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»Wir sind alle an Bord«, lächelte Jacob.
»Verdammter Hund!« brüllte Bartly Connor und stürzte sich mit ausgestreckten Armen auf den morgendlichen Besucher, die großen Hände zu gefährlichen Klauen geformt.
Der Ire war nicht langsam, aber seine alkoholbedingte schlechte körperliche Verfassung machte seine Bewegungen fahrig und vorhersehbar.
Jacob tauchte unter seinen Armen weg und machte einen Ausweichschritt zur Seite.
Bartly Connor streifte ihn nicht einmal. Der kräftige Ire torkelte an dem großen Deutschen vorbei und wurde von seinem eigenen Schwung in den Schmutz der breiigen braunen Masse gerissen, die nur unter großzügigster Verwendung des Begriffes als Straße zu bezeichnen war. Nächtlicher Regen hatte sie zusätzlich aufgeweicht.
Ein wenig mitleidig sah Jacob zu ihm hinab und wollte gerade seine Hand ausstrecken, um dem Gestürzten aufzuhelfen. Da verlor der Zimmermann den festen Boden unter den Füßen. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, sein Oberkörper würde zerquetscht.
Gypo Connor war in stummer Entschlossenheit hinter den Deutschen getreten, hatte seinen Rumpf mit beiden Armen umschlungen, ihn vom Boden aufgehoben und versuchte nun, ihm sämtliche Rippen oder gar das Rückgrat zu brechen.
Jacob wehrte sich mit kräftigen Hieben gegen Kopf und Leib des Iren, aber seine unglückliche Stellung erlaubte keinen entscheidenden Treffer. Außerdem schien Gypo Connor ungefähr so schmerzempfindlich zu sein wie die Panzerplatte eines Kriegsschiffes.
Der schlammbesudelte Bruder Bartly stand ächzend auf und wankte mit geballten Fäusten auf Jacob zu.
»Laß mir noch was von dem Dutch übrig, Gypo«, knurrte er mit zorngerötetem Gesicht. »Ich will ihm mal kräftig die Nase in sein hübsches Gesicht drücken!«
Schon holte Bartlys Rechte zum Schlag auf, da keifte eine Frauenstimme:
»Schwager Bartly, Schwager Gypo, was stellt ihr schon wieder an?«
Die Witwe O'Faolain stand in der Türöffnung, die Hände in der schon bekannten Weise in die breiten Hüften gestützt, und blickte die drei Männer in einer Mischung aus Mißfallen und Verwunderung an.
»Mr. Adler«, sagte sie dann, als sie den Deutschen erkannte. »Was verschafft uns die Ehre Ihres Besuches?«
Der Druck durch Gypos Arme war so fest, daß Jacob kaum noch atmen konnte.
»Runterlassen«, keuchte er.
»Gypo, stell Mr. Adler sofort wieder hin!« befahl die stämmige Frau, die in etwas Wollenes gehüllt war, das man irgendwo zwischen Schlafrock und Decke ansiedeln mußte.
Der kräftige Ire gehorchte und gab in einem Anfall unerwarteter Gesprächigkeit einen Grunzlaut von sich. Jacob nahm an, daß es eine Mißfallensbekundung war. Vielleicht aber wollte der Mann sich auch bei seiner Schwägerin oder gar bei dem Deutschen entschuldigen.
Jacob war es letztlich gleich. Hauptsache, er konnte wieder frei atmen.
Vornübergebeugt, mit auf die Knie gestützten Händen, stand er da und sog die frische Morgenluft in tiefen Zügen in sich hinein. Dann richtete er sich langsam auf und betastete seinen Oberkörper, um zu prüfen, ob noch alle Knochen heil waren.
»Gypo hat Ihnen doch nicht weh getan, Mr. Adler?« fragte die Witwe O'Faolain besorgt.
»Wie kommen Sie darauf?« meinte Jacob und stellte erleichtert fest, daß trotz heftiger Schmerzen in seinem Brustkorb noch alles heil zu sein schien.
»Dann ist es ja nicht so schlimm«, befand die Frau und sah ihre Schwäger strafend an. »Trotzdem muß ich mich für euch wohl schämen, Schwager Bartly und Schwager Gypo. Wie könnt ihr den armen Mr. Adler nur so erschrecken?«
»Der Dutch wollte uns verhöhnen«, rief Bartly mit offener Empörung und schüttelte drohend seine noch immer zur Faust geballte Rechte in Jacobs Richtung. »Er sagte mir ins Gesicht, die ALBANY würde bald auslaufen und wir sollten uns deshalb beeilen.«
Katie O'Faolains Gesicht zeigte weiterhin Verärgerung. Aber jetzt schien sie Jacob zu gelten.
»Das ist wirklich kein feiner Zug von Ihnen, Mr. Adler«, sagte sie kopfschüttelnd. »Das hätte ich von Ihnen nicht gedacht. Dabei machen Sie einen so höflichen Eindruck.«
»Ich verstehe Sie nicht«, erwiderte Jacob. »Was habe ich getan?«
»Wir haben gestern abend bei der Auslosung keine Plätze auf der ALBANY erwischt«, erklärte die Frau. »Und jetzt kommen Sie und verspotten uns auch noch. Ich kann Schwager Bartly nur recht geben, das ist kein feiner Zug!«
»Ich verspotte Sie keineswegs«, lächelte Jacob, erleichtert darüber, daß er endlich die Beweggründe der Iren verstand. »Ich habe mit dem Kapitän des Schiffes gesprochen. Er ist ein alter Bekannter und hat uns einen Kajütenplatz auf der ALBANY zugesichert.«
»Und?« fragte die Witwe O'Faolain scharf. »Glück für Sie, Mr. Adler. Was hat das mit uns zu tun?«
»Eine Kajüte ist für Miß Sommer und mich allein viel zu groß. Ich wollte Sie deshalb fragen, ob Sie die Kajüte während der Fahrt nach San Francisco mit uns teilen möchten.«
Katie O'Faolain starrte den Deutschen für eine halbe Minute an, als sei er eins der sieben Weltwunder. Dann stürzte sie auf ihn zu, schlang ihre Arme um ihn und überschüttete ihn mit einer Kanonade saftiger, schmatzender Küsse.
»Mr. Adler«, keuchte sie, als sie endlich von ihm abließ. »Sie sind der beste, freundlichste, höflichste Deutsche in den ganzen Vereinigten Staaten. Ich könnte Sie auf der Stelle heiraten!«
»Hm, vielen Dank«, brummte Jacob. »Aber ich schätze, dazu ist keine Zeit. Die ALBANY wird nicht auf uns warten.«
Dann verabschiedete er sich schnell auf später an Bord, bevor der Witwe O'Faolain einfallen konnte, daß auch Schiffskapitäne Trauungen vornehmen konnten.
*
Die Witwe O'Faolain und ihre Familie kamen ebenso pünktlich an Bord wie Jacob, Irene und Jamie.
Auch die Glücklichen, die das Losverfahren zu Zwischendeckpassagieren bestimmt hatte, drängten sich, mit ihrer Habe bepackt, rechtzeitig über die Planken auf den Dreimaster. Die Goldfelder Kaliforniens lockten und vertrieben jeden Müßiggang.
Jeder, der an Bord kam, mußte seinen Namen nennen. Der Zweite Steuermann, ein gedrungener Deutsch-Amerikaner namens Joe Weisman, strich den betreffenden Namen auf seiner Liste durch. Dann erst gaben ein paar kräftige, mit Knüppeln bewaffnete Seeleute den Weg zu den Decksaufbauten frei, wo die Treppe zum Zwischendeck hinunterführte.
Vor dem Anlegeplatz der ALBANY hatte Captain Stout seine kleine Garnison mit aufgepflanzten Bajonetten einen Halbkreis bilden lassen, um das auslaufende Schiff im Notfall gegen die zu verteidigen, die zurückbleiben mußten.
Aber kaum einer von ihnen ließ sich im Hafen blicken. Vielleicht wollten sie sich den Schmerz ersparen, dem Schiff nachzublicken, das Kurs auf das heiß ersehnte Kalifornien nahm.
Jacob hatte das Gepäck in der Kajüte, die er und Irene sich mit den Iren teilten, verstaut und ging auf Deck, weil er Piet Hansen noch gar nicht gesehen hatte. Irene blieb mit ihrem quengelnden Sohn unten.
Unterwegs stellte Jacob zu seiner Verwunderung fest, daß die Nebenkajüte offenbar nicht belegt war. Das verwunderte ihn, versprach jeder freie Platz an Bord doch ein gutes Entgelt. Seit dem großen Goldrausch von 1849 waren Schiffspassagen nach San Francisco nicht mehr so begehrt gewesen. Auf Deck fragte er den nächstbesten Seemann nach dem Grund.
»Es kommen noch Passagiere, Sir«, lautete die undeutliche, von einem ordentlichen Priem behinderte Antwort. »Glaube, da sind sie.«
Er zeigte mit schmutzigen Fingern an Land, wo gerade eine geschlossene Kutsche nach kurzer Kontrolle den Schutzwall der Blauuniformierten passierte.
Vor einer der Planken hielt die Kutsche an, und der Fahrer lud das Gepäck vom Dach, um es an Bord zu bringen. Für drei Menschen waren es nicht sonderlich viele Sachen.
Mit Interesse beobachtete Jacob die neuen Kajütenpassagiere.
Zwei waren Männer, einer davon mit deutlich südlichem Einschlag. Beide waren gut gekleidet, wenn auch längst nicht so auffällig wie Arnold Schelp.
Am meisten interessierte sich Jacob aber für die Frau, die in Trauer zu sein schien. Nichts, aber auch gar nichts war von ihr zu sehen außer schwarzem Stoff. Sogar ihr Gesicht lag hinter einem dunklen Schleier, und ein schwarzes Netz bedeckte das Haar.