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»Piet Hansen!«
Er war es ohne Zweifel, wenn auch der Bart nicht mehr ganz so üppig wucherte wie zu der Zeit, als Hansen noch Zweiter Steuermann auf der ALBANY gewesen war. Dafür waren Bart und Haupthaar stärker ergraut, als Jacob es erinnerte.
So, als läge viel mehr als ein knappes Jahr zwischen ihrem Abschied in New York City.
Oder so, als würde der neue Kapitän der ALBANY von schweren Sorgen geplagt.
Das Aufleuchten ins Hansens Augen war nur von kurzer Dauer. Die Freude, die sein Gesicht zeichnete, klang überraschend schnell ab.
»Wir müssen unbedingt einen Schluck zusammen trinken«, sagte Jacob. »Irene ist übrigens auch hier, mit ihrem kleinen Sohn. Wir wollen zu Carl Dilger, der in Kalifornien sein soll. Daß die ALBANY nach San Francisco ausläuft, kommt uns wie gerufen.«
Das Räuspern des dritten Mannes machte Jacob erst bewußt, daß er nicht allein mit dem Seemann war.
Hansens Miene verfinsterte sich noch mehr, als Arnold Schelp sich erkundigte, wer der junge Mann sei.
»Ein Auswanderer, der auf der ALBANY nach Amerika gefahren ist, als ich noch Steuermann auf dem Kahn war«, antwortete Hansen und sagte dann zu Jacob: »Und das ist Arnold Schelp aus Hamburg, dessen Fracht ich nach Frisco bringe.«
»Was ist das denn für eine Fracht?« wollte Jacob wissen.
»Bergbaumaschinen«, sagte Schelp schnell, ehe Hansen antworten konnte. »Die Goldsucher benötigen sie für ihre Minen.«
»Dann sind die Maschinen für Sie so viel wert wie pures Gold, Herr Schelp«, meinte Jacob.
Der Rothaarige lachte trocken.
»Das haben Sie wohl recht, Herr Adler. Hier kann ich zehnmal soviel dafür verlangen wie drüben in Deutschland. -Im Augenblick sind wir in Eile. Wollen wir uns nicht heute abend zum Essen im Hotel treffen?«
»Ja«, sagte Jacob verwirrt.
Er hatte sich das Wiedersehen mit Piet Hansen etwas anders vorgestellt.
»Gut, dann so gegen sieben Uhr«, meinte Schelp und ging mit Hansen weiter.
Jacob stand in der offenen Tür und starrte ihnen lange nach.
Dies schien ein Tag der Überraschungen zu sein.
*
Jamie war in guten Händen, als Jacob und Irene abends ins Hotelrestaurant gingen, um sich mit Piet Hansen und dem seltsamen Herrn Schelp zu treffen. Lorna Kinley, die vierzehnjährige Nichte des Hoteliers, die als Zimmermädchen im Grand Hotel arbeitete, hatte einen Narren an dem kleinen Jungen gefressen; sie war geradezu versessen darauf, auf ihn aufzupassen.
Als die beiden Auswanderer den schmalen Gang von der Empfangshalle zum Restaurant durchquerten, bemerkte die Frau:
»Ich bin schon sehr gespannt auf das Wiedersehen mit dem alten Piet. Er hat uns damals sehr geholfen. Ohne ihn hätten wir nicht einmal englisch gesprochen.«
»Seemannsenglisch«, grinste Jacob bei dem Gedanken an die vielen nautischen Flüche, die in Hansens Sprachunterricht eingeflossen waren.
Schnell wurde er wieder ernst und sagte:
»Piet hat sich sehr verändert, Irene, du wirst schon sehen. Erst hatte ich den Eindruck, er freut sich ebenso wie ich über unser Zusammentreffen. Aber ich habe mich wohl getäuscht. Erwirkte sehr distanziert.«
»Vielleicht war er einfach nur zu überrascht, um seine Freude richtig zeigen zu können.«
»Mag sein«, brummte Jacob ohne Überzeugung.
Hansen und Schelp saßen bereits an einem von Kerzen erleuchteten Tisch. Schelp winkte die beiden heran, während der Seemann ihnen eher kühl entgegenblickte.
Doch dann eröffnete Hansen ihnen, sie könnten selbstverständlich auf der ALBANY nach San Francisco mitfahren, sogar als Kajütenpassagiere.
»Ich weiß nicht, ob wir uns das leisten können«, meinte Jacob zweifelnd. »Ich habe zwar heute unseren Wagen und die Pferde verkauft, aber Kalifornien ist bestimmt nicht billig, wo jeder dort Gold zu finden scheint.«
»Natürlich ist die Reise für euch kostenlos«, sagte Hansen. »Ihr habt so viel für mich getan, daß ich mich freue, mich bei euch revanchieren zu können.«
»Das ist sehr lieb von Ihnen, Piet«, lächelte Irene. »Aber wir können auch auf dem Zwischendeck reisen. Schließlich sind wir daran gewöhnt. Und von Fogerty nach San Francisco ist es gewiß nicht so anstrengend wie von Hamburg nach New York.«
»Als Zwischendeckpassagiere kann ich euch gar nicht mitnehmen«, erwiderte der Kapitän zu Jacobs und Irenes Überraschung.
»Warum nicht?« fragte Irene.
»Weil die Plätze heute abend ausgelost werden. Wenn ich jemanden ins Zwischendeck lasse, der nicht am Losverfahren teilgenommen hat, riskiere ich Mord und Totschlag. Die Zurückbleibenden würden die ALBANY stürmen, sobald sie davon erfahren. Und so voll, wie Fogerty derzeit ist, würden sie bestimmt davon erfahren.«
»Ich verstehe es trotzdem nicht«, schüttelte Irene ihren blonden Lockenkopf. »Als Kajütenpassagiere machen wir Ihnen keinen Ärger?«
»Nein«, bestätigte Hansen. »Die Kajütenplätze sind nicht für das Losverfahren ausgeschrieben. Ich werde sagen, ihr seid gut zahlende Passagiere.«
»Uns soll es recht sein«, nickte Jacob.
Aber dann verdüsterte sich seine Miene. Er dachte an das Zusammentreffen mit der Witwe O'Faolain.
»Allerdings ist da ein Problem«, sagte er zögernd und berichtete von dem Versprechen, das er der Irin gegeben hatte.
»Eine Frau, zwei Männer und ein kleines Kind?« meinte Hansen zweifelnd. »Nicht gerade aus dem besten Stall? Ich weiß nicht, ob ich die auch noch als gut zahlende Kajütenpassagiere ausgeben kann.« Er schüttelte den ergrauten Kopf. »Nein, wirklich nicht.«
»Schade«, sagte Jacob mit ehrlicher Trauer. »Ich hätte mich sehr gefreut, wenn es geklappt hätte. Ich habe noch nicht viele Iren getroffen, die so nett waren wie die Witwe O'Faolain.«
»Natürlich kommen Ihre Freunde mit, Mr. Adler«, sagte Arnold Schelp in einem Ton, als gehöre ihm das Schiff. »Das wäre ja noch schöner, wenn Sie die hier zurücklassen müßten. Sie und Miß Sommer müssen halt ein wenig in der Kajüte zusammenrücken.«
»Das tun wir gern«, atmete Jacob erleichtert auf.
»Außerdem sind wir an Enge gewöhnt«, fügte Irene hinzu.
Sie dachte an das überfüllte Zwischendeck der ALBANY auf der Fahrt nach New York und an die vielen Nächte, die sie und Jamie im Planwagen verbracht hatten, eingeklemmt zwischen Hausrat, Werkzeug und Proviant.
»Das heißt, falls Sie einverstanden sind, Piet«, sagte Jacob und warf dem Kapitän einen fragenden Blick zu.
Gerade noch rechtzeitig war ihm aufgegangen, daß er, Irene und Schelp dabei waren, die Entscheidung über Hansens Kopf hinweg zu treffen. Über ein Schiff zu bestimmen, ohne den Kapitän vorher zu fragen, war nicht nur eine Art Sakrileg, sondern auch blanker Unsinn. Der Kapitän hatte stets das letzte Wort.