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»Und daß Sie gesucht werden.«
»Ja. Deshalb müssen wir sehr vorsichtig sein. Wenn Hauptmann Gerber uns erwischt, steht es mehr als schlecht um uns.«
Hauptmann Gerber!
Der Name brachte schlagartig Irenes Erinnerung zurück, und sie wußte, wo sie das Emblem mit den Buchstaben >GRV< gesehen hatte: New York, Castle Garden.
»Etwa Hauptmann Gerber von den German Rifle Volunteers?«
Die vier Männer sahen sie überrascht an.
»Sie kennen Gerber?« erkundigte sich Hamker mißtrauisch.
»Aus New York«, antwortete Irene und erzählte die Geschichte. »Ich hätte allerdings nicht vermutet, daß sich sein Regiment schon im Feld befindet.«
»Tut es ja auch nicht, jedenfalls nicht so richtig«, meinte Rodenberg. »Es hat in der Nähe zwar ein Feldlager aufgeschlagen, aber jetzt findet erst mal der Drill unter Gefechtsbedingungen statt. Ein sehr harter Drill. Unsere Offiziere sind ehrgeizig und benutzen uns, um ihren Ehrgeiz zu befriedigen. Wir haben das nicht mehr ausgehalten und haben uns deshalb abgesetzt.«
»Nicht mehr ausgehalten?« fragte Irene ungläubig. »Ist das ein Grund, Fahnenflucht zu begehen?«
»Das nicht«, sagte der blonde Jüngling, stand auf und legte die Decke ab, in die er gehüllt gewesen war. Auch er und Henry Eimers hatten ihre nasse Kleidung zum Trocknen ausgelegt. »Aber vielleicht das.«
Er drehte sich um und zeigte Irene seinen von einer Unzahl langer, blutiger Narben übersäten Rücken. Die Frau zuckte zusammen und fühlte sich an den schwarzen Matrosen Sam erinnert, der auf dem Flußdampfer ONTARIO von seiner Sklavenzeit erzählt hatte. Er hatte ähnliche Narben auf dem Rücken gehabt.
»Wie sind Sie dazu gekommen?« fragte Irene und war froh, als Rodenberg seinen Oberkörper wieder mit der Decke verhüllte.
»Weil ich zu spät vom Frühstück kam, hat Gerber mir für drei Tage das Essen verboten. Am dritten Tag hielt ich es nicht mehr aus und habe mir heimlich einen Kanten Brot besorgt. Ein Sergeant hat mich beim Essen erwischt, und der Hauptmann hat mir zur Strafe zwanzig Peitschenhiebe verabreichen lassen.«
Rodenberg zeigte auf Eimers. »Auch Henry könnte Ihnen solche Narben zeigen. Er hat die Peitsche bekommen, weil er sein Bajonett verloren hat.«
»Und was ist mit Ihnen?« fragte Irene, während sie Hamker und Glaser ansah.
Fast zeitgleich schoben die beiden Männer ihre Käppis aus der Stirn und enthüllten jeder ein großes, in die Haut gebranntes >A<.
»A wie Aufrührer«, erklärte Hamker. »Gerber hat uns brandmarken lassen, weil wir uns über ihn beim Oberst beschwert haben.«
»Und was hat der Oberst getan?«
»Ihm recht gegeben. Gerber ist ein wohlhabender Mann und war mit seinem Geld maßgeblich an der Aufstellung des Regiments beteiligt. Der Oberst wird sich hüten, sich mit ihm anzulegen. Das hatten wir leider nicht bedacht.«
»Können Sie uns jetzt verstehen?« fragte Rodenberg.
Irene nickte. »Ja, jetzt schon.«
Sie dachte wieder an den Matrosen Sam und erschrak bei dem Gedanken, daß es kaum einen Unterschied gab zwischen den Menschen, die sich Sklaven hielten, und denen, die angetreten waren, die Sklaven zu befreien. Jacob und Martin hatten in New York schon gewußt, weshalb sie sich nicht von Hauptmann Gerber anwerben ließen. Männer wie der Hauptmann führten keinen Krieg für eine gute Sache, sondern nur für sich selbst.
Der Gedanke an ihre Freunde ließ sie noch schweigsamer werden. Sie machte sich mit dem Gedanken vertraut, beide verloren zu haben. Das kleine Bündel Mensch, für das Jacob und Martin die Patenschaft übernommen hatten, war alles, was ihr geblieben war. Und natürlich Carl, falls sie ihn jemals fand in diesem großen, wilden Land.
Sie war so in ihre Gedanken versunken, daß sie richtig erschrak, als die vier Männer plötzlich aufstanden und nach ihren Waffen griffen. Rodenberg schob mit dem Fuß Erde ins Feuer, bis es gelöscht war.
»Was ist?« fragte Irene.
»Leise«, zischte Rodenberg. »Cord hat etwas gehört.«
Die Männer schlichen zum buschbewachsenen Rand der Senke, und Irene folgte ihnen langsam, mit der einen Hand den schlafenden Jamie, mit der anderen die Decke haltend. Dann hörte auch sie es: Hufgetrappel, das rasch näher kam.
»Ich glaube es nicht«, zischte Hamker, der am weitesten in das Buschwerk vorgedrungen war.
»Was denn?« fragte Glaser.
»Es ist Gerber!«
Die Gesichter der Männer erstarrten.
»Bist du sicher, Cord?« hakte Glaser nach.
»Und wie! Ihr wißt, daß ich ein Pferdenarr bin. Gerbers Grauschimmel würde ich unter tausend Tieren sofort erkennen.«
»Dann sind wir erledigt«, murmelte Eimers. »Sie haben uns!«
»Nein«, widersprach Hamker. »Gerber ist allein. Er scheint es sehr eilig zu haben.«
Glaser riß seine Muskete hoch und drang zu Hamker vor. »Dann holen wir uns den Menschenschinder jetzt. Er wird keinen mehr auspeitschen oder brandmarken lassen!«
Neugierig drang Irene mit Rodenberg und Eimers ebenfalls weiter in die Büsche vor, während die beiden anderen bereits ihre Musketen anlegten. Bald sah sie den Reiter, tief über den Grauschimmel gebeugt, der offenbar dicht an ihrem Versteck vorbeigaloppieren wollte.
»Der Reiter trägt keine Uniform«, stellte Rodenberg das fest, was auch der jungen Frau gerade aufgefallen war.
»Dann stirbt Gerber eben in Zivil«, meinte Hamker und zielte genau auf den Reiter, der in diesem Moment den Kopf hob.
Irene schlug den Musketenlauf zur Seite, wovon Hamker so erschrocken war, daß er den Schuß auslöste.
»Verdammt!« stieß der Deserteur hervor. »Was sollte das?«
»Das ist nicht Gerber, sondern Martin!«
»Martin?« echote Hamker.
»Einer meiner beiden Freunde, die mit mir auf der RAVAGER waren.«
»Sie hat recht«, sagte Rodenberg erregt. »Das ist nicht Gerber!«
Durch den Schuß alarmiert, trieb Martin den Grauschimmel zu größerer Eile an. Irene lief aus den Büschen ins Freie und rief laut seinen Namen.
Martin hielt sein Pferd an, als er Irene erkannte, wendete es und ritt zu ihr zurück.
»Du kannst absteigen, Martin«, sagte die Frau.