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Liam O'Rourke drehte sich immer wieder im Sattel um und sah nach dem Cartland-Wagen. Daß sich die Cartlands Patrick und ihm angeschlossen hatten, hatte ihn am meisten überrascht. Sie gehörten zu den Auswanderern, die bereits vom Stockton Lake an bei den Zacharys gewesen waren.
Aber Abner Zachary war tot wie auch Elmer Cartland. Seine beiden schon erwachsenen Söhne Leo und Matt dachten pragmatischer als ihr Vater. Der nebulöse Traum vom Gelobten Land in Oregon galt ihnen weniger als die sehr viel konkretere Vorstellung von einem Haufen Goldnuggets in ihren Händen. Ihr Vater war gestorben, ohne seinem Gelobten Land auch nur nahegekommen zu sein. Leo und Matt wollten etwas von dem Risiko haben, das sie eingingen. Und das schien nun einmal in den Goldfeldern Kaliforniens viel leichter möglich zu sein.
Sie hatten sich gleich für den Plan der Iren erwärmt und schließlich auch ihre Mutter und ihre Schwester überredet. Seit Elmer Cartlands Tod war seiner Witwe sowieso alles ziemlich gleichgültig.
Daß sich die Cartlands ihnen angeschlossen hatten, war für die O'Rourkes, die so viele Niederlagen gegen die Zacharys und Jacob Adler hatten einstecken müssen, eine kleine Wiedergutmachung, fast eine Art bescheidener Triumph.
Leo Cartland, der neben dem von seiner Mutter gelenkten Wagen hergeritten war, fing Liam O'Rourkes Blick auf und trieb den alten, dürren Fuchs an, der seinem Vater gehört hatte. Als er den Iren an der Treckspitze erreicht hatte, zügelte er sein Pferd, bis es mit Liams Quarterhorse im Schritt ging.
»Wir erreichen bald den Geistercanyon«, sagte der junge Mann aus Missouri mit besorgtem Gesicht und zeigte nach vorn.
Der Ire lachte rauh und stellte dafür sogar sein bisher unablässiges Herumkauen auf einem Priem für einige Sekunden ein. »Mir ist der Geistercanyon lieber als das Phantom der Rocky Mountains. Und viel lieber als eine Horde skalpsüchtiger Roter!«
»Ich meine es ernst, Mr. O'Rourke. Falls es die Roten tatsächlich auf uns abgesehen haben, sollten wir nicht im Geistercanyon übernachten. Die Felswände stehen dort so eng beieinander, daß uns die Rothäute auf die Köpfe spucken können.«
»Ich rechne nicht mit einem Überfall der Roten«, meinte der Ire gelassen und fügte schnell hinzu: »Nicht hier jedenfalls. Die werden sich eher an den Dutch und seine Leute halten. Dort gibt es mehr für sie zu holen. Außerdem ist das verräterische Halbblut bei denen, nicht bei uns. Was den Geistercanyon betrifft, hast du natürlich recht, Leo. Würden wir dort übernachten, säßen wir in der Falle.«
O'Rourke wandte den Kopf um und sah zu der in ihrem Rücken langsam sinkenden Sonne.
»Bis Sonnenuntergang haben wir noch fast drei Stunden, würde ich sagen. Der Geistercanyon ist nicht sonderlich lang. Und wir kommen gut voran. Wenn die Sonne untergeht, haben wir ihn längst hinter uns gelassen und uns einen sicheren Lagerplatz gesucht.«
Leo nickte zufrieden und sah doch nicht recht glücklich aus.
Das ständige Mahlen seiner Zähne und das Zucken in seinem Gesicht verriet, daß ihn etwas stark beschäftigte. Etwas, das der wahre Grund für seine Unterhaltung mit Liam O'Rourke war. Daß sie den Geistercanyon rechtzeitig passieren würden, hätte er sich auch leicht selbst ausrechnen können.
»Was hast du, Junge?« fragte O'Rourke deshalb. »Was beschäftigt dich? Spuck es schon aus!«
»Es geht um unsere Leute«, begann der flachsblonde Jüngling umständlich. »Ich meine die, die wir zurückgelassen haben.«
»Yeah. Und?«
»Ist es richtig, daß wir sie allein lassen, wenn sie in Gefahr sind? Alle zusammen hätten wir größere Chancen, einen Überfall der Roten zurückzuschlagen.«
»Sie hätten ja mit uns kommen können«, erwiderte der Ire und spuckte einen Strahl braunen Tabaksaftes in den Dreck. »Die Chance dazu hatten sie. Hätten Sie meinen Bruder Pat oder mich zum Captain gewählt, hätten wir schon auf sie aufgepaßt. Dieser Dutch wird sie alle in den Tod führen. Aber sie wollen es ja nicht anders. Sollen wir uns deshalb auch von den Wilden massakrieren lassen? Soll es uns so gehen wie deinem Vater, der von Adler in den Tod gelockt wurde? Willst du, daß es deiner Mutter, deinen Schwestern, deinem Bruder und dir auch so ergeht?«
Leo schüttelte heftig seinen Kopf, und seine von Selbstzweifeln geplagten Züge verhärteten sich.
»Nein, Sir, das will ich nicht.«
»Na, siehst du«, meinte der Ire zufrieden und zeigte nach hinten. »Da wartet nur der Tod auf uns.« Er deutete voraus. »Dort aber unser Glück und eine Menge großer Goldklumpen.«
Von O'Rourkes kehligem, zufriedenen Lachen begleitet, wandte Leo den Fuchs um und ritt zurück ans Ende des Trecks.
Keine Viertelstunde später erreichten sie den Geistercanyon. Sie wußten weder, wer dem engen, mehrfach gewundenen Tal den Namen verliehen hatte, noch, worauf er beruhte. Auf die zweite Frage gab es gleich zwei passende Antworten.
Erstens wirkte die etwa zwei Meilen lange Schlucht mit ihren bizarren Felsformation wirklich geisterhaft, wie ein Treffpunkt von Teufeln, Hexen und Dämonen.
Der Canyon konnte nicht durch einen Fluß, der hier einmal durchgeführt hatte, ausgewaschen worden sein. Dafür waren die Felsen nicht genug geglättet. Schroff, oft geradezu scharfkantig ragten sie links und rechts neben dem Treck auf, bis zu einer Höhe von fünfhundert Fuß.
Oft standen die Wände so dicht beieinander, daß die Talsohle nur eine Breite von knapp hundertfünfzig Fuß maß. Es wirkte, als hätten Geister einen Berg einfach auseinandergerissen. Auf eine ähnliche Art war der Canyon wahrscheinlich entstanden. Eine Verschiebung der Erdformation hatte wohl zu einer Teilung der einstmals zusammengehörenden Felsen geführt.
Der zweite mögliche Grund für den Namen des Canyons war der Umstand, daß die engen hohen Felswände von allen Geräuschen ein geisterhaftes Echo warfen, das manchmal wie ein Flüstern, manchmal wie ein Raunen klang. Es war ein ständiger Begleiter des Trecks und gab jedes seiner Geräusche verzerrt zurück, egal ob es das Knarren der Wagenräder, das Knallen der Peitschen, das Wiehern der Pferde oder das Muhen der Rinder war.
Bald stellten die Auswanderer jede Unterhaltung ein. Sie wollten jedes unnötige Geräusch vermeiden. Das unaufhörliche Geflüster der Felsen schlug ihnen aufs Gemüt.
Der Geistercanyon verwandelte den Treck in eine Karawane des Schweigens. Man hörte nur noch die Geräusche von Wagen und Tieren, aber diese vielfach verstärkt und verzerrt.
Beides war passend, das geisterhafte Flüstern der Felsen und das betretene Schweigen der Menschen, was letztere aber nicht wußten. Genausowenig wie sie von den Augen wußten, die sie unablässig beobachteten, die nur auf sie warteten.
Ja, das Schweigen der Menschen war sehr angemessen in der Stunde ihres Todes.
*
Kaum war der letzte der sieben davonrollenden Wagen hinter einem dicht bewaldeten Hügel verschwunden, brach auch unter den Zurückgebliebenen hektische Betriebsamkeit aus.
Jacob hatte entschieden, daß die Anhöhe, die gestern dem alten Prediger zum Verhängnis geworden war, noch an diesem Tag von allen Wagen genommen werden sollte. Das würde einige Stunden in Anspruch nehmen, und viel weiter würde der Treck an diesem Tag nicht kommen.
Aber sein Plan versprach zwei Vorteile. Einmal brauchte die anstrengende, zeitraubende Arbeit morgen nicht mehr bewältigt zu werden. Und die Menschen wurden abgelenkt von ihrer Furcht vor einem Indianerüberfall.
Jacob postierte oben auf dem Hügelkamm ein paar zuverlässige Männer, die den Treck vor einem etwaigen Angriff warnen sollten. Die übrigen Auswanderer machten sich an die schwere Arbeit.
Es oblag Jacob als Captain, als erster die Anhöhe zu nehmen. Es war sein Recht und zugleich seine Pflicht. Er trug die Verantwortung und damit auch das Risiko, daß seine Ochsen scheuten, seine Wagen umkippte und den Fahrer mit in die tiefe Schlucht riß. Deshalb saß Jacob allein auf dem Bock, als es losging.
Hinter ihm folgte kein zweiter Wagen wie gestern. Die Auswanderer hatten aus dem Unglück ihre Lehre gezogen und ließen immer nur einen Wagen den Hügel nehmen. Das dauerte zwar länger, verhinderte aber, daß ein zurückrollendes Gefährt die nachfolgenden beschädigte oder gar mitriß.
Der leichte Wagen von Jacob, Martin, Irene und Urilla wurde normalerweise von vier Ochsen gezogen. Für die vor ihm liegende Aufgabe hatte Jacob die Anzahl der Zugtiere verdoppelt.
Sam Kelley, Jackson Harris, Custis Hunter und Melvin Freeman gingen rechts und links der Ochsen. Sie sollten die Tiere antreiben und dafür sorgen, daß die Ochsen nicht zur Seite ausbrachen.
Zogen die Ochsen den Planwagen zu weit nach rechts, würde er auf dem steiler werdenden Gelände umstürzen.
Zogen sie ihn zu weit nach links - dort gähnte der Abgrund.
Mit lauten Schreien trieben Jacob und seine Helfer die Tiere an. Sam Kelley auf der linken und Melvin Freeman auf der rechten Seite ließen zusätzlich ihre Peitschen in der Luft über den Rücken der Tiere knallen.
Anfangs kamen die Ochsen gut voran, aber je steiler und glatter der Untergrund wurde, desto langsamer und vorsichtiger gaben sie sich.
Das lose Geröll, daß Zacharys Maultiere aus dem Tritt gebracht hatte, war von den Auswanderern entfernt worden. Diese Gefahrenquelle war ausgeschaltet. Es kam nur darauf an, daß die Ochsen kräftig und ausdauernd genug waren, daß sie sich nicht entmutigen ließen.
Immer langsamer ging es voran, aber die Hügelkuppe rückte näher. Die Männer schrien noch lauter und ließen die Peitschen jetzt auf die Rücken der Ochsen fahren. Unter dem lauten Geschrei der Tiere ging es Zoll um Zoll den Hügel hinauf.
Das letzte Wegstück war extrem steil. Jacob mußte sich auf dem Bock festhalten, um nicht hintenüberzufallen. Eine kleine Unebenheit konnte jetzt genügen, um den Wagen umkippen und in die Schlucht stürzen zu lassen.
Auf einmal gingen die Ochsen schneller, und der Wagen nahm wieder eine waagrechte Position ein. Unter den lauten Beifallrufen der Auswanderer zogen die Ochsen den Planwagen auf die Hügelkuppe.
Als Jacob die Bremsen angezogen hatte und vom Bock sprang, fielen im seine vier Helfer in die Arme.