157972.fb2
Lory hörte seine Schmerzensschreie, als er sich vom Boden aufrappelte. Der Pinkerton-Mann war mit den Beinen unter dem Gefährt eingeklemmt. Neben ihm lag sein zerbrochenes Henry-Gewehr.
Es war wie eine Ironie des Schicksals, daß die Kutsche fast zur selben Zeit verunglückte wie die USS RAVAGER. Und daß Donlevy unter ihr auf ähnliche Art eingeklemmt wurde wie der Kommandant des Kanonenbootes unter dem herabgestürzten Ruderboot. Als ließe sich das Schicksal nicht die Karten aus der Hand nehmen, auch nicht von Männern wie Abraham Lincoln und Allan Pinkerton.
Die Insassen der Kutsche stießen die nach oben ragende Tür auf und kletterten aus dem Gefährt. Damit erleichterten sie Donlevys Last etwas.
Als der Präsident, der sich eine Platzwunde an der Stirn zugezogen hatte, das Geschehen überblickte, zog er als erster seinen Rock aus und krempelte die Ärmel hoch. »Wir müssen alle anfassen, rasch, und die Kutsche anheben!«
Er war ein sehr großer Mann mit sehnigen Armen, trotz seiner vielen Jahre als Rechtsanwalt und Politiker nicht verweichlicht. Die harten Jahre seiner Kindheit und Jugend hatten ihn geprägt. Im Jahre 1809 in einer Blockhütte in Kentucky geboren, führte er das rauhe Leben eines Grenzers, der vielen Berufen nachging, um sich und seine Familie zu ernähren. Unter anderem war er Holzfäller und Fährmann gewesen und hatte in den Grenzkriegen gegen die Indianer gekämpft.
Jetzt führte er das Kommando, als die fünf Männer sich daran begaben, Donlevy zu befreien. Er zählte bis fünf, und alle stemmten sich vom Boden hoch, die Arme unter die Kutsche geschoben. Sie schafften es, das Gefährt weit genug anzuheben, daß der eingeklemmte Pinkerton-Mann ins Freie kriechen konnte.
Gerade hatten sie den Wagen wieder hinuntergelassen, als ein großer, schlanker Mann in einem grauen Anzug auf sie zugestapft kam. Sein gutaussehendes Gesicht fiel zum einen durch einen goldenen Ring im rechten Ohr und zum anderen dadurch auf, daß es fast so käsig wirkte wie das von Willard Marlow. Während die seltsame Gesichtsfarbe bei Lincolns Privatsekretär ganz einfach eine Folge fehlenden Sonnenlichtes war, dem sich der notorische Bücherwurm so gut wie nie aussetzte, schien sie bei dem Neuankömmling von einer Krankheit herzurühren. Er bewegte sich sehr langsam und schien selbst beim normalen Gehen schon in Schweiß auszubrechen.
Bob Lory stemmte die Fäuste in die Hüften und rief dem Mann entgegen: »Sind Sie etwa dieser gottverlassene Kerl, der uns mit seinem Einspänner einfach von der Straße gedrängt hat?«
Der Mann mit dem Ohrring blieb stehen und stützte sich mit der Hand an einem Eichenstamm ab. Er mußte erst Atem schöpfen, bevor er sprach. »Ja, das bin ich wohl, Mister. Es tut mir leid, aber das Pferd ist mir durchgegangen.«
In Wahrheit hatte er es einfach eilig gehabt, aber das wollte er nicht sagen, um den Grund für seine Eile nicht verraten zu müssen.
Der bärtige Kutscher schüttelte mißbilligend den Kopf. »Wenn Sie mit Ihrem Gaul nicht umgehen können, sollten Sie sich einen anderen kaufen. Sie stellen ja eine Gefahr für die Menschheit dar, Sie...«
Lincoln unterbrach den Redeschwall mit einer beschwichtigenden Handbewegung. »Lassen Sie es gut sein, Mr. Lory. Ich bin sicher, der Gentleman hat uns nicht mit Absicht geschadet.«
Als der Blick des Fremden auf den Präsidenten fiel, sah er ihn an wie eines der sieben Weltwunder. »Sie. Sie sind doch.«
»Lincoln ist mein Name«, sagte der Präsident und fing sich damit einen tadelnden Blick Allan Pinkertons ein. »Abraham Lincoln. Und mit wem haben wir die Ehre?«
»Jennings, Robert Jennings. Ich wußte nicht, daß Sie in der Gegend sind, Mr. President.«
»Das weiß auch sonst kaum einer. Und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn es dabei bleibt.«
»Verstehe«, sagte der bleiche Mann mit dem Ohrring und mußte erneut Atem holen, ehe er weitersprechen konnte. »Sie können sich auf mein Schweigen verlassen, Sir.«
»Danke.« Lincoln nickte leicht mit dem Kopf. »Was ist mit Ihnen, Mr. Jennings? Haben Sie sich ebenfalls verletzt?«
»Es ist eine Schußwunde, die mir zu schaffen macht.«
Pinkerton merkte auf. »Eine Schußwunde? Woher stammt sie?«
»Von einem Räuber, der vor ein paar Nächten in mein Haus eindrang. Ich konnte ihn zum Glück vertreiben. Aber er ließ mir ein schmerzhaftes Andenken zurück.«
»Und damit fahren Sie schon wieder in der Gegend herum?«
»Ich muß. Die Geschäfte dulden keinen Aufschub.«
»Welchen Geschäften gehen Sie nach?«
»Ich bin Viehhändler.«
»Und da geht Ihnen das Pferd durch?« fragte Pinkerton skeptisch.
»Wäre ich gesund gewesen, wäre mir das sicher nicht passiert.«
Donlevy, der sich stöhnend hin und her wälzte, zog die Aufmerksamkeit der Männer auf sich.
»Sein rechtes Bein ist in einem schlimmen Zustand«, stellte Nate Heller, der zweite Pinkerton-Mann, fest. »Es scheint mehrfach gebrochen zu sein. Er braucht dringend einen Arzt. Wir müssen die Kutsche wieder aufrichten.«
»Das wird wenig Zweck haben«, entgegnete Bob Lory, der sich zwischenzeitlich sein Gefährt genau betrachtet hatte. »Die Vorderachse ist gebrochen.«
»Ich würde den Mann in meinem Wagen mitnehmen«, sagte der angebliche Viehhändler. »Aber er kann nur liegen, und mein kleiner Witechapel hat leider keine Ladefläche.«
»Dann müssen Sie uns aus dem nächsten Ort Hilfe schicken«, schlug Lincoln vor.
Der Mann mit dem Ohrring nickte. »Das werde ich tun, Mr. President.«
»Mr. Heller wird Sie begleiten«, sagte Pinkerton und nickte seinem Untergebenen zu. »Er kann den Hilfstrupp zur Unglücksstelle führen. Dann müssen Sie sich nicht extra bemühen, Mr. Jennings.«
»Ist gut«, meinte dieser und wandte sich zum Gehen.
Heller wollte ihm schon folgen, aber sein Vorgesetzter hielt ihn zurück und raunte ihm zu: »Seien Sie vorsichtig, Heller. Ich traue dem Mann nicht.«
Heller nickte knapp. »Ja, Sir.«
Dann folgte er dem Mann in dem grauen Anzug durch das Unterholz, zwischen dem beide verschwanden.
»Warum so mißtrauisch, Allan?« fragte Lincoln. »Dieser Mr. Jennings hat doch offen zu uns gesprochen und auf jede Frage eine gute Antwort gewußt.«
»Ja«, knurrte Pinkerton, »das eben macht mich so mißtrauisch.«
Lincoln schüttelte den Kopf und hätte vielleicht gelacht, wäre das angesichts des Verletzten nicht unangebracht gewesen. »Ihren Beruf möchte ich nicht haben, Allan. So viel Mißtrauen würde mich ins Grab bringen.«
Pinkerton sah seinem Präsidenten mit düsterem Blick in die Augen.
»Zu viel Vertrauen kann genau dieselbe Wirkung haben, Sir.«
*
Jacob starrte in die schwarzen Mündungen der beiden großen Revolver, die Quantrill auf ihn gerichtet hielt, und suchte fieberhaft nach einer Antwort.
Aber was sollte er dem Anführer der Mörderbande auf seine Frage nach Abraham Lincoln schon antworten? Woher sollte er, der deutsche Einwanderer Jacob Adler, wissen, wo sich der Präsident dieses großen, fremden Landes aufhielt? Er hätte nicht einmal sagen können, wo zur Zeit der preußische König Wilhelm und sein Ministerpräsident Bismarck zu finden waren.
»Wo ist Lincoln?« wiederholte Quantrill seine Frage und zog gleichzeitig die Hähne der Waffen zurück.
Seine Stimme klang scharf und durchschnitt die Luft wie ein Messer weiche Butter. Seine Züge wirkten auf einmal hart, gar nicht mehr so weiblich wie zuvor. In seinen blauen Augen brannte ein Feuer, das Jacob nicht recht zu deuten wußte. Es schien weder von unerbittlichem Haß noch von übersteigerter Gier genährt zu werden. Was Quantrill reizte, schien allein Jacobs Weigerung zu sein, seine Frage zu beantworten. Als könnte es der zierliche Mann in der Uniform eines Nordstaaten-Captains nicht ertragen, wenn sich ihm jemand widersetzte. Er schien nicht eher Ruhe geben zu wollen, bis er eine Antwort auf seine Frage erhalten hatte.
»Abraham Lincoln ist.«, begann Jacob zögernd.