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CADBURY'S

Der herbsüße Mythos von Camelot

Cheddar ist ein Schinken, sagt meine Freundin Katrin. Sie muss es wissen, sie lebt seit Jahren in England, arbeitet mit Engländern, kauft in englischen Supermärkten ein und unternimmt Ausflüge auf das englische Land. Viele davon haben wir in den vergangenen Jahrzehnten gemeinsam bestritten. Nach dem Abitur gingen wir auf große Fahrt bis zu Nessie nach Schottland. Wenn man mit einem Fiat Panda aus einer oberbayerischen Kleinstadt bis zum Loch Ness will, macht man besser ziemlich oft Pause und plant die Tagesetappen übersichtlich kurz, denn der schachtelförmige Wagen war zwar treu, schaffte aber seine Spitzengeschwindigkeit von 130 Stundenkilometern nur bergab mit Rückenwind und die Sitze waren in etwa so bequem wie alte Klappstühle. Außerdem wollten wir was erleben, kauften Moselwein an einer Tankstelle an der Mosel und fuhren mit dem Auto-Winzling auf die große, große Fähre. In London waren wir mit Katrins Freundin Chrissie und ihrer neuen Flamme Gregor verabredet, die tatsächlich nicht hatten glauben wollen, dass es in England zwar keinen Englischen Kuchen, sehr wohl aber englischen Regen gibt, und etwas ernüchtert von einer Fahrradtour durch den Süden der Insel zurück kamen.

Auf dem Weg nach Schottland lagen verheißungsvolle Ziele: Nottingham, die Metropole des Robin Hood und eine der herbsten Enttäuschungen ganz Englands. Graue Industriearchitektur statt Mittelalter-Romantik, ein kastenförmiges, neuzeitliches Schloss mit einer ziemlich erbärmlichen Sammlung von allerlei Artefakten, gesichtslose Geschäfte, lustlose Souvenirhändler, und ein „Cafe Royal“, in dem es zwar Kaffee gab, aber keinen Tee. Und geregnet hat es auch noch. Ein totaler Flop also, genau wie der Sherwood Forest, von dem kaum Wald übrig ist, durch den aber eine schnurgerade Landstraße brettert und in dem dann die „Major Oak“ steht, eine zugegebenermaßen schöne Eiche, die aber nicht alt genug sein kann, dass Robin und die Merry Men wirklich darunter hätten gesessen haben können. Abends verfuhren wir uns auch noch so gründlich, dass wir erst eine Unterkunft in einem Ort Namens Knutsford fanden, als es draußen stockfinster und unsere Stimmung verhagelt war.

Auf der elenden Fahrt bis Knutsford erinnerte sich Katrin an einen ähnlich verheerenden Ausflug 1992 nach Birmingham, als wir ebenfalls einem Mythos gefolgt waren und dann statt eines sagenhaften Einkaufszentrums namens „Bull Ring“ die Tristesse des britischen Working-Class-Shopping gefunden hatten, schäbig wie die verlassene Wohnung eines Mietnomaden. Städte, die auf „-ham“ enden, seien als Ausflugsziele wohl einfach ungeeignet, sagte Katrin in die Stille im Fiat Panda hinein, als es schon zu dämmern begann, sie seien eben „nichts weiter als ein Schinken“. Seitdem ist für uns jeder Ort, der keinen Ausflug wert ist, ein Schinken. Inzwischen hat Katrin sich in England niedergelassen und ich besuche sie regelmäßig. Im Frühjahr 2006 bin ich fast zwei Wochen bei ihr, wir fahren an den Wochenenden nach Cornwall und Wales zum Wandern und unter der Woche beschäftige ich mich selbst, etwa mit Shoppen im mittlerweile neu gebauten „Bull Ring“. Um Katrin nicht den letzten Nerv zu rauben, unternehme ich eine mehrtägige Fahrt in den Süden, nach Stonehenge und Glastonbury und was sonst noch so auf dem Weg liegt. Marlborough zum Beispiel, wo man mir, ganz britisch gelassen, ohne mit der Oberlippe zu zucken eine Schachtel der nahezu gleichnamigen Rauchwaren verkauft, nach Dorchester und Bath, in dem es als Hauptsehenswürdigkeit ein großes Römerbad gibt. Auf dem Weg liegt Cheddar, das Schilda der Käseherstellung, denn der Cheddar ist die meist-verkaufte Käsesorte der Welt, aber das englische Örtchen nahezu unbekannt und mitnichten die reichste Lebensmittelstadt auf dem Globus. Daran könnte auch die beste EU-Verordnung zum Schutz regionaler Produkte nichts mehr ändern, denn längst wird der meiste Cheddar in den USA produziert. Chrissie und Gregor seien schon einmal im englischen Cheddar gewesen, erzählt Katrin, und wären überhaupt nicht begeistert gewesen; ein riesen Rentner-Rummel sei das, ein richtiger „Schinken“ eben. Nur Käse gebe es dort genug. Ich stelle Cheddar auf der Wunschliste meiner Ausflugsziele hintan.

Ganz weit vorne steht dafür aber Cadbury, und das nicht wegen der Schokolade. Cadburyworld, der Themenpark der britischen Zuckerbäcker, befindet sich in der Nähe von Birmingham und gar nicht weit von Leamington Spa, aber Katrin befürchtet, dass der Einfluss des „-ham“ dort noch spürbar sein könnte, weshalb wir noch nie zusammen in Cadburyworld waren. Die Dörfer South und North Cadbury dagegen sind in der südlichen Grafschaft Somerset versteckt. Sie sind durch eine Schnellstraße getrennt, sodass ich bis heute nicht weiß, ob es im nördlichen Dorf einen Tante-Emma-Laden gegeben hätte, im südlichen Dorf jedenfalls gibt es ein paar Bauernhäuser, eine Kneipe und einen Parkplatz, auf dem ein ziemlich zorniges Schild die Besucher warnt, hier keinen Müll liegen zu lassen. Und es gibt dort Cadbury Castle, vom dem man meinen könnte, es bestehe aus Milchschokolade, denn das sollte sich die größte Süßwarenfabrik des Landes als Prestigeobjekt schon leisten können.

Die Milchschokolade in der traditionellen violetten Verpackung naschen Engländer schon seit 1905, und es gibt keinen Kiosk, keine Tankstelle und keinen Süßwarenautomaten im Königreich, in dem man nicht sie oder ihre Nichten, die zahlreichen Riegel, finden kann. Wenn jemand in Großbritannien in seinem Laden nur eine einzige Industrie-Süßigkeit verkaufen dürfte, es wäre Cadbury-Schokolade. Das Dorf Cadbury könnte also so sein wie das Innere von Willy Wonkas wunderbarer Schokoladenfabrik: knallbunt und voller Verlockungen, aber solche Wunderlandträume sind amerikanisch und haben im nüchternen Großbritannien, dem Mutterland des Understatement, keinen Platz. Weniges wird dort mehr verachtet, als wenn Profanes mit übertriebenem Lärm und in grellen Farben inszeniert wird. In South Cadbury soll ja nicht einmal das Einwickelpapier einer mitgebrachten Schokolade herumfliegen, das gehört in den Mülleimer und sonst nirgends hin. So bedrohlich wie das Schild auf dem Parkplatz wirkt, nascht man nur heimlich im Auto und versteckt das Papier dann schamhaft im Seitenfach der Fahrertür.

Wie so oft hat das Dörfchen rein gar nichts mit dem weltberühmten Lebensmittel zu tun, das seinen Namen trägt: Cadbury-Schokolade heißt korrekt Cadbury’s. Wer richtig gut Englisch kann, erkennt daran das Genitiv-S, das im Englischen weit öfter für Personen als für Städte verwendet wird. So ist es denn auch; die Süßwaren tragen den Namen ihres Erfinders John Cadbury, eines Quäkers, der 1824 in Birminghams Bull Street einen Lebensmittelladen eröffnete und dort auch bald Trinkschokolade anbot. Jene Bull Street im übrigen, in die in den 60er Jahren ein Einkaufszentrum hingeklatscht wurde, das dann ziemlich herunterkam und 2003 in aller Pracht neu errichtet wurde.

Aber zum Einkaufen und Schlecken bin ich nicht nach Cadbury gefahren, sondern wegen des Schlosses. Mein Wagen ist der einzige auf dem Parkplatz, dicke graue Wolken segeln vor dem strammen Wind über die Ebene, ich muss die Kapuze eng um den Kopf binden. Kein Mensch aus dem Dorf geht bei dem ins Gesicht pieksenden, eisigen Regen vor die Tür. Gutes englisches Wetter. Klebrige Lehmbatzen liegen auf der Straße, ein Busch beugt sich so tief über den Wegweiser, dass man ihn kaum sehen kann, aber den Burgberg kann man nicht verpassen, ich habe ihn schon vom Parkplatz aus gesehen. Ich wandere an den Cottages vorbei in einen Hohlweg. Obwohl das Wetter tobt, ist es im Hohlweg so still, dass ich meine Schritte im Laub vom Vorjahr rascheln höre. Ich durchwandere das Tor des äußersten Befestigungsrings, der Anstieg wird steiler, der nächste Durchgang, kein Wächter stellt sich mir entgegen. Auf das letzte Tor gehe ich besonders langsam zu, um jeden Moment aufzusaugen, in meinem Inneren spielt die Musik alter Zeiten, dann trete ich durch das Portal in den Schlosshof. Es ist ein großes, grasbewachsenes Plateau, über das der Wind pfeift. Von Cadbury Castle steht kein Stein mehr. Es ist kein Schloss, sondern die Erinnerung an das Schloss der Schlösser, gefangen auf einem einsamen Hügel mit holpriger Oberfläche, umgeben von einem Ring aus baumbestandenen und überwachsenen Wällen, die einmal die Befestigung bildeten. Eigentlich ist Cadbury Castle nur ein komischer Hubbel in der Ebene, an dessen Fuß sich ein Dörfchen duckt. Aber die Erinnerung ist stärker als jedes Gebäude, das dort stehen könnte, denn als noch Reiter durch das Tor preschten, Soldaten die Holzpalisaden auf den Wällen bewachten und oben auf dem Gipfel die tapfersten Krieger ihrer Zeit zusammen kamen, war Cadbury Castle die berühmteste Burg, die es je gegeben hat: Camelot. Das Schloss des König Artus.

Die Zeit mag die hölzernen Gebäude zernagt haben und die Wälle geschleift, die besondere Kraft des Ortes hat sie nicht stören können. Bei Regen und Sturm über den Hügel von Camelot zu laufen ist einmalig, denn die schiere Größe der untergegangenen Anlage lässt ihre Erhabenheit ahnen, der Blick reicht auch bei tieffliegenden Wolken weit ins Land. Ob die Spuren der riesigen, seit der Eisenzeit befestigte, immer wieder verlassenen und schließlich um das Jahr 1020 endgültig aufgegebenen Burg, die Archäologen hier gefunden haben, wirklich die von Camelot sind, ist wie an allen sagenhaften Orten nicht geklärt. Aber schon im Mittelalter wollte man gerne glauben, dass Artus einer der ganz Großen war und seine Ritter die wahre Liebe erfunden haben. Wer daran glaubte, für den war die Welt ein besserer Ort, weil es dort zumindest in der Erinnerung echte Kerle gab, verzehrende Romanzen und wirklich wichtige Aufgaben, denen man sich mit Haut und Haar verschreiben konnte, statt den eigenen Lebensweg im faden Alltag verblassen zu sehen. Wer glaubt, dass in Cadbury Camelot stand, für den ist der grasige Hügel der eine Ort auf dem Planeten, an dem sich die größten Helden aller Zeiten getroffen haben. Und da braucht man keine Schokolade und kein schönes Wetter, keinen Audioguide und keine Erklärtafeln, da ist es am besten, wenn man ganz allein über die Sturmhöhe wandert und das Echo der eigenen Sehnsüchte in sich klingen hört. Wenn es an einem Ort eigentlich gar nichts gibt, dann gibt es dort das, was man sich hinwünscht und was man in seinem Inneren dort hinträgt. Cadbury Castle wäre nicht mysteriös und faszinierend, wenn man dort mit hunderten Touristen durch tot renovierte Gemäuer schlurfen könnte. Der Geist von König Artus braucht eine große Fläche, um sich entfalten zu können - und stünde in Nottingham nicht dieses Stadtschloss, sondern einfach nichts, würden die Geister des Sheriffs und seines Feindes Robin dort noch immer herumspuken.

Ob es in der Dorfkneipe von Cadbury, die den schönen Namen „The Camelot“ trägt, vielleicht doch ein Stück Schokolade gegeben hätte, hat mich angesichts der Erhabenheit des Ortes dann auch gar nicht mehr interessiert. Das Internet sagt, es werden dort ordentliche Braten aufgetischt, Würstchen mit Kartoffelbrei, Sandwiches und Ploughman’s Lunch, ein traditioneller britischer Brotzeitteller, hier wahlweise mit Ham, Cheddar oder beidem.

Den Ausflug nach Cheddar spare ich mir. Daher weiß ich bis heute nicht, was es in der „Cheddar Gorge“ gegeben hätte, die dort als Sehenswürdigkeit in meinem Straßenatlas eingezeichnet ist. Ich stelle mir aber vor, dass dort eine Höhle versteckt ist, in der die Tropfsteine aus Käse bestehen. Es könnte aber auch einfach ein Schinken sein.