweihten Kerzen sind natürlich keine Souvenirs, sondern zur sofortigen Verwendung in der Kirche gedacht, indem sie alle auf einmal angezündet und in den bereits mit flüssigem Wachs getränkten Trog an der Außenseite des Heiligen Grabes gesteckt werden. Dreiunddreißig millimeterdünne Kerzen für die dreiunddreißig Lebensjahre Christi gehen zugleich in Flämmchen auf. Heller wird es unter den drückenden grauen Kuppeln jedoch nicht. Auch nicht, wenn kichernde, dicke Amerikaner versuchen, irgendwelche anderen Kerzen, die sie mitgebracht haben, so in die Wanne zu stecken, dass sie nicht gleich ausgehen oder im flüssigen Wachs untergehen.
Weil alle schon mal da sind, stellen sie sich auch an, um ins Grab selbst zu kommen. Am Eingang sind die Neuankömmlinge versucht, direkt in die Grabkammer zu rennen, aber da blockiert ein dicker griechisch-orthodoxer Mönch als Türsteher den Weg, wedelt mit seinen Wurstfingern und bedeutet: Hier nur Fotos. Reingehen heißt hinten anstellen. Weil aber nun draußen in Rest-Jerusalem noch so viel Heiligkeit zu sehen und zu erleben ist, hat im Grunde kein Mensch Lust und Zeit auf eine Stunde Schlange stehen. Immer drei Leutchen dürfen für geschätzte zwanzig Sekunden in der kleinen Kapelle vor dem eigentlichen Grab verharren, über hundert Leute stehen an, man könnte sich also auf die Zeit einstellen, aber nein, da sind die zwanzig zarten Mädchen aus Polen, die sich vordrängen, als wäre es 1989 und vorne würden Bananen verkauft. Um jeden Zentimeter in der Schlange kämpfen sie verbissen. Wer nicht weichen will, bekommt Kugelschreiber in die Rippen gepiekst und Pfennigabsätze in die Zehen gebohrt. Die großen amerikanischen Männer tun sich leichter, setzen Körpergeruch und -masse ein, um von viel weiter hinten kommend sogar noch die drängelnden Polinnen zu überholen. Und weil das in der Schlange so ist, dass man ständig von irgendjemandem überholt wird, drängeln auch alle anderen, fahren Ellbogen und Rucksäcke aus, stellen sich breitbeinig hin, furzen absichtlich, die Unterkiefer mahlen, die Adern an den Schläfen schwellen. Es liegt wohl wirklich an der Natur des Ortes, dass es nicht minütlich zu Schlägereien kommt, denn beim Einlass zum Schlussverkauf oder zu einem Rockkonzert würde bei gleicher Besetzung Blut fließen. Die Security hätte jedenfalls ordentlich zu tun. Da aber nun jeder über eine Stunde lang damit beschäftigt ist, die Aggressionen, Fremdenfeindlichkeit und Klaustrophobie in Schach zu halten, kann sich niemand auf den besonderen Moment vorbereiten, in dem einen die Schlange vorne am Gitter ausspuckt in den Vorraum der Grabeskapelle, sondern ist in den 20 Sekunden, in denen man dort sein kann, mit Einatmen beschäftigt, der Suche nach schon verloren geglaubten Gliedmaßen, Haarklammern und Gepäckstücken. Dann kniet man auch schon drinnen im Grab, höchstwahrscheinlich neben den Dränglern, denen man eben noch am liebsten den Schädel spalten wollte, und faltet die Hände, weil einem sonst nichts Besseres einfällt. Hier drinnen hat das Licht die Farbe von Tannenhonig, und sicher ist die Atmosphäre auch ganz besonders intensiv, aber spürbar wäre sie nur mit deutlich niedrigerem Adrenalinspiegel. Dann ist der Zauber auch schon wieder vorbei, die Polin wirft einem am Ausgang einen letzten giftigen Blick zu. Wenn man dann doch noch nicht aufgeben will, der Grabeskirche wirklich eine Chance geben möchte und eine kleine Bibel aus der Tasche zu holt, um darin zu lesen, blitzt es schon wieder aus fünfzig Pocket-Kameras, die die einzige Bibelleserin in der Grabeskirche knipsen und das Foto mit zurück nach Nashville und Atlanta in den Bible-Belt tragen.
„Er ist nicht hier - er ist auferstanden“, das sei ein prima Witz über die Grabeskirche, steht im „Lonely Planet“, der für die Orientierung in Jerusalem weit besser geeigneten Bibel. Gott wohnt hier nicht mehr, könnte man auch sagen. Den Devotionalienhändlern ist es egal. Die meisten von ihnen sprechen Arabisch und schauen drein, als würden sie genauso gerne Seifen, Kirschen oder Schusternägel verkaufen wie grob geschnitzte und mit Papierbildern beklebte Taschen-Ikonen, Blech-Kreuze, Plastik-Rosenkränze und Messing-Räuchergefäße. Direkt an die Grabeskirche angrenzend sind ihre Läden am glitzerndsten und vollgestopftesten, die Waren natürlich nicht nur ganz billig, aber kaum echtes Kunsthandwerk ist darunter. Freilich machen die großen Räuchergefäße etwas her, aber es kein Gold, was da glänzt, und der Metallkorb mit den Coladosen ist größer als der Ständer mit den gedruckten Reiseführern. Zwischen massengefertigten Ikonen, die es in Russland zu einem Fünftel des Jerusalem-Preises gibt, stehen siebenarmige Leuchter aus der Fabrik und grob zusammengezimmerte Kreuze, neben den „echten“ Olivenholz-Rosenkränzen hängen Torah-Lesefinger und die entzückenden Armbändchen mit den Heiligenbildern, von denen aber fast jeder weiß, dass sie Escapulario heißen und aus Südamerika kommen. Nun ja, offensichtlich nicht jeder, sonst würde sie auch niemand kaufen und sie würden nicht in der Auslage hängen. Beliebt müssen auch T-Shirts mit ComicKamelen sein, sonst stünden auch sie nicht ganz vorne bei den Kreuzen, Krippen und Erinnerungstellern mit Stadtansicht. Ja, man kann um die kleinen Plastik-Jerusalemkreuze feilschen wie um jede Ware jedes arabischen Standbetreibers. „Wie viel sind die Ihnen denn wert“, will der junge Kerl mit der öligen Lockenfrisur wissen, hört beim Feilschen gar nicht richtig zu, sondern geht beim Verpacken des Souvenir-Sammelsuriums (allerlei Kreuzchen und Alu-Medallions für die Lieben daheim) schon zu Punkt zwei eines typisch orientalischen Verkaufsgesprächs über. Jenes Typs, der sich in allen Souqs des Orients entspinnt, wenn die Frau allein und westlich und der Verkäufer offensichtlich gelangweilt ist. „Wo kommen Sie her? Machen Sie hier Urlaub? Lassen Sie mich raten, Sie sind Spanierin! Das sieht man an Ihren schönen Augen. Was machen Sie heute Abend? Ich bin Mustafa, hier ist meine Telefonnummer, rufen Sie mich an, ich zeige Ihnen die Stadt.“ Was die Kundin antwortet, ist völlig egal, am Ende gibt es das Kärtchen gratis zum Souvenirtütchen dazu.
Heilige Stadt hin oder her, Geschäft ist Geschäft, und schon ein paar Schritte von der Grabeskirche weg Richtung Via Dolorosa und islamisches Viertel verliert sich die vorgespielte Heiligkeit tatsächlich im Gewirr eines orientalischen Marktes. Nur die Nachfrage bestimmt das Angebot. Bestickte Käppchen hängen in Dolden an den gemauerten Bögen, die sich über die Gasse wölben, großgemusterte Röcke und graue Herren-Unterwäsche, Palästinensertücher, Postkarten und Kühlschrankmagneten wollen zu billigen Preisen mit nach Iowa, Krakau, Liverpool oder Seoul. Hat man die FußgängerAutobahn zwischen Grabeskirche und Klagemauer hinter sich gelassen, wird es ruhig in den Gassen, die Händler sitzen auf Hockern dösend vor ihren Läden. Zwischen Shirts und Jalabias sind jetzt auch wieder Devotionalien im Angebot. Eine schöne Kerze vielleicht? Das wäre was. „Hier bitte, dreiunddreißig Kerzen in einem Bündel für die dreiunddreißig Leben Jesu“, sagt einer nach dem anderen. „Wo kommen Sie her?“ Die Jungs kennen die bayerischen Wallfahrtsorte nicht, an denen es schwarze Gewitterkerzen gibt, geschnitzte Kerzen, Kerzen mit aufgeklebten Madonnen, Kerzen mit barocken Schnörkeln in weiß, rot oder dunkelbraun. Oder die polnischen Devotionalienläden, die Riesenkerzen mit güldenen Madonnenreliefs anbieten, deren Kronen mit Flitter verziert sind. Gibt es nirgends in Jerusalem schöne Kerzen? Jerusalemkerzen? Diese leuchtenden Millefiore-Kugeln, die in den 90er Jahren die Weihnachtsmärkte als wächserne Mini-Lampions zu erhellen begannen? Ach, diese Dinger mit quietschbunten Krippenmotiven oder auch mal mit Pinguinen im Schnee ... Ob sie schön sind ist Geschmackssache, aber Jerusalemkerzen aus Jerusalem wären für die deutschen Touristen - und auch für die aus Iowa und Seoul - genauso schöne Mitbringsel wie für die Orthodoxen die 33er-Bündel. Möchte man meinen. Überhaupt all diese schönen, kitschigen Weihnachtsmarktkerzen, von denen ganze Industrien leben -wo sind sie? Hässliche Metallleuchter mit Altstadtpanorama sind im Angebot oder Kerzenhalter, auf deren Form genau so gut „Amalfi“ oder „Alicante“ aufgedruckt sein könnte. Nein, keinen Kerzenhalter! Bitte! Danke! Hat denn niemand eine schöne Kerze? „Hier, die hätten wir noch!“ Ein junger Bursche holt eine kleine weiße Stumpenkerze aus einer Duftlampe. „Und dann haben wir noch die!“ Er bietet allen Ernstes ein Teelicht an. „Andere Kerzen werden Sie hier nicht finden, Madame. Machen Sie hier Urlaub?“
Nicht einmal direkt an der Klagemauer ist Ruhe, aber hier erfüllen die Händler wenigstens die Erwartungen: Am roten Kabbala-Glücksbändchen gibt es gegen eine Spende eine schützende Hand oder eine blaue Perle. Das passt. Und oben am Felsendom wird nicht Ware, sondern Mohammed angepriesen, von einem jungen Mann im schwarzen Anzug, der anbietet, etwas über den Propheten zu erzählen. „Haben Sie kurz Zeit? Ich bin kein Verkäufer!“ Aber Mohammed ist nicht auf dem Plateau des Tempelberges. Er ist von dort in den Himmel geritten. He’s not here. He’s risen.
Insofern ist Jerusalem ein gottverlassener Platz, schön zwar und aufregend, intensiv und durch seine schiere Monumentalität sicher für jeden Besucher lebensverändernd, aber Besinnung im Trubel - nicht im Angebot. Wer in den Gassen und Sehenswürdigkeiten Jerusalems seine Ruhe haben möchte, muss sich unsichtbar machen. Das Geschäft mit dem Glauben bestimmt den Alltag der Altstadt. Shoppen und rennen bis zur Besinnungslosigkeit, viel erleben und staunen, das geht, tagelang. Trotzdem, auch wer jede Gasse einmal abgegangen ist, kann nicht behaupten, Jerusalem zu kennen. Jede Gasse hat zu jeder Tageszeit einen anderen Charakter. Aber dennoch ist die Stadt so wie ein Festivalgelände am Morgen nach einem Festival: Die Bühne ist noch da, die Zelte, die Stände, der Müll und allerlei vergessenes Gepäck, aber das große Ereignis ist vorbei, das Treffen der Stars mit den Fans nur noch Erinnerung. Die Stars sind wieder im Hotel und die Fans, die dabei waren, sind verkatert weiter gezogen um sich gegenseitig und allen anderen zu erzählen, welch einzigartige Momente sie erlebt haben. Wer zu spät kommt, sieht nur noch die leere Bühne und das Merchandising. Und versucht trotzdem, das Beste für sich herauszuholen. Etwa, indem man einen Wunsch in die Ritzen der Klagemauer steckt, ihre Steine streichelt und hofft, dass die Zigeunerin, der man eben nichts abgekauft hat, einen nicht verflucht. Besinnung muss man schon selbst mitbringen nach Jerusalem - finden wird man sie dort nicht. Genauso wenig wie Jerusalemkerzen. Die könnte man im Übrigen auch prima im Wachstrog am heiligen Grab schwimmen lassen.