158050.fb2
»Die Ochsen haben sich bewährt«, stellte Jacob fest. »Sie sind geduldiger und zuverlässiger als die Maultiere. Vielleicht wäre das Unglück gestern verhindert worden, hätte Zachary Ochsen statt Mulis gehabt. Für die Überquerung des Steilpasses werden wir auch vor die Wagen Ochsen spannen, die sonst von Maultieren gezogen werden!«
So geschah es.
Ein Wagen nach dem anderen rollte unter Peitschengeknall und Geschrei von Mensch und Tier auf den Hügel. Etwa zwei Stunden vor Sonnenuntergang befanden sich alle Wagen oben, ohne daß es einen weiteren Unfall gegeben hatte.
Dann wurde die Herde heraufgetrieben und in eine nahe Senke gebracht, die einen natürlichen Corral bildete.
Für heute hatte der Treck genug Aufregungen und Anstrengungen gehabt. Er würde auf dem Hügel lagern und früh am nächsten Morgen aufbrechen.
Ein zweiter Aspekt bewog Jacob dazu, das Nachtlager auf dem Hügel aufschlagen zu lassen. Hier konnten sich die Auswanderer gut gegen einen Überfall verteidigen. Gegen Indianer oder wen auch immer. Er achtete auf besondere Sorgfalt, als die Wagen zur Burg zusammengefahren wurden.
Als die Sonne unterging, stand Jacob auf der Hügelkuppe und starrte nachdenklich nach Osten. Dorthin, wo die O'Rourkes mit ihren Gefährten verschwunden waren.
Eine Ungewisse und deshalb nur um so beunruhigendere Sorge hatte von dem jungen Treck-Captain Besitz ergriffen. Er fühlte sich noch immer für alle Auswanderer verantwortlich. Auch für die, die er schweren Herzens hatte ziehen lassen.
Die seltsamen Ereignisse der letzten beiden Tage schienen auf eine Gefahr hinzudeuten, die sich über den Köpfen der Auswanderer zusammenbraute und doch nicht faßbar war.
Aber vielleicht war es nur der intensive Geruch des Winters, der ihm Unbehagen bereitete, versuchte sich Jacob einzureden. Fast ein wenig ängstlich blickte er hinauf zu den umliegenden Schneekuppen. Sie wirkten auf ihn wie drohende Vulkankegel. Nicht Vulkane des Feuers, sondern des Eises. Bereit, die Auswanderer jederzeit mit ihrer schönen, kalten, tödlichen Pracht zu überschütten.
Lange stand er so da und dachte über die verschiedensten Dinge nach. Doch kehrten seine Gedanken immer wieder zu der schweren Aufgabe zurück, die ihm erst der sterbende Abner Zachary und dann der gesamte Treck übertragen hatte. War er, der Neuling in diesem Land, noch jung an Jahren, wirklich der richtige Mann dafür?
Es mußte schon auf Mitternacht zugehen, als ihn ein Geräusch aus dem Gedankenstrudel zog. Erst drang es nur sehr leise an seine Ohren, so daß er es kaum wahrnahm. Er hörte genauer hin, und der anfangs bloße Verdacht verdichtete sich zur Gewißheit. Vom harten Fels am Boden, verstärkt durch das Echo der Berge, kam Hufgetrappel auf das Lager zu.
Es wurde schnell lauter.
*
Es geschah an einer der engsten Stellen im Geistercanyon, als der kleine Treck diesen etwa zur Hälfte durchquert hatte.
Die Felswände standen sich hier so dicht gegenüber, als wollten sie sich die steinernen Hände reichen. Es war ein öder, trostloser Ort, an dem kein Strauch und kein einziger Grashalm wuchs. Hier gab es nur Felsen, Steine und Staub.
Und den Treck, der langsam durch die enge Schlucht rollte. Je weiter die Auswanderer in den Canyon eindrangen, desto mehr hatten sie ihre Geschwindigkeit verlangsamen müssen. Der unebene Boden war von Geröll übersät. Groß war deshalb die Gefahr, daß ein Rad brach oder ein Tier stolperte.
Aber eine andere Gefahr war viel größer. Sie kündigte sich als ein leises Grummeln an, das die Menschen des Trecks zunächst für eine neue Spielart des geisterhaften Echos hielten. Aber das Grummeln schwoll rasch zu einem grollenden Donner an. Er kam von ganz oben, wo die steilen Felswände endeten.
Große Steine und Felsbrocken lösten ihn aus, die von der rechten Wand herabstürzten und bei ihrem Sturz weitere Steine und Felsen mitrissen. Eine gigantische Lawine aus Stein und Staub rollte ins Tal und hatte den Wagenzug in Sekundenschnelle erreicht, ehe die überraschten Menschen noch etwas unternehmen konnten, Die Katastrophe brach ebenso schnell wie verheerend über den Treck herein. Planwagen wurden von der Gesteinsmasse umgeworfen oder von einzelnen mächtigen Felsblöcken zertrümmert. Menschen und Tiere wurden umgerissen und unter der Lawine begraben. Ihre gellenden Schreie verhallten ungehört, gingen unter im tosenden Donner der Lawine, den der Geistercanyon um ein Vielfaches verstärkte.
Der Donner verebbte fast ebenso schnell, wie er sich über den Canyon erhoben hatte. Nur sein Echo wirbelte noch eine Weile zwischen den engen Felswänden herum.
Wie die riesige Staubwolke, die den Canyon an dieser Stelle fast ganz ausfüllte, vom Boden bis zum oberen Rand der Wände, von wo das Verhängnis über die Auswanderer hereingebrochen war.
Als sich die Wolke endlich verzog, sahen die gebannt von oben herunterblickenden Augen, daß keiner der sieben Wagen die Lawine überstanden hatte. Von den Fahrzeugen der Auswanderer war nicht mehr geblieben als zersplittertes Holz, zerfetztes Tuch, zerbrochenes Eisen.
Das herabgestürzte Gestein hatte das meiste unter sich begraben und füllte diese Stelle der Schlucht aus. Die Trecks im nächsten Jahr würden es schwer haben, den Geistercanyon zu durchqueren. Wenn es nicht gar unmöglich für sie war.
Vereinzelt schauten aus den Steinen und Wagentrümmern Glieder von Menschen und Tieren hervor. Das Bein eines Pferdes, Maultiers oder Ochsen. Die kräftige Hand eines Mannes oder die schmalere einer Frau. Der zertrümmerte, blutige Kopf eines Kindes.
Dieses schreckliche Bild bot sich dem Mann dar, der sich mit letzter Kraft, hustend und Dreck ausspeiend, unter einer Decke kleinerer Steine hervorwühlte. Dabei bot er selbst keinen schönen Anblick. Mit einer dicken Staubschicht überzogen, sah das an sich jugendliche Gesicht aus wie das Antlitz eines Greises. Kopf und Gesicht bluteten an mehreren Stellen. Das Blut hatte sich mit dem Staub zu einer obszönen Kriegsbemalung vermischt.
Die Kleidung hing in Fetzen von dem Körper des Mannes, der es erst nach mehreren Versuchen schaffte, sich aufzurichten. Das lose Geröll, auf dem er stand, rutschte immer wieder unter seinen Stiefeln weg.
Langsam drehte er den schmerzenden Kopf und registrierte das ganze Ausmaß der Katastrophe. Es sah tatsächlich so aus, als sei er der einzige Überlebende. Jedenfalls von den Menschen.
Ein paar der Tiere waren nur verletzt und schrien ihren Schmerz hinaus. Die Schreie kehrten als verzerrte Echos zu ihnen und dem einsamen Mann zurück.
Plötzlich hörte er ein Stöhnen und Husten. Ganz in der Nähe. Er wandte sich nach links. Dort lugte ein Stück geflickter Plane, die zuvor einen Wagen überspannt hatte, unter dicken Steinen hervor.
Er kannte den großen, rechteckigen roten Flicken genau. Seine Mutter hatte ihn aus einem Unterhemd genäht, das seinem jüngeren Bruder Matt zu klein geworden war. Eine sparsame Farmersfrau wie Ruth Cartland warf nichts weg, hob jeden kleinen Stoffrest sorgsam auf. Als die Cartlands ihren Wagen für den großen Treck nach Oregon zusammenbauten, hatten sie das Hemd gut gebrauchen können. Die Plane, die Elmer Cartland günstig erstanden hatte, wies mehr Löcher auf als das Dach über dem windschiefen Farmhaus, das die Cartlands am Stockton Lake bewohnt hatten.
Der Gedanke an seine Mutter und seine Geschwister vertrieb die Erstarrung, die Leo Cartland beim Anblick des innerhalb von Sekunden ausgelöschten Trecks befallen hatte. Er sprang über die Felsen zu der Stelle mit dem roten Stoffetzen und rief laut die Namen seiner Angehörigen.
Erneutes Husten und Stöhnen war die Antwort, dann endlich eine Stimme.
»Leo, bist du es?«
Sein Bruder Matt!
»Ja, Matt. Wie geht es dir?«
»Weiß nicht. Hier ist alles duster. Ich kann mich kaum rühren. Irgend was liegt auf mir.«
Leo zögerte, die nächste Frage zu stellen, aus Angst vor der Antwort. Aber er mußte es tun. Davon konnten Leben abhängen.
»Wer. ist noch bei dir, Matt?«
»Hier bei mir liegt Celia. Sie atmet ganz schwach.«
»Wer noch?«
Es dauerte eine Weile, bis die verhustete Antwort kam.
»Ich kann niemanden sehen. Zu dunkel. Und ich höre auch niemand sonst.«
»Ich hole euch da raus!« rief Leo und machte sich wie ein Berserker an die Arbeit, räumte mit bloßen Händen Stein um Stein weg.
Er dachte nicht an seine eigenen schmerzenden Wunden. Nur an seinen drei Jahre jüngeren Bruder Matt und an die zwölfjährige Celia, das jüngste Familienmitglied.
Leo hatte schon seinen Vater verloren. Er wollte nicht noch mehr verlieren.
Nicht alle!
Er war schon ein gutes Stück vorangekommen, als sich auf einmal die weiter oben liegende Steine in Bewegung setzten und in die Lücke rollten, die Leo geschaffen hatte.
Es riß ihn von den Füßen, und schmerzhaft schlug er mit der Stirn auf einen scharfkantigen Stein. Aus einem tiefen Riß über seinen Brauen floß Blut in die Augen, verklebte ihm die Sicht.
Leo stand taumelnd auf und wischte sich mit dem schmutzigen, zerfetzten Ärmel seiner Wolljacke das Blut aus den Augen. Kaum war er damit fertig, da hörte er ein lautes, schmerzerfülltes Stöhnen. Es kam von Matt.