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»Wo bleibt Heller nur?« fragte Allan Pinkerton zum wiederholten Mal.
Er stand auf der umgestürzten Kutsche, beschattete seine Augen mit der flachen Hand und blickte in beide Richtungen der Landstraße. Bisher war noch niemand vorbeigekommen, auch nicht der Rettungstrupp, den Nate Heller organisieren sollte.
»Ob Sie da oben stehen oder nicht, Allan, das bringt den Hilfstrupp nicht schneller zu uns«, sagte Abraham Lincoln, der seinen Rock ausgezogen hatte und sich mit hochgekrempelten Hemdsärmeln um Paul Donlevy kümmerte.
Mit Bob Lorys Hilfe hatte er die verletzten Beine des Pinkerton-Mannes geschient, obwohl ihnen als einziges Werkzeug das Bowiemesser des bärtigen Kutschers zur Verfügung stand. In seiner Zeit als Anführer einer Grenzertruppe im Krieg gegen den Sauk-Häuptling Black Hawk hatte Lincoln oft auch nicht mehr zur Verfügung gehabt, um Verwundeten zu helfen.
»Allmählich mache ich mir Sorgen«, erwiderte Allan Pinkerton. »Badger Falls, die nächste Ortschaft, ist keine zehn Meilen entfernt. Heller müßte längst zurück sein.«
»Vielleicht hat es Schwierigkeiten gegeben«, meinte Willard Marlow.
»Das befürchte ich«, fuhr Pinkerton fort. »Ich habe diesem Jennings von Anfang an nicht getraut. Wir sollten von hier verschwinden.«
»Wie denn?« fragte Lincolns blasser Privatsekretär. »Die Vorderachse der Kutsche ist gebrochen, und Mr. Donlevy ist kaum in der Lage zu laufen. Wir können ihn nicht aus eigener Kraft fortschaffen.«
»Das ist nicht gesagt«, widersprach Lincoln. »Wir könnten es machen wie die Indianer und ein Travois bauen.«
Marlow sah den Präsidenten fragend an. »Ein Travois?«
»Das ist eine Lastbahre, bestehend aus zwei langen Stangen, die man an einem Pferd festbindet und durch dünne Zweige oder ähnliches verbindet.«
»Darauf kann ein Mann liegen?«
»Ja, wenn man es richtig macht.«
»Ein guter Vorschlag, Mr. President«, befand Pinkerton. »Wir sollten ihn sofort in die Tat umsetzen. Ich habe kein gutes Gefühl dabei, hier noch länger zu warten.«
»Kommen Sie, Bob«, sagte Lincoln zu dem Kutscher. »Suchen wir uns das geeignete Material.«
»Nicht mehr nötig!« rief plötzlich Pinkerton, als Lincoln und Lory gerade tiefer in den Wald gehen wollten. »Da kommen Reiter und ein Wagen.«
»Aus welcher Richtung?« fragte der Präsident.
»Aus der Richtung, in der Badger Falls liegt.«
»Dann könnte es der Hilfstrupp sein.«
»Ja, könnte«, meinte Pinkerton skeptisch und zog seinen sechsschüssigen Colt-Pocket-Revolver aus dem Schulterholster.
»Halten Sie die Waffe für notwendig, Allan?« erkundigte sich Lincoln.
»Ja, für eine notwendige Vorsichtsmaßnahme.«
Auch Lory zog seinen Navy-Colt, während Lincoln Donlevys großkalibrigen Army-Colt an sich nahm.
Auf dem Bock des offenen Kastenwagens, der von zwei kräftigen Braunen gezogen wurde, saßen der Viehhändler Jennings und eine nicht mehr junge Frau, die Pinkerton nicht kannte. Ebensowenig wie die drei jungen Reiter, die dem Wagen folgten. Nach Nate Heller hielt er vergeblich Ausschau.
Der Trupp hielt an. Jennings und die Frau stiegen vom Wagen, während die Reiter in den Sätteln blieben. Der Viehhändler und die Frau kamen durchs Unterholz und blieben vor der umgestürzten Kutsche stehen.
»Wozu der Revolver?« fragte der Mann im grauen Anzug.
»Eine Vorsichtsmaßnahme«, antwortete Pinkerton. »Ich vermisse Mr. Heller.«
»Der konnte nicht mitkommen«, erwiderte der falsche Mr.
Jennings.
»Warum nicht?«
»Weil er tot ist.«
»So tot wie Mr. Lincoln, wenn jemand eine falsche Bewegung macht«, sagte Mrs. McMillan scharf, während sie ihren Umhang beiseite schlug und die darunter verborgene doppelläufige Schrotflinte auf den Präsidenten richtete.
»Also hat mich mein Gefühl nicht getäuscht«, sagte Pinkerton. »Sie sind ein Spion der Konföderierten, Jennings!«
»Nicht Jennings. Mein richtiger Name ist Marquand.«
Pinkerton konnte das Erstaunen auf seinem Gesicht nicht verbergen. »Etwa Alec Marquand aus Pittsburgh?«
Der Mann im grauen Anzug lächelte und deutete eine Verbeugung an. »Zu Ihren Diensten.«
»Wer ist das?« fragte Lincoln.
»Ein Frachtagent, den ich schon länger verdächtige, ein Spion der Konföderierten zu sein, Sir«, antwortete Pinkerton. »Ich hatte einen meiner Männer auf ihn angesetzt, der seit einigen Tagen verschwunden ist. Sie wissen nicht zufällig, wo er steckt, Marquand?«
»Wenn Sie von Ross Bowman sprechen, der liegt irgendwo auf dem Grund des Ohio. Ich habe mich bei ihm für die Kugel revanchiert, die er mir verpaßt hat.«
Bei dem Gedanken, daß der junge Bowman, der sich mit so großem Enthusiasmus für die Sache des Nordens eingesetzt hatte, sein Leben ausgehaucht hatte und daß sein Leichnam im Fluß trieb wie der stinkende Inhalt eines Abfallkübels, wurde Pinkerton von Zorn erfaßt. Er hob seinen Colt, und die Mündung zielte auf Marquand.
»Schießen Sie nur«, sagte der Südstaaten-Spion ruhig. »Sie können mich töten, sicher, aber Mrs. McMillan wird dann zwei Ladungen Schrot auf Ihren Präsidenten abfeuern.«
Unschlüssig stand Pinkerton da, zwischen Verstand und Gefühl hin- und hergerissen. Sein Verstand sagte ihm, daß
Marquand recht hatte. Aber sein Zorn drängte ihn, auf den Spion zu schießen, Bowman zu rächen und andere UnionsAgenten davor zu bewahren, von Marquand ins Jenseits befördert zu werden.
»Tun Sie es nicht, Allan«, sagte da Abraham Lincoln, der den Colt in seiner Rechten zu Boden fallen ließ. »Glauben Sie nicht, ich verlange das aus bloßer Angst um mein eigenes Leben. Aber es würde nur zu einem Blutbad führen, das niemandem etwas nützt.« Der Blick des Präsidenten war auf die drei Berittenen gerichtet, die ihre Revolver gezogen hatten und auf die Gruppe um Lincoln zielte. »Dieser Krieg hat schon zu viele sinnlose Opfer gefordert.«
»Ein weises Wort«, lobte Marquand zynisch. »Hoffentlich hören wir das auch, wenn Sie die Regierung im Norden auffordern, alle Kriegshandlungen sofort einzustellen und sämtliche Yankee-Truppen vom Gebiet der Konföderierten Staaten abzuziehen.«
»Das also wollen Sie von mir«, sagte Lincoln.
»Zunächst einmal wollen wir Ihre Waffen«, erwiderte der Mann aus Pittsburgh.
Während Clem, der älteste der McMillan-Söhne, im Sattel blieb und die Waffe schußbereit in der Hand hielt, stiegen seine Brüder Stoker und Angus ab, um die Nordstaatler zu entwaffnen. Dann wurden sie gefesselt, geknebelt, auf die Ladefläche des Wagens verladen und mit einer Plane zugedeckt. Bei Donlevy ersparten sich die Sympathisanten des Südens das Fesseln; der Pinkerton-Mann war zu schwach, um zu fliehen oder ihnen sonstwie gefährlich zu werden. Die beiden Kutschpferde wurden hinten an den Wagen gebunden, und es ging zurück zur McMillan-Farm.
Marquand grinste still vor sich hin und ergötzte sich an dem einen Gedanken: Präsident Abraham Lincoln war sein Gefangener.