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»Unser Schiff ist überfallen und versenkt worden, von Männern in blauen Uniformen.«
»Also war es ein Rebellenschiff!«
»Nein, es war ein Kanonenboot der Union, die USS RAVAGER. Es ist nur wenige Meilen flußaufwärts passiert.«
»Warum sollten Unionssoldaten ihr eigenes Kanonenboot versenken?«
Martin schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß es so gewesen ist. Wenn wir uns beeilen, können wir vielleicht noch jemanden retten.«
Gerber betrachtete ihn zweifelnd und sagte dann zu dem Sergeant: »Der Mann ist klitschnaß. Haben Sie ihn im Fluß gefunden?«
»Ja, Herr Hauptmann.«
»Ich bin über Bord gesprungen«, erklärte Martin.
Der Offizier strich überlegend über seinen Spitzbart und meinte schließlich: »Ich glaube dir nicht, Bursche. Deine Geschichte paßt hinten und vorn nicht. Dieses Gebiet ist fest in der Hand der Union. Und Unionssoldaten überfallen bestimmt nicht ein Schiff ihrer eigenen Marine. Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, du machst gemeinsame Sache mit den Deserteuren und lügst uns an, um sie zu decken.«
»Ich lüge nicht!«
»Natürlich lügst du. Du hast ja auch gelogen, als ich dich fragte, woher wir uns kennen.« Gerber wandte sich an den Sergeant. »Fesseln Sie den Mann! Wir werden ihn ins Lager bringen und dort einem Verhör unterziehen.«
Er hatte kaum ausgesprochen, als Martin beide Hände um Gerbers rechten Stiefel gelegt hatte und ihm den Fuß wegriß.
Wie ein gefällter Baum krachte der Offizier zu Boden, was Verwirrung unter seinen Männer stiftete. Das Pferd scheute, stieg mit den Vorderhufen in die Luft und traf dabei den Corporal, der die Zügel hielt, an der Stirn. Der Mann stöhnte laut auf und sackte neben seinem Hauptmann nieder.
Martin sprang auf und sah, daß der Sergeant auf ihn schießen wollte. Im letzten Moment schlug Martin dessen Waffenarm nach oben, und die Kugel flog in die Luft. Ein Ellbogenstoß gegen die Brust brachte auch den Sergeant zu Fall.
Dann war Martin bei dem Grauschimmel, beruhigte ihn, so gut es ging, und schwang sich in den Sattel. Auf dem Bauernhof seiner Eltern hatte er recht gut reiten gelernt. Er trieb das Tier an und preschte davon, von lauten Rufen und einer ganzen Schußsalve begleitet. In ihrer Aufregung hatten die Männer nicht richtig gezielt. Die Kugeln klatschten in Baumstämme oder zerfetzten Blattwerk, ließen aber Pferd und Reiter unbehelligt.
Zu Martins Glück war Gerber Hauptmann bei einem Infanterieregiment. Alle übrigen Soldaten waren unberitten und deshalb nicht in der Lage, ihn zu verfolgen. Bald waren sie aus seinem Blickfeld verschwunden.
Er lenkte den Grauschimmel flußabwärts. Irgendwo in dieser
Richtung mußten Irene und Jamie sein.
*
Die McMillan-Farm lag in einem kleinen, von sanft geschwungenen grünen Hängen umgebenen Tal. Alec Marquand atmete erleichtert auf, als das Wohnhaus, die angrenzenden Stallungen und diverse Einzäunungen für Schweine, Ziegen und Hühner vor ihm auftauchten. Die Schußwunde machte ihm auf dem holprigen Kutschbock schwer zu schaffen, und er sehnte sich nach etwas Ruhe.
Nachdem er Nate Hellers Leiche beiseite geschafft hatte und weitergefahren war, war ihm sehr schnell klargeworden, daß sich sein ursprünglicher, in der ersten Überraschung gefaßter Plan vermutlich nicht verwirklichen ließ. Er wußte nicht, wo sich Quantrills Trupp aufhielt. Ihn zu suchen hätte zu viel Zeit gekostet. Wenn die Hilfe zu lange ausblieb, würden Lincoln und seine Begleiter mißtrauisch werden.
Marquand hatte sich an die McMillan-Farm erinnert, die ein Stützpunkt der Konföderierten im Feindesland war. Er kannte McMillan und seine vier Söhne nicht, aber sie sollten treue Verbündete des Südens sein. Mit ihrer Hilfe wollte er Lincolns Bewacher überwältigen und den Präsidenten festsetzen. Wenn das geschehen war, blieb Zeit genug, um nach Quantrill zu suchen.
Je näher er den Farmgebäuden kam, desto unsicherer wurde er. Obwohl die Tiere draußen herumliefen, schien niemand zu Hause zu sein. Vor dem Wohnhaus hielt er den Einspänner an und stieg unter Schmerzen vom Bock.
»Sie bewegen sich hübsch langsam, Mister«, bohrte sich eine rauhe Stimme in seinen Rücken. »Bleiben Sie dabei, sonst spicke ich Sie mit einer Ladung Schrot!«
Marquands Körper erstarrte, aber sein Geist überschlug sich. Er dachte an seine Chancen, den Remington-Revolver an seiner Hüfte oder den Derringer in seiner Jacke zu ziehen, herumzuwirbeln und den Unbekannten hinter ihm auszuschalten. Sein schlechter Gesundheitszustand ließ ihm diese Chancen verschwindend gering erscheinen.
»Darf ich mich umdrehen?« fragte er deshalb höflich.
»Von mir aus. Aber wenn Sie dabei zu schnell sind oder eine ungeschickte Bewegung machen, ist es das letzte, was Sie tun!«
»Ich werde brav sein«, versprach Marquand und drehte sich ganz langsam um.
Er staunte nicht wenig, als er sich einer Frau in den Vierzigern gegenübersah. Ihr faltiges Gesicht verriet, daß sie ein hartes Leben geführt hatte. Ihr hinten zu einem Knoten zusammengebundenes Haar war einmal dunkel gewesen, ging jetzt aber immer mehr ins Graue über.
Ihre Stimme hatte so rauh und tief geklungen, daß Marquand an einen Mann gedacht hatte. Allerdings erschien ihm die Situation jetzt nicht weniger gefährlich, denn die Frau hielt eine doppelläufige Schrotflinte auf ihn gerichtet. Sie stand nur fünf Yards von ihm entfernt; eine Distanz, auf der die Schrotladung ihn zerfetzen würde. Und die Art, wie sie die Waffe hielt, verriet, daß sie mit ihr umzugehen verstand.
»Sie können Ihren Schießprügel wegstellen, Ma'am. Ich bin ein Freund.«
»Ein Freund? Von wem?«
»Von Mr. McMillan. Ich habe eine geschäftliche Besprechung mit ihm. Könnten Sie mich zu ihm bringen?«
»Sicher«, antwortete die Frau, ohne die Position ihrer Waffe zu verändern. »Besuch von Freunden hat Mr. McMillan immer gern. Gehen Sie voran! Dorthin, auf den kleinen Hügel!«
Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung eines Hügels, auf dem einsam eine riesige Eiche mit breiter Krone stand. Marquand konnte dort weit und breit keinen Menschen entdecken. Aber er tat der Frau den Gefallen, in die bewußte Richtung zu gehen. Die doppelläufige Schrotflinte war ein überzeugendes Argument.
Als er auf den Hügel zuschritt, machte sich ein flaues Gefühl in seinem Magen breit. Als würde er zu seiner Hinrichtung gehen. Er rechnete jeden Augenblick damit, einen heftigen Schlag im Rücken zu spüren und das Krachen des großen Schießprügels zu hören. Aber nichts davon geschah. Unbehelligt erreichte er den Hügel, auf dem es außer dem Baum nichts gab als ein schlichtes Holzkreuz.
»Was soll ich hier?« fragte er.
»Lesen Sie, was auf dem Kreuz steht, Mr. Freund!«
Marquand las die ins Holz geritzte, von der Sonne ausgebleichte Inschrift: >Edwin Horace McMillan 1815 - 1860. Ermordet von einer Bande Sklavereigegner.<
»Er. ist schon drei Jahre tot?« fragte Marquand ungläubig.
Die Frau nickte. »Sagen Sie also, was Sie ihm zu sagen haben!«
»Ich hatte gehört, er würde mit seinen Söhnen die Farm bewirtschaften.«
»Deshalb sind Sie hergekommen?«
»Nein, weil ich seine Hilfe brauche.«
»Wobei?«
»Bei einer wichtigen Angelegenheit.«
»Wichtig? Für wen? Für Sie?«
»Nein, nicht für mich. Für den Süden.«
Marquand beobachtete genau das Gesicht der Frau, um ihre Reaktion auf das letzte Wort abzulesen. Aber sie wäre eine hervorragende Pokerspielerin gewesen. Ihre Züge blieben unbewegt.