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»Er ist. irgendwo.«
Angesichts der tödlichen Waffen, die auf ihn gerichtet waren, fiel Jacob einfach keine bessere Antwort ein. Vielleicht hätte er Quantrill etwas vorlügen sollen. Aber wie, wenn man nicht die blasseste Ahnung davon hatte, wo sich amerikanische Präsidenten aufzuhalten pflegten?
Quantrills Züge verzerrten sich, und das Feuer in seinen Augen schien sich in Flammenstrahlen auf Jacob zu werfen.
»Du verdammter Bastard«, knurrte der Captain. »Dafür wirst du büßen!«
Er hatte kaum ausgesprochen, als er auch schon die Abzüge beider Revolver durchzog. Jetzt leckten wirklich Flammenzungen nach Jacob, verbrannten ihm fast das Gesicht. Die Detonation beider Schüsse, so dicht an seinem Kopf, schien Jacobs Trommelfelle zerreißen zu wollen. Und ein sengender Schmerz fuhr durch seinen Schädel.
*
»Wie heißt der nächste Ort?« fragte Nate Heller, der neben dem Mann mit dem Ohrring in dem kleinen Wagen saß, der mit größtmöglicher Geschwindigkeit über die Landstraße ratterte.
»Stockton.«
»Ihre Heimat?«
»Nein, ich komme aus Louisville. Ich habe in Stockton nur geschäftlich zu tun.«
Viel mehr hatte der Fahrer des Einspänners noch nicht gesagt. Er war sehr in Gedanken versunken.
Alec Marquand, wie der Mann richtig hieß, benötigte Zeit, um die neue Situation richtig einzuordnen. Die Begegnung mit Abraham Lincoln hatte ihn verblüfft. Er hatte gewußt, daß sich der Präsident in der Region aufhalten sollte. Nach seiner Flucht aus Pittsburgh hatte er sich flußabwärts gewandt und in den Städten am Fluß bei den ihm bekannten Agenten der Konföderation Unterschlupf gesucht. Von dem Agenten in Louisville hatte er erfahren, daß sich Lincoln in der Stadt aufhalten sollte und daß ihm Quantrill mit seinen Guerillas irgendwo flußabwärts auflauerte.
Captain Quantrill hatte den Auftrag, Lincoln gefangenzunehmen oder zu töten. Mit dem US-Präsidenten als Geisel hoffte der Süden einen günstigen Friedensschluß herbeiführen zu können. Aber auch ein toter Lincoln schien den Konföderierten von Nutzen zu sein, denn die verlustreichen Schlachten des jetzt schon über zwei Jahre dauernden Krieges hatten im Norden gewichtige Stimmen für eine rasche Beendigung der bewaffneten Auseinandersetzung laut werden lassen.
Aber solange Lincoln, der im vergangenen Jahr die Freiheit aller Sklaven in den Südstaaten proklamiert hatte, an der Macht war, war eine friedliche Beilegung des Konfliktes illusorisch. Lincoln wollte die abgefallenen Staaten unbedingt in die Union zurückholen und den weißen Bewohnern ihre Negersklaven nehmen.
Aber nicht wegen Lincoln war Alec Marquand flußabwärts gefahren, sondern wegen den drei Deutschen: Jacob Adler, Martin Bauer und Irene Sommer. Sie hatten maßgeblichen Anteil am Tod seiner Frau, wie er erfahren hatte. Und er wollte sie dafür zur Rechenschaft ziehen. In Louisville hätte er sie beinah gehabt, aber dann waren sie plötzlich über Nacht verschwunden. Er hatte nur in Erfahrung bringen können, daß sie überraschend eine Passage flußabwärts gefunden hatten. Der Hafen wurde streng kontrolliert, wahrscheinlich wegen Lincolns Anwesenheit. Deshalb hatte er den kleinen Wagen gekauft und den Landweg genommen.
Und dabei war er unerwartet und zufällig dem Präsidenten der Union begegnet, den er doch auf dem Ohio vermutete. Marquand hatte eine Abkürzung nehmen wollen, war aber nach wenigen Meilen zur Rückkehr auf die Landstraße am Fluß gezwungen gewesen, weil sein Weg durch eine umgestürzte Pinie versperrt wurde. In seinem geschwächten Zustand war es ihm unmöglich gewesen, die Straßensperre zu beseitigen. Als er wieder auf die Landstraße einbog, wäre er fast mit der Kutsche kollidiert - mit Abraham Lincolns Kutsche!
Aber wieso nahm der Präsident den Landweg? War es eine bloße Vorsichtsmaßnahme? Oder hatten die Nordstaatler Wind von dem geplanten Anschlag bekommen?
Jedenfalls konnte es nicht bloßer Zufall sein, der ausgerechnet ihn, den Spion der Südstaaten, mit Lincoln zusammentreffen ließ. Es mußte der Wink einer höheren Macht sein, das zu vollenden, was Quantrill und seinen Männern sonst vielleicht mißglückte.
Marquand dachte an alles das, was er durch die Nordstaatler verloren hatte: an seine beim Sklavenaufstand niedergebrannte Plantage; an seinen kleinen Sohn George, der in den Flammen gestorben war; an seine Frau Vivian, die vor einigen Tagen vom Ohio verschluckt worden war. Und er dachte an den Schwur, den er vor den Trümmern seiner Existenz geleistet hatte. Den Schwur, seine ganze Kraft dafür zu verwenden, den Südstaaten zum Sieg zu verhelfen.
Die Würfel waren gefallen. Um diesen Schwur zu erfüllen, würde er seine persönliche Rache zurückstellen. Erst mußte er dafür sorgen, daß Abraham Lincoln in die Hände der Konföderierten fiel. Oder daß der Präsident starb!
Marquand sackte plötzlich zur Seite und ließ die Zügel los. Ohne die straffe Hand des Fahrers kam der Braune aus dem Kurs, und der Einspänner geriet ins Schlingern. Rasch griff Nate Heller nach den Zügeln und hielt den Wagen an.
Besorgt sah er Marquand an. »Fühlen Sie sich nicht wohl, Sir? Soll ich die Zügel übernehmen?«
»Das wäre wohl besser«, sagte Marquand schwach, mit stoßweise gehendem Atem. »Ein plötzlicher Schwächeanfall. Ich weiß auch nicht, wie das kommt.«
»Wahrscheinlich die Aufregung durch den Unfall mit Mr. Lincolns Kutsche«, vermutete der Pinkerton-Mann und wollte das Zugtier wieder antreiben.
Sein anfeuernder Ruf an den Braunen erstarb ihm im Halse, als er die Mündung des Derringers dicht vor seinen Augen sah. Heller erkannte mit geschultem Blick sofort, daß es ein vierschüssiger Sharps Modell 1859 war; die Taschenwaffe, die auch Pinkertons Leute benutzten.
Aber diese Erkenntnis nutzte ihm nichts, kam viel zu spät. Er hatte nicht damit gerechnet, als der bleiche Mann unter seine Jacke griff. Heller hatte angenommen, er wolle seine schmerzende Wunde abtasten.
An eine Waffe hatte er nicht gedacht, denn ein Remington-Revolver hing unschuldig an Marquands rechter Hüfte. Immer wenn die Hand des angeblichen Viehhändlers in die Nähe der schweren Waffe gekommen war, war Heller alarmiert gewesen.
Diese Gedanken schossen Heller in Sekundenbruchteilen durch den Kopf. Dann schoß ihm nur noch der Mann neben ihm durch den Kopf, zweimal, und der Pinkerton Mann fiel tot auf die staubige Straße.
Die Schüsse erschreckten den Braunen, und er wollte durchgehen. Marquand schnappte sich wieder die Zügel und hielt das Tier mit festem Griff und ein paar beruhigenden Zurufen etwa fünfzehn Yards hinter der Leiche an.
Er sah sich nach seinem Opfer um und überlegte, ob er es einfach auf der Straße liegen lassen sollte. Marquand entschied sich dagegen, weil Lincolns Trupp durch das Auffinden des Toten frühzeitig gewarnt werden konnte.
Also zog er die Bremse an, kletterte vorsichtig - weil ihm seine Brustwunde tatsächlich zu schaffen machte - vom Bock und ging das Stück Weg zurück. Heller war ein großer, wuchtiger Mann, und sein Mörder hatte reichlich Mühe, ihn ins Gebüsch zu zerren. Als er es endlich geschafft hatte, bedeckte er den Toten mit Ästen und Farn.
Die Arbeit war so anstrengend für den Mann, in dessen Brust noch vor wenigen Tagen ein Stück Blei gesteckt hatte, daß seine Kleidung schweißgetränkt war. Er war heilfroh, als er wieder auf dem Kutschbock saß und sich anlehnen konnte.
Er wollte die Bremse lösen, mußte aber bei dem Gedanken an die ausgleichende Gerechtigkeit, deren Werkzeug er heute gewesen war, schrill auflachen. Die Kugel, die ihn vor einigen Tagen verwundet hatte, hatte ein Pinkerton-Spitzel abgefeuert, aus einem Sharps Derringer.
Das Lachen erstarb, als Marquand an die Folgen dieser Verwundung dachte. Er hatte die für General Pemberton in Vicksburg bestimmten Revolverkanonen nicht begleiten können und deshalb Vivian gebeten, für ihn einzuspringen. Hätte er das nicht getan, wäre sie heute noch am Leben.
Ein Gedanke schob alle anderen beiseite: Rache!
Alec Marquand würde Rache nehmen an dem Mann, der an allem schuld war. Ohne den es diesen verdammten tödlichen Krieg gar nicht gäbe. Rache an Präsident Abraham Lincoln!
Aber er war zu schwach, es allein zu vollenden. Er benötigte Hilfe. Die Hilfe von Quantrills Reitern, die irgendwo flußabwärts sein mußten. Er mußte die Partisanen finden!
Er löste die Bremse und trieb mit aller ihm noch zur Verfügung stehenden Kraft den Braunen an.
*
Quantrill lachte und lachte, kriegte sich gar nicht mehr ein. Die rauchenden Mündungen seiner Revolver zeigten in den blauen Himmel, als er sich vor Lachen nach hinten bog. Die meisten seiner Männer fielen in seine Lachtirade ein. Einer der wenigen, die ernst blieben, war der große Mann namens Frank, der die Szene so distanziert betrachtete wie ein Kritiker ein Theaterstück.
Jacob mußte sich erst an den Gedanken gewöhnen, daß er nicht tot war. Als Quantrills Waffen loskrachten, hatte er sich schon auf dem Weg in den Himmel gesehen. Oder in die Hölle, was sich im Ergebnis gleichblieb. Aber Quantrill hatte danebengeschossen, was auf die kurze Entfernung Absicht gewesen sein mußte. Die Kugeln waren gegen den Felsen geprallt, an dem Jacob mit dem Rücken saß. Der stechende Schmerz in seinem Schädel rührte von einem Steinsplitter her, der ihn an der Schläfe getroffen hatte.
Als sich Quantrill wieder einigermaßen in der Gewalt hatte, ließ er seine Revolver mit einer geschickten Bewegung in den gar nicht zu seiner Uniform passenden offenen Holstern rechts und links der Hüften verschwinden. Das Feuer, das eben noch in seinen Augen gelodert hatte, war verschwunden, als er seinen Blick wieder auf den deutschen Gefangenen richtete.
»Du kannst dein Glück wohl selbst nicht fassen, eh? Siehst jedenfalls ganz so aus. Aber verlaß dich nicht auf dein Glück, denn irgendwann verläßt es dich.« Quantrill lachte laut über sein Wortspiel. »Das Verhör ist noch längst nicht vorüber, aber wir werden es an einem anderen Ort fortsetzen, wo wir mehr Zeit und Muße haben.«
Der letzte Satz klang wie eine Drohung.
Der Captain wandte sich von Jacob ab und ging einem zehn Mann starken Reitertrupp entgegen, der ohne Eile aus der flußabwärts liegenden Gegend auf Quantrills Trupp zugeritten kam. Auch diese Männer trugen die blaue Uniform der Nordstaatler, gehörten aber offenbar zu den Konföderierten. Denn Quantrills Leute trafen keine Anstalten, ihre Waffen gegen die Neuankömmlinge zu erheben.
»Ihr seht nicht gerade begeistert aus«, sagte Quantrill zu dem vollbärtigen Anführer der Reiter, der die Rangabzeichen eines Lieutenants trug. »Ist etwas schiefgelaufen, Bill?«
Der Bärtige nickte und rutschte aus dem Sattel. »Yeah, leider, Captain. Ein Ruderboot mit mehreren Matrosen kam auf unser Floß zu. Die Matrosen konnten wir abknallen, aber ein Zivilist sprang ins Wasser und schnitt das Halteseil durch. Wir können froh sein, daß wir mit dem Floß heil zurück an Land gekommen sind.«
Quantrills Miene verfinsterte sich. »Was ist mit diesem Zivilisten passiert? Habt ihr ihn wenigstens erwischt?«
»Es sah so aus. Die Strömung hat ihn fortgespült.«