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Es war hell genug, um den fliehenden Mann zu sehen, der gerade einen großen Torflügel aufzog und in einem dunklen Schuppen verschwand.
Hatte Bremer die beiden Verfolger gesehen? Jacob vermochte es nicht zu sagen.
Er rannte mit Elihu quer über den Hof auf den Stall zu. Sie passierten den zur Hälfte entladenen Wagen, unter dessen Räder der Deutsche vorhin auf dem Portsmouth Square fast geraten war. Die Pferde waren ausgeschirrt. Weder sie noch der Kutscher waren zu sehen.
Jacob erreichte den Schuppen zuerst und zog den Torflügel auf. Drinnen war es fast stockdunkel. Keine einzige Lampe brannte. Das schwache Licht, das jetzt vom Hof einfiel, enthüllte immerhin, daß es sich um einen Lagerschuppen handelte. Lange, hohe Reihen von Kisten und Fässer versperrten den beiden Männern die Sicht.
»Der verfluchte Kerl ist schon wieder verschwunden«, stellte Elihu fest.
»Vielleicht steckt er irgendwo zwischen dem Lagergut«, sagte Jacob leise. »Da gibt es genügend Verstecke.«
»Ob es einen Hinterausgang oder ein Fenster gibt?« überlegte der Harpunier. »Dann könnte sich Bremer von uns unbemerkt davonstehlen.«
»Ein guter Gedanke, Eli. Lauf um den Schuppen herum und sieh nach. Ich passe hier am Tor auf.«
Der Seemann nickte und war noch nicht lange um die Ecke verschwunden, als Jacob ein verdächtiges Geräusch hörte. Es kam aus dem Schuppen. Da war es wieder! Ein Keuchen, schnell und heftig. Wie von einem Mann, der außer Atem war.
Louis Bremer! durchfuhr es Jacob. Jetzt habe ich dich!
Er betrat den Schuppen und ließ den Torflügel halb offen stehen, damit er etwas sehen konnte.
Beobachtete Bremer ihn?
Oder verließ sich der kleine Mann nur auf sein Gehör?
In Hinblick auf die zweite Möglichkeit setzte Jacob vorsichtig einen Fuß vor den anderen, bemüht, keine unnötigen Geräusche zu verursachen. Außerdem fiel es ihm auf diese Art leichter, den Ursprung des heftigen Keuchens zu lokalisieren.
Dort mußte Bremer sein, hinter einem Stapel Fässer, die stark nach Petroleum rochen!
Der rattengesichtige Mann war mit ziemlicher Sicherheit bewaffnet. Also zog Jacob das am Nachmittag erbeutete Haifischmesser, bevor er zwischen die großen Fässer trat. Da brach das Verhängnis über ihn herein... Sie stürzten hinter den Fässern hervor, von allen Seiten. Kräftige Männer, bewaffnet mit Knüppeln und Schlagringen. Jacob konnte nicht sagen, wie viele es waren. Dazu war es zu dunkel, und es ging zu schnell. Auf jeden Fall waren es zu viele.
Der Auswanderer benötigte nur wenige Sekunden, um sich von seiner Überraschung zu erholen. Dann wehrte er sich nach besten Kräften gegen die Übermacht.
Ein Angreifer entwand ihm das Messer. Der hünenhafte Deutsche schlug ihm die bloße Faust mit solcher Wucht mitten ins Gesicht, daß der Getroffene mit einem gurgelnden Laut zu Boden sackte und sich dort nicht mehr rührte.
Jacob steckte ein paar üble Schläge an den Kopf und in die Magengegend ein. Den Augenblick seiner Benommenheit nutzten zwei der Gegner, um seine Arme festzuhalten. Sie glaubten den Deutschen jetzt wehrlos.
Grinsend trat ein schlanker Mann auf Jacob zu, dessen Anwesenheit den Auswanderer völlig überraschte.
»Stanford!« rief der junge Deutsche.
»Yeah, Dutch«, knurrte der Steuermann der gesunkenen LUCIFER. »Das zweitemal heute, daß du mir in die Falle gehst. Und diesmal wird es nicht so glimpflich für dich ablaufen !«
Er hob die zur Faust geballte Rechte und zeigte dem Auswanderer das Metall des Schlagrings, das im vom Hof einfallenden Licht gefährlich schimmerte.
Als er zum Schlag ausholte, bäumte Jacob sich auf. Zwar gelang es ihm nicht, seine Arme aus der festen Umklammerung zu reißen. Aber er hob beide Füße, zog sie an und rammte sie mit voller Wucht gegen Stanfords Brustkasten.
Mit einem rasselnden Pfeifen entwich die Luft aus Stanfords Lungen.
Der Steuermann taumelte nach hinten, ruderte hilflos mit den Armen in der Luft, stolperte über eins der Fässer und fiel mit lautem Poltern zu Boden.
Die Strafe folgte umgehend. Frenchy und Petrov, Stanfords unvermeidliche Gefolgsleute, stürzten vor und hieben mit schweren Knüppeln auf den Deutschen ein, bis dieser halb besinnungslos zwischen den beiden Männern hing, die seine Arme hielten.
Wahrscheinlich hätten sie Jacob totgeschlagen, hätte sie nicht eine scharfe Stimme zurückgerufen.
Sie gehörte Louis Bremer, der aus dem Halbdunkel der Fässer trat und den sich stöhnend am Boden wälzenden Stanford mit einem verächtlichen Blick streifte.
»Der Hai will Adler lebend haben!« fuhr Bremer Frenchy und Petrov an.
»Ich auch!« rief eine rauhe Stimme vom Eingang des Schuppens. »Aber auf das Leben von euch Dreckskerlen pfeife ich. Also macht keinen Ärger, sonst drücke ich ab!«
Jacob hob den schmerzenden Kopf und sah Elihu, der im geöffneten Tor stand. Der Harpunier hielt Stanfords Remington-Revolver in der Rechten.
Louis Bremer verlor keine Zeit. Mit einer raschen Bewegung brachte er sich an Jacobs Seite und drückte etwas Scharfes, metallisch Schimmerndes gegen den Hals des Deutschen. Es war das alte Krummesser des ehemaligen Schustergesellen, das heute einem Menschen das Leben genommen hatte.
»Geh von meinem Freund weg, du miese Ratte!« schrie Elihu. »Sonst jage ich dir eine Kugel in den Wanst!«
»Vielleicht tust du das, Seemann«, erwiderte Bremer gelassen. »Aber selbst dann schaffe ich es noch, deinem Freund die Gurgel durchzuschneiden!«
Jacob wagte kaum zu atmen, so dicht spürte er die Klinge an seiner Haut. Er bezweifelte den Wahrheitsgehalt von Bremers Worten keine Sekunde. Schoß Elihu auf den kleinen Mann, würde dieser den Auswanderer mit in den Tod nehmen.
»Dann sterbt ihr beide!« fauchte der Harpunier.
Trotz der angespannten Lage wagte Bremer ein Lächeln.
»Du hast es erfaßt, Teerjacke. Fragt sich also nur, ob dir das Leben deines Freundes etwas bedeutet.«
Elihu wollte etwas erwidern, zögerte dann aber. Allmählich wurde ihm bewußt, daß seine Position trotz des schußbereiten Revolvers alles andere als rosig war. Hilfesuchend richtete er seinen Blick auf Jacob.
Der Auswanderer war ganz und gar nicht darauf erpicht, sich Bremer und seinen Schlägern auszuliefern. Aber alles andere hätte Jacobs Tod bedeutet.
Was er als noch viel schlimmer empfand: Noch immer wußte er nichts über Irene und Jamie. Doch er hielt es für ziemlich sicher, daß sie Hilfe benötigten.
Seine Hilfe.
Als Leiche konnte er ihnen schlecht beistehen.
Deshalb sagte er widerwillig:
»Steck die Waffe weg, Eli! Wir haben keine Chance -leider.«
Zögernd entspannte der Harpunier den zurückgezogenen Hahn und ließ langsam die Rechte mit dem Remington sinken, bis die todbringende Mündung zu Boden zeigte.
»Sehr schön, Seemann«, grinste Bremer. »Ein weiser Entschluß. Und jetzt laß die Kanone einfach zu Boden fallen!«
Kaum war Elihu dem Befehl nachgekommen, da stürzten sich auch schon ein paar der Männer auf ihn, schlugen ohne Notwendigkeit auf ihn ein und hörten auch nicht damit auf, als er am Boden lag.