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Das Deck krängte stark, als die Phalarope wie blind auf einen neuen Kurs ging. Bolitho wußte nicht mehr, wie oft das Schiff die Richtung gewechselt hatte, ebensowenig, wie lange das Gefecht schon dauerte. Nur eins wußte er genau: daß die Andiron ihn ausmanövrierte. Noch immer hielt sie sich in Luv und deckte ihn ab. Seine Kanoniere wurden durch ein neues Mißgeschick behindert. Der Wind ließ nach, und sie feuerten nunmehr blind in eine dicke Rauchwand, die vor dem anderen Schiff lag und sich mit dem Pulverqualm der unregelmäßigen Abschüsse der Phalarope vermengte. Der Qualm wirbelte vielfarbig durcheinander, als der amerikanische Freibeuter den Angriff fortsetzte.
Einmal, als ein launischer Windstoß den Vorhang aus Pulverqualm zerriß, hatte Bolitho das Mündungsfeuer der Andiron sehen können, lange, orangefarbene Flammen, die nacheinander aufzuckten, sobald die Geschütze gerichtet waren und ihre Kugeln die knappe Viertelmeile herüberschickten, die zwischen den beiden Fregatten lag.
Die Andiron feuerte noch. Die Kugeln kreischten durch die Takelage und zerfetzten die verbliebenen Segel. Sie beabsichtigte, die Phalarope zu entmasten. Vielleicht hegte der Kapitän den Plan, sie als Prise unter eigenem Kommando zu segeln, wie schon die Andiron.
Die langen Neunpfünder auf dem Achterdeck rollten zurück. Ihre scharfen, bellenden Abschüsse betäubten Bolitho. Er blickte in den Pulverqualm und dann über sein Schiff. Nur auf dem Achterdeck herrschte noch so etwas wie Ordnung. Fähnrich Farquhar stand an der Heckreling. Von dort aus erteilte er den Geschützführern Befehle. Rennies Seesoldaten standen ebenfalls fest. Der Pulverdampf nahm ihnen die Sicht, doch sobald das feindliche Schiff in dem erstickenden Rauch sichtbar wurde, eröffneten sie von ihrer Position hinter den Backskisten aus das Feuer.
Auf dem Hauptdeck sah es anders aus. Bolithos Augen wanderten über das Chaos aus aufgerissenen Planken und menschlichen Körperteilen. Die Batterien feuerten noch, aber in größeren Abständen und weniger treffsicher.
Bolitho hatte über den Erfolg der ersten Breitseite gestaunt. Ihm war klar, daß sich der Mangel an Ausbildung später hemmend auswirken mußte, doch auf einen so guten Auftakt hatte er nicht zu hoffen gewagt. Die doppelt geladenen Kanonen hatten fast gleichzeitig gefeuert. Er hatte gesehen, wie das Schanzkleid der anderen Fregatte zersplitterte, und beobachtet, wie die Kugeln in den Rumpf schlugen oder durch die dicht gedrängten Kanoniere fetzten. Einen Augenblick hatte es den
Eindruck erweckt, daß sie das Gefecht erfolgreich durchstehen könnten.
Durch den wabernden Pulverdampf sah er, daß Herrick langsam von einem Steuerbordgeschütz zum anderen ging, mit den Kanonieren sprach und jedes Geschütz selber richtete, ehe er dem Geschützführer erlaubte, die Abzugsleine zu ziehen. Auf der Steuerbordseite wäre das eigentlich die Aufgabe von Okes gewesen, aber vielleicht war Okes, wie so viele andere, schon gefallen. Bolitho musterte jede Einzelheit des quälenden Bildes, das die Phalarope jetzt bot. Er fühlte sich benommen, aber Auge und Verstand funktionierten in kalter Übereinstimmung, wodurch Qualen und Leiden nur um so deutlicher hervortraten.
Aus dem Ganzen hoben sich kleine Bilder heraus, und wo Bolitho auch hinschaute, alles gemahnte schmerzlich an den noch zu zahlenden Preis. Viele waren tot. Wieviele, wußte er nicht. Manche waren tapfer gestorben, bei der Bedienung ihrer Geschütze, bis zuletzt Rufe der Ermutigung oder Flüche auf den Lippen. Manche starben langsam und schrecklich. Ihre zerrissenen Leiber lagen verkrümmt in den Blutlachen, die das Deck überzogen.
Andere waren weniger tapfer. Mehr als einmal hatte er sehen müssen, wie sich Männer totstellten und sich zwischen den beiseitegeschobenen Leichen verbargen, bis die Maate sie mit Stößen und Schlägen zurück an ihre Stationen trieben.
Trotz Rennies Wachen waren einige unter Deck geflohen, wo sie sich jetzt wahrscheinlich wimmernd die Ohren zuhielten und in der Bilge lieber dem Tod durch Ertrinken entgegensahen, als auf Deck dem Tod durch die Geschütze der Andiron.
Bolitho hatte beobachtet, wie der Pulverjunge zerrissen wurde. Und über dem Donnern des Gefechts hörte er, was er dem Jungen erst vor drei Wochen gesagt hatte:»Du wirst England wiedersehen. Sei unbesorgt. «Nun war der Junge ausgelöscht, als ob er nie existiert hätte.
Oder der Matrose Betts: im Bramsegel verstrickt, hatte er um sein Leben gekämpft. Der Mann, den er benutzt hatte, um die Autorität des Kapitäns unter Beweis zu stellen. Äxte hatten die Stenge losgehackt. Auf und ab tanzend, hatte sie sich vom Schiff gelöst, ehe sie, einen Teil der Takelage wie eine Schleppe hinter sich herziehend, im Pulverqualm verschwand. Die Stenge war am Achterdeck vorbeigetrieben, und einen
Augenblick hatte er Betts heraufstarren sehen. Den Mund weit aufgerissen, ein schwarzes Loch, hatte der Mann die Faust geschüttelt. Eine nutzlose Geste, doch sie kam Bolitho wie der Fluch der ganzen Welt vor. Danach hatte sich die Stenge um sich selber gedreht, und bevor sie achtern zurückblieb, hatte Bolitho noch gesehen, wie Betts Füße aus dem Wasser ragten und einen sinnlosen Tanz vollführten.
Wieder klatschten Kugeln durch das Großsegel und heulten über das Wasser. Bolitho riß die Augen von dem Blutbad. Es konnte nicht mehr lange dauern. Die Andiron hatte leicht angeluvt. Über der Rauchbank, die die feindliche Fregatte verbarg, sah er ihre oberen Rahen und die durchlöcherten Segel, als würden sie in der Luft schweben, und las aus ihrer Stellung ab, daß die Andiron auf Position ging, um die Phalarope durch langsame, sorgfältig gezielte Schüsse zur Aufgabe zu zwingen.
Bolitho erkannte seine eigene Stimme nicht, als er automatisch und ohne zu zögern seine Befehle erteilte.»Lassen Sie den Zimmermann die Pumpen untersuchen. Und der Bootsmann soll mehr Leute nach oben schicken, um die Besanwanten zu spleißen. «Es lag nicht mehr viel Sinn darin, aber das Spiel mußte nach den Regeln beendet werden. Er kannte keinen anderen Weg.
Sein Blick fiel auf einen alten Geschützführer an einem Zwölfpfünder unterhalb des Achterdecks. Dem Mann waren Müdigkeit und Anstrengung anzusehen, doch seine heisere Stimme klang gelassen, ja geduldig, als er seine Mannschaft nachladen ließ.»So ist's recht, Jungs. «Er blinzelte durch den Dunst, während einer seiner Leute die Kartusche hineinrammte und ein anderer die glänzende Kugel in die klaffende Mündung stopfte. Ein Splitter aus der Geschützpforte riß ihm den Arm auf. Aber er stöhnte kaum und wickelte sich einen schmutzigen Lappen um den Oberarm, ehe er hinzusetzte:»Stoß die Kugel kräftig hinein, Junge! Wir woll'n doch nicht, daß das Ding wieder rausrollt. «Er bemerkte, daß Bolitho ihn beobachtete, und bleckte vor Stolz oder Schmerz die fleckigen Zähne. Dann bellte er:»Fertig! Ausrennen!«Die Räder quietschten, als die Kanone vor- und dann zurückrollte, sobald der alte Mann die Abzugsleine zog.
Vibart tauchte an der Reling auf. Seine Gestalt glich einem festen, blauweißen Felsen. Er wirkte grimmig, aber unerschüttert, und wartete, bis die Neunpfünder gefeuert hatten und zurückgerollt waren, ehe er rief:»Kein Wasser im Schiff, Sir. Sie hat keinen Treffer unterhalb der Wasserlinie abbekommen.»
Bolitho nickte. Der Amerikaner dachte sicher an eine Prise. Es würde nicht lange dauern, die Phalarope in einer der Werften überholen zu lassen, die die Briten aufgeben mußten, als sie sich vom amerikanischen Kontinent zurückzogen.
Die Erkenntnis stachelte Bolitho an. Die Phalarope kämpfte um ihr Leben, doch die Mannschaft wurde ihr nicht gerecht. Er wurde ihr nicht gerecht. Er hatte das Schiff und jeden Mann an Bord in diese Situation gebracht. Alle Hoffnungen und Versprechungen waren jetzt bedeutungslos. Schande und Versagen waren die einzige Alternative zu Untergang und Tod.
Selbst wenn er sich dem Angriff der Andiron hätte entziehen wollen, jetzt wäre es zu spät gewesen. Die Brise ließ mehr und mehr nach, und die von den kreischenden Kanonenkugeln zerrissenen Segel waren nahezu nutzlos.
Ein Seesoldat krallte die Hand vor das klaffende rote Loch in der Stirn, ehe er zwischen seine Kameraden stürzte. Jedes Wort dehnend, befahl Hauptmann Rennie:»Auffüllen! Wozu, zum Teufel, glaubt ihr, seid ihr da?«Und zu Sergeant Garwood sagte er zynisch:»Notieren Sie den nächsten Mann, der ohne Erlaubnis stirbt.»
Überraschenderweise lachten einige Seesoldaten, und als Rennie merkte, daß Bolitho herübersah, zuckte er bloß mit den Schultern, als verstünde auch er, daß alles Teil eines gräßlichen Spiels war.
Das Schiff stampfte, und die Segel dröhnten protestierend, als der abflauende Wind die klatschende Leinwand traf. Bolitho zischte den Rudergänger an:»Achten Sie auf das Ruder! Schiff auf Kurs halten!»
Doch einer der Rudergänger war gefallen. Aus seinem Mund strömte Blut über die Planken. Ein anderer Mann, ständig auf einem Stück Tabak herumkauend, tauchte von irgendwoher auf und nahm seinen Platz ein.
«Die Steuerbordbatterie ist ein wildes Durcheinander«, knurrte Vibart.»Wenn wir von Backbord her angreifen könnten, hätten wir Zeit, sie zu reorganisieren.»
Bolitho sah ihn fest an.»Die Andiron ist im Vorteil. Aber ich beabsichtige, ihr Heck zu kreuzen.»
Vibart spähte mit kalten, kalkulierenden Augen querab.»Das wird uns die Andiron nie erlauben. Sie hämmert uns in Stücke, ehe wir eine Kabellänge weit sind. «Er sah Bolitho an.»Wir werden die Flagge streichen müssen. «Seine Stimme bebte.»Viel mehr können wir nicht mehr einstecken.»
Bolitho erwiderte ruhig:»Das will ich nicht gehört haben, Mr. Vibart. Gehen Sie nach vorn, und bringen Sie die ganze Batterie wieder auf Vordermann. «Es klang kalt und endgültig.»Wenn zwei Schiffe sich im Gefecht gegenüberliegen, kann nur eins siegen. Und für die Phalarope entscheide ich über den Ablauf der Dinge.»
Vibart zog die Schultern hoch, als ginge es ihn nichts an.»Wie Sie meinen, Sir. «Während er zum Niedergang schritt, äußerte er rauh:»Ich habe gesagt, daß die Leute Fehler nicht respektieren.»
Bolitho spürte Probys Hand auf dem Arm. Er wandte sich um. Sorge zeichnete das kummervolle Gesicht.»Das Ruder, Sir, reagiert nicht! Die Rudertalje ist gebrochen.»
Bolithos Blicke flogen über Probys runde Schultern zum Rudergänger. Er drehte das Rad hin und her, doch ohne Wirkung, und das Schiff lief aus dem Ruder und begann träge abzufallen. Die unvermutete Bewegung versetzte das Hauptdeck in Aufregung. Schreie ertönten, als die Fregatte sich auf die Seite legte und die Stückpforten sich plötzlich gen Himmel hoben.
Bolitho fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. Erst dabei merkte er, daß ihm der Hut vom Kopf geflogen war. Der Wimpel am Masttopp flatterte kaum noch. Ohne Druck in den Segeln war das Schiff der See ausgeliefert, bis es die Flagge strich oder vernichtet wurde. Eine neue Rudertalje anzubringen, würde gut eine Stunde erfordern. Doch bis zu diesem Zeitpunkt. . Bolitho spürte, wie es ihm kalt über den Rücken lief. Er legte die Hände um den Mund.»Feuer einstellen!»
Die plötzliche Stille schreckte mehr als das Bellen der Kanonen. Man hörte jetzt das Scheuern und Schaben der Rundhölzer, das Gurgeln des Wassers und das Klappern der hin- und herschwingenden Teile der Takelage. Selbst die Verwundeten schienen überwältigt. Keuchend lagen sie da und stierten zu dem reglosen Kapitän an der Achterdeckreling hinauf.
Wie eine letzte Beleidigung trieb ein wildes Hurrarufen mit dem Pulverqualm über das Wasser zur Phalarope herüber. Hört sich wie das Gebell einer Meute an, dachte Bolitho bitter. Wie das Bellen von Hunden, die zum Sprung an die Kehle ansetzen.
Der Qualm riß keilförmig auf. In der Lücke erschien der Bug der Andiron, der lange Finger ihres Bugspriets. Sonnenstrahlen spielten über ihre Galionsfigur und schimmerten auf gezückten Entermessern und erhobenen Enterspießen. Immer mehr Teile des feindlichen Schiffes wurden sichtbar, und Bolitho erkannte, daß die Mannschaft der Andiron auf den Punkt zudrängte, an dem die Schiffe sich berühren würden. Andere, mit Enterhaken bewaffnet, kletterten auf die Rahen hinaus, bereit, die zwei Schiffe fest aneinander zu klammern. Damit stand das Ende nahe bevor.
«Diese Bastarde«, murmelte Stockdale neben Bolitho.»Diese Bastarde.»
Bolitho bemerkte Tränen in Stockdales Augen und wußte, daß der Bootsmann sein Elend teilte.
Die Flagge wehte in einem leichten Windstoß plötzlich aus. Bolitho wagte nicht hinaufzusehen. Ein trotziger Fleck Rot. So rot wie die Röcke der Seesoldaten und die Blutlachen, die durch die Speigatten wegsickerten, als ob das Schiff vor seinen Augen verblutete. Neue Wut durchfuhr ihn, und er mußte die Finger um den Degengurt klammern, damit ihm die Hände nicht zitterten.
«Holen Sie Mr. Brock! Los, im Laufschritt!»
Bolitho sah, wie Fähnrich Maynard losrannte, vergaß ihn aber, als sein Blick über die Männer glitt. Sie waren erschöpft. Die Anstrengungen der Schlacht hatten sie erledigt. Sie zeigten kaum noch einen Funken Kampfgeist. Bolithos Finger krampften sich um den Degengriff, und er spürte Verzweiflung. Im Geiste sah er seinen Vater und viele andere seiner Familie vor sich. Sie hatten sich der Mannschaft zugesellt und beobachteten ihn schweigend.
Proby sagte heiser:»Ich habe ein paar Männer zum Spleißen der Rudertalje abkommandiert, Kapitän. «Er wartete und zerrte an den Knöpfen seines schäbigen Rockes.»Es war nicht Ihre Schuld, Sir. «Er bewegte sich unruhig unter Bolithos festem Blick.»Geben Sie nicht auf, Sir. Noch nicht.»
Brock kam auf das Achterdeck und salutierte.»Sir?«Er steckte noch in den Filzschuhen, die er stets in dem dunklen Magazin trug. Die plötzliche Stille und das Maß der Zerstörung an Deck schienen ihn zu betäuben.
«Mr. Brock, ich habe einen Auftrag für Sie. «Bolitho lauschte der eigenen Stimme und spürte, daß ihn die neue Entschlossenheit anfeuerte wie Brandy.»Ich wünsche, daß jede Steuerbordkanone mit Kettengeschossen geladen wird. «Er warf einen Blick auf die sich immer bedrohlicher nähernde Andiron. »Sie haben zehn Minuten Zeit, es sei denn, der Wind frischt auf.»
Brock nickte und eilte wortlos davon. Es war nicht seine Art, einen offenbar sinnlosen Befehl in Frage zu stellen. Eine Order des Kapitäns, das war alles, was er brauchte.
Bolithos Blicke schweiften über das Hauptdeck, über die Toten, die Verwundeten und die noch einsatzfähigen Kanoniere. Langsam sagte er:»Es geht um eine letzte Breitseite, Leute. «Die Worte fegten seine Illusion hinweg, den Männern mit einer leeren Geste zu kommen.»Jede Kanone wird mit Kettengeschossen geladen, und jede ist auf äußerste Richthöhe einzustellen.»
Die Männer regten sich. Ihre Bewegungen waren so unbestimmt und unsicher wie die alter Männer. Doch Bolithos Worte schienen ihnen neue Kraft zu geben.
«Ladet«, setzte er energisch nach,»aber rennt die Kanonen nicht aus, ehe der Befehl kommt.»
Ein Kommando schleppte die unhandlichen Kettengeschosse heran: zwei durch dicke Kettenglieder verbundene Kugeln für jede Kanone.
«Die Andiron ist schon sehr nahe, Sir«, sagte Hauptmann Rennie leise.»Kann nicht mehr lange dauern, bis sie uns entern. «Spannung lag in den Worten.
Bolitho blickte beiseite. Einerseits fühlte er plötzlich den Wunsch, die Außerordentlichkeit seiner Entscheidung jemandem mitzuteilen, andererseits spürte er zugleich das Ausmaß der eigenen Einsamkeit. Sein letzter Versuch konnte völlig fehlschlagen. Er würde den Feind in eine wahnsinnige Wut treiben, die dann nur das Hinmetzeln seiner gesamten Mannschaft besänftigen konnte.
Herrick blickte ohne zu blinzeln zum Achterdeck.»Alle
Kanonen geladen, Sir. «Er reckte die Schultern, wie um seinen zerschlagenen Männern Vertrauen zu schenken.
Bolitho zog den Degen. Er hörte, daß die Seesoldaten hinter ihm die Bajonette aufpflanzten und auf den glitschigen Planken einen festen Stand suchten.
«Steuerbordkarronade feuerklar, Mr. Farquhar!«rief er.»Alles bereit?»
Aus zusammengekniffenen Augen verfolgte er, wie der Bugspriet der Andiron sich dem Schanzkleid der Phalarope näherte. Ihre Wasserstagen und das Rigg wimmelten von Männern. Der Kapitän der Andiron mußte seine Geschütze entblößt haben, um ein so großes Enterkommando zusammenzustellen. Einmal an Bord, würden die Feinde die Phalarope überschwemmen, ganz gleich, welchen verzweifelten Widerstand seine Männer noch leisteten.
Farquhar schluckte schwer.»Bereit, Sir.»
«Sehr gut. «Zwischen derAndiron und der Phalarope klafften kaum noch zwanzig Fuß, das dreieckige Stück Wasser zwischen den Schiffen schäumte in einem verrückten Tanz.»Wenn ich falle, hören Sie auf Mr. Vibarts Kommando. «Er sah, daß der junge Offizier zum Ersten hinüberblickte.»Wenn nicht, achten Sie auf mein Signal.»
Der Bugspriet der Andiron stieß zwischen die Großwanten der Phalarope, und das Enterkommando brach in höhnisches Gebrüll aus.
Bolitho rannte zum Hauptdeck hinunter und sprang, den Degen hoch erhoben, auf den Steuerbordlaufgang. Ein paar Pistolenschüsse pfiffen an ihm vorbei, und eine Kugel zerrte an seinem Ärmel wie eine unsichtbare Hand.
«Werft die Enterer zurück!»
Die Kanoniere starrten unsicher und betroffen zum Kapitän hinauf, ihre Kanonen noch immer binnenbords und untätig.
Herrick sprang neben den Kapitän. Seine Augen blitzten, als er rief:»Vorwärts, Leute! Erteilen wir ihnen eine Lehre.»
Irgendwo erklang ein schwaches Hurra, und die nicht an den Geschützen beschäftigten Männer drängten zum Laufgang hinauf. Würden ihre Dolche und Spieße gegen den Druck der Enterer etwas ausrichten?
Neben Bolitho sank ein Mann schreiend zu Boden. Ein anderer fiel nach vorn über Bord und wurde zwischen den
Schiffsrümpfen zerquetscht.
Bolitho sah, daß die Offiziere des Kaperschiffs ihre Männer antrieben und die Scharfschützen auf ihn aufmerksam machten. Kugeln umpfiffen ihn, und die Schreie und Rufe steigerten sich zu einem einzigen, furchterregenden Gebrüll.
Die Schiffsrümpfe erbebten nochmals, und die Lücke begann sich zu schließen. Bolitho spähte nach achtern zu Farquhar. Das Achterdeck mit seinen gefallenen Seesoldaten schien weit entfernt. Aber als er, schnell und schneidend, den Degen nach unten senkte, registrierte er, daß der Fähnrich die Abzugsleine zog, und spürte, daß das Mündungsfeuer wie Glutwind an seinem Gesicht vorbeischoß.
Der Karronadenschuß bestand aus fünfhundert zusammengepreßten Musketenkugeln. Er fuhr wie eine Sense zwischen die brüllenden Enterer. Das Bombardement zerfetzte sie zu einem blutigen Wirrwarr aus Flüchen und Schreien. Die Enterer zögerten, und ein junger Leutnant sprang vom Bugspriet der Andiron auf das Deck der Phalarope, ohne daß ihm einer seiner Leute folgte. Seine Schreie erstarben, als ein großer Seemann mit der Axt zuschlug und der Körper zwischen die Rümpfe der Schiffe stürzte. Schon war er vergessen.
«Achtung, Kanoniere!«rief Bolitho wild.»Ausrennen! Ausrennen!»
Er versperrte seinen Leuten mit dem Degen den Weg nach vorn.»Zurück. Alle zurück!»
Die kleine Mannschaft schob sich nach hinten. Die Wendung der Dinge verwirrte sie. Doch Herrick begriff. Fast erstickt vor Erregung rief er:»Alle Kanonen ausrennen!»
Bolitho sah, daß die Männer des Kaperschiffs, die den Karronadenschuß überlebt hatten, sich auf ihre Gefechtsstationen zurückzogen, betroffen und bestürzt durch die ausgerannten und auf sie gerichteten Geschütze der Phalarope.
«Feuer!»
Bolitho wäre beinahe über Bord gestürzt, als die gesamte Batterie unter ihm feuerte, doch Stockdale packte ihn beim Arm. Die Luft vibrierte von den unmenschlichen Schreien, die aufgellten, als die Kettengeschosse wie ein alles vernichtender, eiserner Wirbelsturm durch die Takelage der Andiron jagten. Vormast und Großstenge stürzten gleichzeitig. Das herunterkommende Gut und die Segel zerschmetterten die restlichen
Enterer oder fegten sie ins Meer, und über die Stückpforten legten sich die Segel wie eine Decke. Der Rückstoß der Breitseite drückte die Schiffe auseinander. Zwischen ihnen trieben Schiffstrümmer und Leichen.
Bolitho lehnte sich an die Netze; er atmete schwer.»Nachladen! Weiterfeuern!«Was auch als nächstes kommen würde, die Phalarope hatte gebieterisch gesprochen und hart zugeschlagen.
Der stolze Umriß der feindlichen Fregatte war zerbrochen, die Wanten und Segel baumelten wirr durcheinander. Wo vor Minuten ihr Vormast aufragte, stand jetzt nur noch ein gezackter Stumpf, und die hallenden Hurrarufe waren Schmerzensschreien und totaler Verwirrung gewichen. Doch die Andiron schob sich am Bug der Phalarope vorbei, verfolgt von einer neuen unregelmäßigen Salve und dem zornigen Bellen eines Neunpfünders vom Vorderdeck. Dann war sie klargekommen, raffte ihre zerfetzten Segel zusammen wie ein Kleid, um ihre Wunden zu bedecken, und glitt leewärts in die Bank aus Qualm und Pulverdampf.
Bolitho beobachtete sie. Sein Herz hämmerte, und seine Augen tränten vor Anstrengung und Erregung. Die Minuten zogen sich hin. Dann wurde ihm klar, daß die Andiron nicht wenden würde. Sie hatte genug.
Fast wankend kehrte er auf das Achterdeck zurück. Rennies Seesoldaten grinsten ihm entgegen, und Farquhar lehnte an einer rauchenden Kanone, als traue er seinen Augen nicht. Dann begannen sie, Hurra zu rufen. Zuerst klang es schwächlich, gewann aber an Stärke und Kraft, als alle Decks einstimmten. Teilweise schwang Stolz darin, teilweise Erleichterung. Einige Männer schluchzten hemmungslos, andere vollführten auf dem blutverschmierten Deck Freudensprünge.
Herrick kam nach achtern gerannt, den Hut schief auf dem Kopf. Seine Augen glänzten vor Aufregung.»Sie haben es ihnen gegeben, Sir! Mein Gott, Sie haben ihnen eins versetzt. «Unfähig, sich zu beherrschen, preßte er Bolithos Hand. Sogar Proby grinste.
Bolitho nahm alle Kraft zusammen.»Ich danke Ihnen, meine Herren. «Er blickte über die verwüsteten Decks, spürte Schmerz und blindes Frohlocken zugleich.»Nächstes Mal machen wir es besser. «Er machte kehrt und drängte sich durch die Hurra rufenden Seesoldaten zum dunklen Kajütsniedergang.
Wie durch einen Nebel hörte er hinter sich Herricks Ausruf:»Ich denke nicht an das nächste Mal, Jungs. Das reicht mir für eine Weile.»
Bolitho stand in dem engen Gang, atmete schwer und lauschte auf das erregte Reden und Lachen. Sie sind dankbar, ja sogar glücklich, wurde ihm langsam klar. Vielleicht war die Rechnung alles in allem doch nicht zu hoch.
Es gab viel zu tun, ehe das Schiff wieder einsatzfähig sein würde. Er betastete den abgegriffenen Degengriff und starrte erschöpft auf die Decksbalken. Aber das mußte noch etwas warten. Wenigstens einen Augenblick.
Herrick lehnte schwer an der Vordeckreling und wischte sich mit dem Handrücken die Stirn. Nur die schwache Andeutung einer Brise kräuselte die ruhige See vor dem sanft eintauchenden Bug. Die Sonne senkte sich zum Horizont, ihr glühendes Spiegelbild wartete bereits darauf, sie zu empfangen. Bald würde die Nacht heraufkommen und die Wunden der Phalarope verbergen.
Herrick spürte, wie ihm die Beine zitterten. Wiederum versuchte er sich einzureden, daß es von der Müdigkeit herrührte, von der Anstrengung, die der Tag mit seiner fortwährenden Arbeit gebracht hatte. Kaum eine Stunde nach dem Verschwinden des Kaperschiffs war Bolitho, das dunkle Haar wieder säuberlich im Nacken zusammengebunden, frisch rasiert und ohne ein Stäubchen auf der Uniform, auf das Achterdeck zurückgekehrt. Nur die Falten um die Mundwinkel und die Ruhelosigkeit in seinen Augen verrieten etwas von seinen Gefühlen, als er seine Befehle erteilte und daranging, den Schaden, den Schiff und Mannschaft erlitten hatten, zu beheben.
Anfänglich hatte Herrick das für unmöglich gehalten. Die Erleichterung der Männer war nach und nach in Ermattung umgeschlagen. Manche Matrosen lagen auf den schmutzigen Decks wie Marionetten, deren Schnüre gerissen waren. Andere standen einfach herum und starrten gleichgültig auf die Nachwirkungen des Alptraums.
Mit Bolithos plötzlichem Auftauchen hatte eine Aktivität eingesetzt, die sich niemand richtig erklären konnte. Offiziere und Mannschaften waren durch die kurze, doch schreckliche
Begegnung mit dem Feind zu erschöpft, um sich dagegen auflehnen zu können. So waren die Toten an die Leereling gebracht und in Segeltuch eingenäht worden, armselige, namenlose Bündel.
Von der Back bis zum Achterdeck waren die Leute schrubbend auf den Knien über die Decks gerutscht. Begleitet vom Klicken der Pumpen und dem gleichgültigen Rauschen des Seewassers, hatten sie die dunklen Flecke von den Planken entfernt.
Die zerfetzten und nutzlosen Segel wurden abgeschlagen und durch neue ersetzt. Tozer, der Segelmacher, und seine Leute hockten an jedem nur verfügbaren Platz. Die Nadeln blitzten, während sie alles, was noch brauchbar war, flickten und ausbesserten.
Ledward, der Zimmermann, ging langsam von einer Stelle zur anderen, machte sich hier eine Notiz, nahm dort Maß, bis er zuletzt soweit war, seinen Teil zur Wiederherstellung der Seetüchtigkeit der Fregatte beizutragen. Sogar jetzt, während Herrick die Schrecken des Bombardements noch einmal durchlebte und nochmals die Schreie und das Stöhnen der Verwundeten hörte, waren die Hämmer und Sägen geschäftig, und ganze Teile der Außenhaut wurden neu geplankt und sollten am folgenden Morgen geteert und bemalt werden.
Wieder überlief Herrick ein Schauer, und er fluchte, als die Beine fast unter ihm nachgaben. Es war nicht nur Ermüdung, es war der Schock. Das wußte er nun.
Er rief sich seine Eindrücke während der Schlacht zurück, seine stupide Erleichterung und seine laut geäußerten, spaßhaften Bemerkungen, als der Feind abdrehte und verschwand. Es war ihm vorgekommen, als höre er einem anderen zu, der weder schweigen noch Haltung bewahren konnte. Am Leben und unverletzt zu sein, hatte einfach mehr bedeutet als alles andere.
Während der Himmel hinter dem sich langsam bewegenden Schiff dunkler wurde, prüfte er seine wahren Empfindungen und versuchte, seine Erinnerungen zu ordnen.
Er hatte sogar den kurzen Kontakt, den er zu Bolitho gefunden hatte, wiederzugewinnen versucht. Er war zum Achterdeck gegangen, von dem der Kapitän auf die arbeitenden Leute sah, und hatte gesagt:»Sie haben uns gerade rechtzeitig gerettet, Sir. Noch eine Minute, und man hätte uns mit einer vollen Breitseite bedacht. Eine geschickte List, beizudrehen. Dieser Freibeuter war verschlagen, kein Zweifel.»
Bolitho hatte den Blick nicht vom Hauptdeck gelöst. Seine Antwort hatte geklungen, als spräche er zu sich selber.»Die Andiron ist ein altes Schiff und seit zehn Jahren hier draußen. «Und mit einer knappen Geste zum Hauptdeck:»Die Phalarope aber ist neu. Jede Kanone ist mit dem neuen Steinschloß ausgestattet, und Karronaden sind bisher fast nur in der Kanalflotte bekannt. Nein, Mr. Herrick, da gibt es nicht viel zu gratulieren.»
Herrick hatte Bolithos Profil studiert. Zum erstenmal war er sich des Kampfes bewußt geworden, den der Kapitän ausfocht.»Wie dem auch sei, Sir, die Andiron war uns batteriemäßig weit überlegen. «Er hatte nach einem Zeichen jenes Bolitho Ausschau gehalten, den er mit dem Degen in der Hand an Deck gesehen hatte, während ihn die Kugeln wie Hagel umpeitschten. Aber das erwartete Zeichen war ausgeblieben. So hatte er lahm hinzugefügt:»Sie werden sehen, Sir, nach dieser Geschichte sieht alles anders aus.»
Bolitho hatte sich aufgerichtet, als schüttele er ein unsichtbares Gewicht ab. Seine grauen Augen waren kalt und gefühllos, als er ihn schließlich ansah.
«Hoffentlich haben Sie recht, Mr. Herrick. Was mich betrifft, so hat mich das Durcheinander angewidert. Ich wage nicht daran zu denken, was bei einem Kampf bis zum bitteren Ende geschehen wäre.»
Herrick hatte gespürt, daß er rot wurde.»Ich dachte nur. .»
«Wenn mir an der Meinung meines Dritten liegt, werde ich es ihn wissen lassen. Bis dahin, Mr. Herrick, seien Sie bitte so freundlich, Ihre Leute an die Arbeit zu schicken. Für Hypothesen und Lobsprüche ist später Zeit. «Er hatte sich abgewandt und seinen Gang über das Achterdeck wieder aufgenommen.
Herrick sah, wie der Trupp des Arztes einen leblosen Körper heranschleppte und ihn zu den anderen legte. Dabei erinnerte er sich einer grauenvollen Szene.
Herrick hatte gemeinsam mit dem Zimmermann das Zwischendeck inspiziert. Die Phalarope hatte zwar keine Einschüsse unterhalb der Wasserlinie abbekommen, aber er betrachtete es als seine Pflicht, sich mit eigenen Augen zu überzeugen. Obwohl er vom Lärm des Gefechts noch immer betäubt war, folgte er, von der halbabgeblendeten Laterne wie hypnotisiert, dem Zimmermann Ledward an den massiven Spanten vorbei durch die unteren Decks. Als sie durch einen Vorhang traten, sahen sie sich plötzlich einer Szene gegenüber, die aus der Hölle zu stammen schien.
Kreisförmig angeordnete Laternen erleuchteten das Bild so, daß er alles wahrnehmen mußte, ob er nun wollte oder nicht. Im Mittelpunkt des gelben Lichtscheins lag, festgebunden und verkrümmt wie das Opfer auf einem Altar, ein schwerverwundeter Seemann, dem Tobias Ellice, der Wundarzt, das Bein amputierte.
Ellices dickes, ziegelrotes Gesicht zeigte keinerlei Ausdruck, während seine blutigen Hände die Säge führten. Sein Doppelkinn stieß im Takt der Bewegung immer wieder gegen den oberen Rand seiner blutgetränkten Schürze. Seine Gehilfen mußten ihre ganze Kraft aufwenden, um das sich windende Opfer auf dem Deckel einer Seekiste festzuhalten, die als Operationstisch diente. Bei jedem Stoß der Säge rollte der Mann mit den Augen und biß auf den Lederriemen zwischen seinen Zähnen, daß ihm das Blut aus den Lippen spritzte.
Außerhalb des Lichtkreises warteten andere Verwundete, daß sie an die Reihe kämen. Manche stützten sich auf die Ellenbogen, als könnten sie sich von dem grauenvollen Schauspiel nicht losreißen. Andere stöhnten und schluchzten im Schatten. Aus einigen sickerte das Leben heraus und ersparte ihnen die Qual von Säge und Messer. Die Luft war zum Schneiden dick vor Blut- und Rumgeruch, denn Rum war das einzige Betäubungsmittel.
Ellice schaute hoch, als der Mann wild um sich schlug und ohnmächtig wurde. Er sah Herricks verzerrtem Gesicht den Schrecken an und sagte mit dicker, trunkener Stimme:»Das ist ein Tag, Mr. Herrick. Ich nähe und flicke, ich säge und untersuche, aber trotzdem haben sie es eilig, zu ihren Gefährten da oben zu kommen. «Seine feuchten Augen kehrten sich zum Himmel, und er nahm einen Schluck aus der Lederflasche.»Wollen Sie auch einen, Mr. Herrick?«Er hob die flache Lederflasche ins Licht.»Nein? Na gut, ich brauche jedenfalls eine kleine Stärkung.»
Dann nickte er seinem Gehilfen kaum merklich zu, der seinerseits auf einen Mann an der gewölbten Schiffswand deutete. Der Mann wurde ohne Verzug gepackt und auf den Tisch geschleppt. Ellice wischte sich den Mund und riß ihm, ohne die Schreie des armen Kerls zu beachten, das Hemd von dem zerfetzten Arm.
Herrick machte mit schweißüberströmtem Gesicht kehrt, während ihm die Schreie des Verwundeten in den Ohren gellten. Doch er blieb wie festgenagelt stehen, als er Bolitho dicht hinter sich sah. Der Kapitän ging langsam von einem Verwundeten zum anderen. Er sprach ihnen Mut zu, aber so leise, daß Herrick die Worte nicht verstehen konnte. Hier ergriff er die ausgestreckte Hand eines Mannes, die blind nach Trost suchte, dort drückte er einem Toten die Augen zu. Einmal blieb er kurz unter der schwankenden Laterne stehen und fragte:»Wieviele, Mr. Ellice? Wie hoch sind die Verluste?»
Ellice grunzte nur und gab seinen Gehilfen ein Zeichen, daß er mit der schlaffen Gestalt auf den Laken fertig war.»Zwanzig Tote, Kapitän. Zwanzig Schwerverwundete und dreißig so halb und halb.»
In diesem Augenblick hatte Herrick Bolitho ohne Maske gesehen. Sein Gesicht spiegelte Schmerz und Verzweiflung wieder. Und sofort hatte er seinen Ärger wegen der Bemerkungen, die der Kapitän auf dem Achterdeck fallen ließ, vergessen. Der Bolitho, den er an Deck seinen Degen schwingen sah, war der wahre. Genau wie der, den er bei den Verwundeten und Toten erlebte.
Herrick starrte auf die in Leinwand eingenähten Körper. Er versuchte vergeblich, den auf jedes Bündel gekrakelten Namen mit dem dazugehörigen Gesicht in Verbindung zu bringen. Doch die Gesichter waren bereits verweht wie der Rauch der Schlacht, in der die Männer gefallen waren.
Herrick fuhr hoch, als Leutnant Okes langsam über das im Schatten liegende Hauptdeck herankam. Seit dem Gefecht hatte er Okes kaum gesehen.
Herrick erinnerte sich. Kurz nachdem der Knall des letzten Schusses im Pulverrauch verhallte, war Okes mit wild rollenden Augen, die zeigten, daß er die Herrschaft über sich verloren hatte, durch einen Niedergang heraufgestolpert. Er schien vor Furcht und Schrecken außer sich zu sein. Seine Augen irrten über die rauchenden Mündungen — über die Kanonen seiner Batterie, die er im Stich gelassen hatte.
Dann hatte er Herrick beim Arm gepackt und ungestüm und verzweifelt hervorgestoßen:»Ich mußte kurz nach unten, Thomas. Ich mußte die Kerle suchen, die fortgerannt waren. Du glaubst mir doch, nicht wahr?»
Herricks Verachtung und Zorn schwanden, als ihm klar wurde, daß Okes vor Furcht halb verrückt war. Die Tatsache erfüllte ihn teils mit Mitleid, teils mit Scham.»Leise, Mann!«Herrick sah sich nach Vibart um.»Verdammter Narr! Nimm dich zusammen!»
Jetzt blieb Okes kurz bei den Leichen stehen und ging dann weiter zum Heck. Auch er durchlebte nochmals sein Elend, war verstört über seine Feigheit und Schande.
Herrick fragte sich, ob der Kapitän Okes' Verschwinden während des Gefechts bemerkt hatte. Vielleicht nicht. Möglicherweise findet Okes wieder zu sich zurück, überlegte er grimmig.
Fähnrich Neale hastete über das Hauptdeck heran. Herrick spürte Sympathie für den Jungen, der während des Gefechts nicht geschwankt hatte. Er hatte beobachtet, wie er mit Befehlen über die Decks rannte, wie er den Männern seiner Abteilung schrill etwas zurief oder auch nur mit weit aufgerissenen Augen auf seiner Station stand.
Herrick unterdrückte ein Lächeln, als der Junge scharf haltmachte und salutierte.»Mr. Herrick, Sir. Eine Empfehlung vom Kapitän, und Sie möchten die Vorbereitungen für die Beisetzung übernehmen. «Er rang nach Atem.»Es sind insgesamt dreißig, Sir.»
Herrick rückte seinen Hut zurecht und nickte.»Und wie fühlen Sie sich, Fähnrich?»
Der Junge zuckte mit den Schultern.»Hungrig, Sir.»
Herrick grinste.»Mästen Sie eine Ratte mit Bisquit, Mr. Neale. Schmeckt allemal so gut wie Kaninchen. «Er ging nach achtern. Neale starrte mit tief gerunzelter Stirn hinter dem Dritten her. Dann ging er langsam an den Buggeschützen vorbei, tief in Gedanken versunken. Schließlich nickte er.»Ja, vielleicht versuche ich's mal«, sagte er leise.
Bolitho schwamm der Kopf. Er ließ sich gegen den Sessel zurücksinken und starrte auf die Berichte auf seinem Tisch. Das war geschafft. Er rieb sich die entzündeten Augen und stand auf.
Durch die großen Fenster sah er das Mondlicht auf dem schwarzen Wasser. Er konnte das leise Plätschern am Ruder unter sich hören. Er fühlte sich noch immer wie benommen. Zu viele Befehle hatte er erteilen müssen, zu viele Anforderungen waren auf ihn zugekommen.
Segel und Tauwerk waren auszubessern. Eine Reservespiere mußte die Bramstenge ersetzen. Mehrere Boote waren beschädigt, ein Kutter völlig havariert. Immerhin, wenn er die Leute hart antrieb, würde man die äußerlichen Schäden, die die Phalarope in dem Gefecht erlitten hatte, bald kaum noch bemerken. Doch die Narben bleiben im Herzen jedes Mannes, dachte er müde. Er rief sich das leere Deck zurück, sah nochmals, wie er im schwindenden Licht vor den Toten stand, und hörte sich die üblichen Worte der Begräbniszeremonie sprechen. Fähnrich Farquhar hatte die Laterne über dem Buch gehalten. Seine Hand hatte nicht gebebt.
Er mochte Farquhar noch immer nicht leiden. Aber im Kampf hatte er sich als erstklassiger Offizier erwiesen. Das machte vieles weit. Als der letzte Tote ins Wasser klatschte, um die Reise in die Tiefe von zweitausend Faden anzutreten, drehte er sich um. Zu seiner Überraschung sah er, daß sich das Deck in aller Stille gefüllt hatte. Keiner der Leute sagte etwas. Nur hier und da ein schwaches Hüsteln, und einer der Jüngeren schluchzte unbeherrscht.
Sollte er etwas sagen, sich ihnen mitteilen, so daß sie begriffen? Seine Augen glitten von Herrick, der neben dem Posten stand, zu Vibart, dessen Gestalt sich an der Reling des Achterdecks gegen den Himmel abzeichnete. Einige Sekunden lang waren sie eins gewesen, verknüpft durch das Band von Leid und Verlust. Worte hätten den Augenblick verdorben. Jede Ansprache hätte billig geklungen. So war er aufs Achterdeck gegangen und am Ruder stehengeblieben.
«Kurs Südsüdwest liegt an, Sir«, meldete der Rudergänger.
Danach war er in die Kajüte zurückgekehrt: den einzigen Ort, an dem er allein sein konnte.
Er schaute ärgerlich hoch, als Stockdale hereinkam. Stockdale musterte ihn eindringlich.»Ich habe Ihrer Ordonnanz gesagt, daß sie das Abendbrot bringen soll, Kapitän. «Er blickte mißbilligend auf den Stapel Seekarten und Berichte.»Schweinefleisch, Sir. Schön aufgeschnitten und gut gebraten. Ich habe mir erlaubt, dazu eine Flasche von Ihrem Rotwein aufzumachen, Sir.»
Bolithos Spannung mußte sich Luft machen.»Was schnatterst du da, zum Teufel?«Stockdale ließ sich nicht abschrecken.»Wenn Sie wollen, lassen Sie mich für meine Worte auspeitschen, Sir, aber es war ein Sieg. Wir sind alle stolz auf Sie. Ich denke, Sie haben einen Schluck Wein verdient. »
Bolitho starrte ihn an und fand keine Worte.
Stockdale legte die Papiere zusammen.»Und mehr, denke ich, Kapitän, viel mehr.»
Während Bolitho schweigend zusah, wie sein Bootsführer ihm den Tisch für sein einsames Mahl deckte, zog die Phalarope in der leichten Brise still unter den Sternen dahin.
Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang hatte sie viel geleistet. Dank ihres Kapitäns lagen noch viele Tage vor ihr.