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Der Stolz, die Gleichgültigkeit und eine verpatzte Chance
Viele mittelmäßige oder gar schaurige Dinge tragen den Namen sehr schöner Orte. Einige werden ihren Orten gerecht. Und wenige sind viel besser als der Ort, dessen Namen sie tragen. Spaghetti Bolognese sind so ein Fall, und zwar ein ganz besonderer, weil sie das bekannteste der vielen nach einem italienischen Ort benannte Gerichte sind, und sowohl italienische Orte als auch italienische Gerichte für den Deutschen die reine Essenz der Sehnsucht sind. Die Kombination ist meist unschlagbar: Beim Eisbecher „Venezia“ in der Gelateria „Dolomiti“ werden romantische Gefühle wach, als schaukelte man gerade in einer Gondel, in der Tomatensauce der Spaghetti Napoli schmeckt man die Sonne des Südens. Vom Nannini-Eis in Lucca schwatzen mir die Freunde die ganze Autofahrt von München bis zu unserem gemieteten Ferienhaus in der Toscana die Ohren voll, von der Pasta an der Amalfiküste schwärmen dieselben Freunde, als sie mit ihrem ersten Kind dort Strandurlaub verbringen. Aber Urlaub in Bologna? Macht kein Mensch. Bolognese dagegen isst jeder, sogar der Vegetarier, denn für den gibt es Tofu-Bolognese in jedem anständigen Supermarkt.
Man hört die Mandolinen beim Landeanflug auf den MiniFlughafen von Bologna schon im inneren Ohr zirpen, rumpelige Air-Dolomiti-Propellermaschine hin oder her. Wenn die Werbung Bolognesesauce im Glas verkaufen will, gibt es zum Mandolinenklang noch glückliche Großmütter mit schwarzen Kopftüchern, die im großen Kessel Fleischtunke kochen. Oder Bilderbuchfamilien, deren Kinder sich auf Nudelberge stürzen. Wie alle Kinder.
Meine frühen Erinnerungen an Spaghetti Bolognese sind allerdings wie mein erster Eindruck von der Stadt Bologna: Ich sehe eine graue, aufgetürmte, wenig einladende Masse. Meine Mutter machte die Fleischsauce so, dass sie mir die ersten Jahre meines Lebens nicht schmeckte, und ich bestand lange auf meiner eigenen Nudelsauce: Tomatenmark mit heißem Wasser glatt gerührt. Meine erste positive Erinnerung an Bolognese habe ich aus einem Ristorante im Norden Münchens, einem Lokal von und für italienische Gastarbeiter, in deren Straße wir in den 80er Jahren als deutsche Minderheit wohnten. Hoch über meinem Kopf trug der Kellner einen Berg golden glänzender Nudeln mit einem Häufchen tiefroter, sämiger Sauce darauf, gekrönt von einem Häubchen bereits aufgestreutem Parmesan. Ich war vielleicht fünf, sechs Jahre alt, aber das war Liebe auf den ersten Blick. Seitdem kann mich und die Spaghetti Bolognese nichts mehr trennen. Für mindestens acht Kilo meines Gewichts sind sie verantwortlich. Das Rezept meiner Mutter habe ich nie nachgefragt, ich habe mein eigenes, natürlich völlig perfektes Rezept gefunden und beim gemeinsamen Kochen mit Freunden festgestellt, dass wohl jeder Deutsche das perfekte Bologneserezept hat.
Traumhafte Kindheitserinnerungen an die Bolognese hat vermutlich jeder. Daher hat die Stadt Bologna gar keine Chance, zu gefallen. Die Gedanken an den duftenden Teller bei „Tonino“ oder wie auch immer der erste italienische Wirt im Leben hieß, sind ungleich intensiver als der Eindruck, den eine mittelgroße Handels- und Universitätsstadt hinterlassen kann. Da auch niemand mit Urlaubsfotos oder Postkarten einen Bologna-Mythos aufbaut, bleibt die Stadt in einem seltsamen Nebel der Ungewissheit, überstrahlt in Prestige und Sehnsuchtswert von ihrem berühmten Nudelgericht. Der Klügere gibt nach und so gibt sich Bologna keine Mühe, mich willkommen zu heißen, als mich der Flughafenbus am Hauptbahnhof aussetzt, einige Stunden vor einem beruflichen Termin. Geschäftsviertel. Kantige Häuser, um deren Ecken eisiger Wind pfeift. Brettflache Fassaden, aus denen Menschen in langen Mänteln quellen und an anderer Stelle wieder in die Bars hineindrängeln. Es ist Winter, ohne Schnee, aber dafür mit aller ungepolsterten Ungemütlichkeit. In den gerammelt vollen Bars stopfen sich die Bologneser mit Tramezzini und Panini voll, die Kaffeemaschinen schnauben. Ich ziehe weiter um die Häuser, auf der Suche nach Spaghetti Bolognese und der wärmenden Geborgenheit, die allein schon ihr Name verspricht. Busse rumpeln über das Pflaster, hupende Autos, Vespas, Fußgänger, alle in Eile, mit vorweihnachtlich verkrampften Gesichtern, auf dem Weg zu den langen Straßen mit den schummrigen Arkaden, zwischen Panino und Lavoro noch schnell ein paar Geschenke greifen, hektisch rauchen, mich Langsamgeherin von hinten am Ellbogen anstoßend. Ich brauche Bolognese. Jetzt. Aber wo ich auch auf die ausgehängte Speisekarte blicke - es gibt sie nicht.
Allerlei haben sie da, Tortellini panna und Garganelli alla campagnola, Lasagne, Ravioli burro e salvia. Auch sonst hat die Stadt nichts Heimeliges, es beginnt zu nieseln, ich flüchte in ein Kaufhaus, um italienischen Weihnachtsdekokitsch zu kaufen, aber nicht einmal diese wärmende, klingelnde, Kindheitserinnerungen weckende Freude ist mir gegönnt, denn es gibt keine saisonale Deko-Abteilung bei „Coin“, und natürlich ist die Stadt nicht dekoriert. Bologna macht auf schroff, da fühlt man sich schnell allein. Ich kaufe dann ein Parmesanmesser und lasse mich wieder auf die Straße schubsen, schleiche in einen Nebengasse und von dort in einem Hinterhof, in dessen hinterster Ecke scheu eine staubtrübe Leuchtreklame eine Trattoria verspricht. Drinnen derselbe Lärm und Trubel wie am Bahnhofsplatz, ich setze mich an einen Katzentisch im Durchgang - und da schweben sie auch schon an mir vorbei. Bandnudeln mit Bolognesesauce. Dampfend, glänzend, dunkelrot leuchtend. Die will ich. Aber auf der Speisekarte stehen sie nicht. „Spaghetti Bolognese, per favore!“ Der Kellner ist muffig und genervt, sagt „Was? Wie?“, schaut Richtung Küche, Richtung Fenster, Richtung Bar, in die Luft, schreit „Tagliatelle Ragu? Eeeh? Signora?“ Ja. Hoffentlich. Paff, steht kurz darauf kommentarlos der Teller auf dem Tisch. Nudeln Ragu, das sind sie, in der Tat. Bologna geizt mit seinen Schätzen, als ob es wüsste, dass sonst die Gäste sentimental werden und nach noch mehr Gemütlichkeit verlangen, nach freundlichem Ciao-Bella-Getue, nach Mandolinengezirp und all der Urlaubsort-Romantik, die die Italiener sonst für ihre Gäste inszenieren. Dafür hat man hier keine Zeit, Bologna ist No-Nonsense, funktional, geradlinig, und könnte so, wie es ist, auch in Holland liegen.
Von seinem köstlichen Exportschlager kann sich Bologna allerdings nicht distanzieren, daher wird er einfach so wenig beachtet, wie nur möglich. Dennoch ist diese Bolognese ausgesprochen lecker und während ich noch am Glas Rotwein nippe, knallt der Kellner schon zack! die unverlangte Rechnung auf den Tisch. Bloß nicht sentimental werden, Signora. Der Teller Ragu und der Wein, das macht dann 11 Euro, bitte gleich zahlen, wir brauchen den Tisch. Es ist in diesen Minuten in der Trattoria, in der meine tiefen, seit langem empfundenen Gefühle für die Bolognese verblassen und dem Bewusstsein weichen, dass Orte, nach denen Dinge benannt werden, ihnen oft nicht gerecht werden können und daher auch gar nicht mehr wollen.
Die Bolognese bleibt trotzdem meine Seelentrösterin, bringt mich als Energiespender durch die Zeit der Dissertation und den Wahnsinn der Atkins-Diät-Epoche, in denen Kohlenhydrate der Teufel selbst sind und Nudeln seine irdische Inkarnation. Und dann, als ob der Lebensabschnitt, in dem die kindlichen Träume alle an der Wirklichkeit zerschellen, zu Ende geht, verschlägt es mich wegen halbgarer privater Umstände ein zweites Mal nach Bologna. Wieder ist es Winter und diesmal nieselt es nicht nur, sondern es gießt wie aus einem Durchschlag, in dem gerade Spaghetti abgegossen werden. Es ist Sonntag Nachmittag, ich kann bequem mitten in der Innenstadt parken, und habe noch nicht mal mein Auto abgeschlossen, als schon ein aufgeschwemmter, betrunkener Alter vor mir auftaucht, der mich lallend um Geld für Medikamente anbettelt und mir dabei eine leere Tabletten-Blisterpackung vor die Nase hält. Bologna, immer noch die alte, immer auf dem Boden der harten Tatsachen. Die Nettigkeit wohnt hier nicht. Aber ich bin klüger geworden und habe mir von nicht-bologneser Italienern sagen lassen, dass die örtliche Spezialität nicht einmal die Ragu-Sauce ist, sondern die Tortellini, die hier besonders klein sind und besonders intensiv schmecken sollen.
Ein weiteres Mal lasse ich mich durch die breiten Straßen mit den Arkaden treiben, die grob gepflasterten Gässchen, über den großen Platz in der Stadtmitte. Wieder spazieren die Bologneser in dicken Mänteln und mit hochgezogenen Schultern durch die Stadt. Da bin ich wieder, sage ich leise zu dem Marienstandbild in der alten Kirche, zünde eine Kerze an, bleibe auf der Holzbank sitzen, obwohl ich gleich wieder gehen möchte, zurück ins Auto, weg aus Bologna, rein ins Italien, wie wir es kennen möchten, mit gutem Essen, Sonne und charmanten Kerlen. Und doch bleibe ich. Amüsiere mich draußen über die bronzenen Brunnen-Nymphen, die breitbeinig auf ihrem Sockel knien und chaotische Fontänen aus ihren Brustwarzen drücken. Besichtige die zwei Türme, die seit fast 1000 Jahren windschief in der Stadt stehen. Kaufe bei „Coin“ vier tiefe Pastateller aus zartem weißem Porzellan. Spaziere durch Gässchen, in denen Alte ihre kleinen Schoßhunde spazieren führen und irritiert schnauben, wenn ich vor ihrer Nase innehalte um Speisekarten von Lokalen zu studieren, die ohnehin geschlossen sind. Je weiter sie weg sind von der Hauptachse der Sehenswürdigkeiten, desto bolognesiger sind diese Lokale, sprich, es gibt natürlich keine Spaghetti Bolognese, sondern Penne alla vodka, Gnocchi alla sorrentina und Spaghetti alla puttanesca. Etwas näher an der Hauptschneise hat ein Lokal dann trotzig schon Lasagne alla bolognese im Angebot, auf Englisch übersetzt mit „Papardelle with wild boletus mushroom’s sauce“ (breite Nudeln mit einer Sauce aus wilden Dickröhrlingen). Gut, dass dieses Lokal geschlossen hat.
Inzwischen habe ich gelernt, warum Bologna in den Ruhm Welthauptstadt der Fleischsaucen zu sein, gekommen ist. Der Florentiner Pellegrino Artusi schrieb 1891 ein epochemachendes Buch über „Die Wissenschaft des Kochens und die Kunst des guten Essens“ und unterschied darin Maccheroni in Neapolitaner und Bologneser Art - letztlich also in nördlich und südlich. Ragu Bolognese ist ihm zufolge aromatisch gewürztes Hackfleisch, das sehr lange gegart wird, für das Ragu Neapolitano wird ein ganzes Stück Fleisch sehr lange bei kleiner Flamme gegart und erst später zerkleinert. Oder so ähnlich. Egal. Denn Herr Artusi wird bis heute als der Mann gefeiert, der Italiens Küche einigte und damit auch gleich das italienische Nationalgefühl und eine - zumindest in der Küche - einheitliche Sprache erfand. Die Bologneser können also nichts dafür und damit ist klar, warum sie keine Bolognese haben. Wer will sich schon von einem Florentiner sagen lassen, was das neue Nationalgericht sein soll? Indem Bologna partout keine Bolognese serviert, ist es patriotischer und authentischer als jeder Ort, der jedem ungefragt seine echte oder erfundene Spezialität auftischt.
Irgendwo am Meer, in einem Urlaubsort, sähe es vielleicht anders aus, da hätte man sich vom Patentamt, von der EU oder sonst irgendwem den Namen schützen lassen und entweder einen riesen Reibach mit jedem verkauften Gläschen oder Tütchen im Ausland produzierter Fertigsauce gemacht. Oder es gleich geregelt wie nur wenige Kilometer weiter in Parma, wo man das Welt-Monopol auf luftgetrockneten Schinken für sich gepachtet hat. Bologna aber teilt das Schicksal ihrer Schwester im Geiste, der Stadt Amatrice, ebenfalls kein Ort, in dem irgendjemand Urlaub macht, aber dessen Nudelsauce mit Speck jedermann isst, ohne dass Amatrice etwas davon hätte oder es zu schätzen wüsste. Amatrice trifft es sogar noch härter, denn sogar schon in Italien heißt die Pasta mit Specksauce auf Speisekarten gerne falsch Matriciana statt richtig alla Amatriciana. Geeinte italienische Nationalküche - von wegen.
Bologna hat zumindest ein bisschen aus seinen Fehlern gelernt. Während eisiges Regenwasser durch meine Schuhsohlen an meine Zehen dringt, nähere ich mich wieder der Haupt-Sehenswürdigkeiten-Einflugschneise und der Gegend mit den großen Hotels, und siehe da, Bologna nutzt die Gunst der Stunde: Tagliatelle alla bolognese oder Tortellini alla bolognese gibt es im Lokal „Il Ducale“ für jeweils 7 Euro. Nebenan hat man auf die normale Speisekarte einen Extra-Zettel geklebt und preist darauf selbiges zum nahezu gleichen Preis als Cucina Bolognese an, aber auch Tortellini in Brodo, Tortellini alla Panna, und Tortellacci ai Funghi Porcini, also Riesentortellini mit Röhrlingen, wie man Steinpilze auch nennen kann. In einem der edleren Ristorantes direkt an der Hauptmeile stehen blasiert „Tagliatelle alla Bolognese con il ragù tradizionale“ für 14 Euro als Vorspeise auf der Karte. Nur Spaghetti Bolognese anbieten? Das ist unter der Würde der Stadt, in der schon Nudeln mit Fleischsauce gegessen wurden, als man vom vereinten Italien noch nicht mal träumen wollte. Natürlich haben alle diese Bolognese-Lokale an einem Off-Season-Sonntag im Winter geschlossen, und so lande ich im „Rivoli Café“ nahe der Hauptstraße, in dem einige Jungs verschiedenen Alters Fußball gucken. „Tortellini Ragù bitte und ein Glas Wein dazu, aber zack, zack.“ Widerwillig löst sich der Küchenbeauftragte vom Fernseher. Kurz darauf höre ich das metallische Ping einer Mikrowelle, und dann steht der Teller schon auf dem Tisch. Es ist eine der schlechtesten Bolognesesaucen, die ich je gegessen habe. „Zahlen, bitte.“
Fast schon bin ich beim Auto, da streift mein Auge die Auslage des Café „Gamberini“. In goldenem Licht liegen da Torten wie aus einem anderen Universum in der Auslage. Kunstwerke aus Obst, Schokolade und Zucker, wie aus einem Film gestohlen. Schon stehe ich am Tresen. Die holzgefasste Glastür hat mich in eine andere Welt geführt, eine voll Wärme und Glamour, von Luxus und Grandezza alter Zeit, von den Wundern der Küche, die einen nach Luft schnappen lassen. 1,80 Euro kosten ein Törtchen und ein Espresso. Zusammen. Da stehe ich an der marmornen Bar und kann mein Glück kaum fassen. Vor mir sitzt ein Traum aus Schokoladencreme, mit mikrofeinen Raspeln bestreut, darauf gebettet eine Himbeere mit kleinen Zuckerkristallen auf der Haut, gestützt von einem kleinfingernagelkleinen Ornament aus Herrenschokolade. Ein süßer Firlefanz. Neben mir, in einer weiteren Vitrine der Bar, liegen winzige Häppchen auf Silbertabletts, mit Spargelsalat, mit Krabben, mit feinem Lachs. In vielen Snack Bars auf der ganzen Welt bin ich gewesen, aber eine solche Pracht habe ich noch selten gesehen, und niemals, niemals war ich so glücklich über Miniatur-Delikatessen. Danke, danke, „Gamberini“, dass du erst 1907 aufgemacht hast, als das Nationalkochbuch des Herrn Artusi schon fertig war. Er hätte sonst sicher eine „Mignon alla Bolognese“ als Nationalsüßigkeit festgeschrieben, und man könnte im „Gamberini“ kein Minitörtchen mehr essen, wenn man gerade dringend einen süßen Seelentröster braucht.