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»Etwas ist auf mich gerutscht, ein großer Felsen. Auf meine Brust. Es... es tut so weh!«
Mit Erschrecken stellte Leo fest, daß der Steinhaufen, der seinen Bruder und seine Schwester bedeckte, größer war als zuvor. Seine ganze Anstrengung war vergeblich gewesen.
Ein Geräusch, sofort von den Felswänden verzerrt und verstärkt, lenkte ihn ab. Hufgetrappel.
Er sah sich um und entdeckte ein stämmiges Quarterhorse, das langsam über das Geröllfeld auf ihn zugetrottet kam. Leo erkannte Liam O'Rourkes Pferd. Es war der Katastrophe entkommen und konnte mit der unerwarteten Freiheit nichts anfangen.
»Mach weiter, Leo!« drängte die Stimme seines Bruders, die unter dem Geröllhaufen dumpf klang. »Hol uns endlich hier raus!«
»Es hat keinen Zweck. Allein schaff1 ich es nicht. Ich muß zum Treck und Hilfe holen. Haltet ihr beide es solange aus?«
»Ja«, hustete Matt. »Wir werden es schon schaffen.«
»Ich beeile mich«, versprach Leo und ging auf das Pferd des Iren zu.
Er bewegte sich langsam, um das Tier nicht zu verscheuchen. In ihm sah er seine einzige Chance, Matt und Celia zu retten.
Vielleicht auch noch andere. Aber er hatte keine Zeit, das ganze Trümmerfeld nach Überlebenden abzusuchen. Er schaffte es ja noch nicht einmal, seine Geschwister auszugraben. Nur viele Hände konnten das vollbringen.
Das Quarterhorse zeigte kein bißchen Scheu vor dem Fremden. Im Gegenteil, es schien froh zu sein, wieder menschliche Gesellschaft zu haben. Leo schwang sich ohne Schwierigkeiten in den verwaisten Sattel.
Sorgsam auf das Gelände achtend, ritt er langsamen Schrittes über das Geröll- und Trümmerfeld. Als das Gelände besser begehbar wurde, trieb er das Tier nach einem letzten Blick auf die Stelle, wo er Matt und Celia wußte, mit lauten Rufen und Stößen seiner Fersen an. Die Hufschläge warfen das Echo eines Trommelfeuers.
Erst als dieses längst verklungen war, stiegen die Beobachter des Geschehens von der südlichen Felswand herab. Sie wollten nachsehen, ob es Überlebende gab. Aber sie kamen nicht, um ihnen zu helfen.
*
Leo Cartland gönnte sich und dem Quarterhorse keine Rast. Als die Dunkelheit hereinbrach, mußte der einsame Reiter die Geschwindigkeit notgedrungen verlangsamen. Das mochte eine kleine Erholung für das Pferd sein. Aber es schnaufte immer stärker, je länger der Ritt dauerte. Und Schaum, der von seinem Maul wehte, flog Leo ins Gesicht.
Als er den Treck endlich gegen Mitternacht erreichte, erwarteten ihn die von Jacob alarmierten Auswanderer mit den Waffen in den Händen. Schließlich konnten sie nicht wissen, mit wem sie es zu tun hatten. Die Furcht vor einem Indianerüberfall saß ihnen noch im Nacken.
Deshalb brachen auch nicht alle Männer zu der von Jacob angeordneten Rettungsexpedition auf. Zum Schutz gegen einen Indianerüberfall blieb ein starker Trupp zurück.
Zwanzig Männer folgten Leo Cartland, dem man ein neues Pferd gegeben hatte. Das völlig erschöpfte Quarterhorse wäre am Ziel fast zusammengebrochen. Fast jeder Reiter führte ein Packtier mit sich, beladen mit Wasser, Verpflegung, Verbandsmittel und Werkzeug.
Die übrigen Männer des Trecks gingen in dieser Nacht nicht mehr schlafen. Mit schußbereiten Waffen warteten sie in der Wagenburg auf die Rückkehr ihrer Freunde - oder auf einen Überfall.
*
Leo Cartland und die zwanzig Helfer erreichten den Geistercanyon bei Anbruch der Morgendämmerung. Immer wieder trieben sie ihre Pferde an. Die Geier, die in Scharen über der engen Schlucht kreisten und zwischen die Felsen hinunterstießen, verhießen nichts Gutes.
Mehrere der gefiederten Aasfresser machten sich an der Unglücksstelle zu schaffen. Die vordersten Reiter zogen Revolver und Karabiner und vertrieben die Tiere.
Während die anderen noch schossen, war Leo längst aus dem Sattel gerutscht und stapfte über das Geröll zu der Stelle, an der er Matt und Celia wußte. Immer wieder rief er laut ihre Namen, aber die einzige Antwort war sein eigenes Echo.
Jacob und die anderen kamen mit Schaufeln und Spitzhacken und machten sich an die Arbeit. Aber immer wieder mußten sie auf ihre bloßen Hände zurückgreifen, das beste Werkzeug, um die schweren Steine beiseite zu räumen.
Leo gab nicht auf, hielt ab und zu im Steineräumen inne und rief die Namen seiner Geschwister. Jedesmal ohne Erfolg.
»Sie werden zu schwach zum Antworten sein«, versuchte Jacob ihn zu beruhigen.
Ein Teil der Männer bildete aus Holzbrettern - Überreste zerschmetterter Prärieschoner - eine Stützmauer, die ein Nachrutschen von Erdreich und Gestein verhinderte. So gelang ihnen das, was Leo allein nicht geschafft hatte.
Irgendwann tauchte eine Hand auf, dann ein Arm, ein Oberkörper, ein Kopf. Der Kopf von Matt Cartland, der reglos in verrenkter Haltung zwischen dem Geröll lag. Seine Augen standen offen, aber der Blick war gebrochen.
»Zu spät«, murmelte sein Bruder. »Ich bin zu spät zurückgekommen.« Er brach über dem Leichnam in Tränen aus.
»Es ist nicht Ihre Schuld, Leo«, sagte erregt Jacob, der etwas auf Matts Brust entdeckt hatte.
Es war eine große Wunde, die anders aussah als die übrigen Wunden. Keine Hautabschürfung und keine Prellung. Jacob zog Jacke und Hemd beiseite, um die Brust freizulegen. Er hatte sich nicht getäuscht. Eine Kugel war in Matts linke Brust gefahren. Der junge Auswanderer war erschossen worden.
Dicht bei ihm lag Celia. Sie hatte eine Schußwunde im Bein. Das hatte ausgereicht, ihr schon schwaches Lebenslicht vollends auszulöschen.
»Aber man hat nicht auf uns geschossen!« stieß Leo hervor. »Bestimmt nicht. Es war eine Lawine.«
»Es muß hinterher geschehen sein«, vermutete Custis Hunter. »Nachdem Sie die Schlucht verlassen hatten. Jemand muß den Lauf seiner Waffe zwischen die Steine gesteckt und auf die Verletzten geschossen haben.«
Leo starrte ihn ungläubig an.
»Warum?«
Custis hob hilflos die Hände.
»Ich weiß es nicht.«
Wie ein Tier auf allen vieren, kletterte Leo aus dem steinernen Grab seiner Geschwister. In seinen hellblauen Augen flackerte das Feuer der Verzweiflung.
Als er oben stand, sah er in den Himmel hinauf und schrie aus Leibeskräften immer wieder die eine Frage: »Warum?«
Seine Schreie brachen sich an den Felswänden und kehrten als Echogewitter zurück. Aber das wurde noch überlagert von den Echos des Schusses, der plötzlich durch den Canyon peitschte.
Der letzte Schrei erstarb auf Leos Lippen. Der flachsblonde Jüngling drehte sich fast einmal um die eigene Achse, knickte zusammen und schlug auf den Boden.
»In Deckung!« schrie Jacob. »Sucht euch Deckung, Männer, sofort!«
Die Männer befolgten den Befehl. Die meisten ließen ihre Tiere einfach stehen, wo sie waren, als sie hinter den nächsten Felsen oder Geröllhaufen sprangen.
Ihre Schnelligkeit war ihr Glück. Eine ganze Reihe von Schüssen klatschte zwischen die auseinanderspritzenden Auswanderer.
Die Schützen mußten oben auf der Südwand sitzen. Für die Männer im Canyon waren sie so gut wie unsichtbar. Nur wenn das Mündungsfeuer oben auf den Felsen aufblitzte, hatten die Auswanderer eine Chance zur Gegenwehr. Immer dann knatterte das Abwehrfeuer aus der Schlucht nach oben.
Jacob kroch vorsichtig aus der Mulde, die er und seine Männer gegraben hatten, nach oben, um nach Leo Cartland zu sehen. Eine Kugel pfiff so dicht über seinen Schädel hinweg, daß sie ihm den breitrandigen Filzhut vom Kopf riß.
Zumindest einer der Fremden dort oben mußte ein hervorragender Schütze sein. Das bewies der Treffer, mit dem er Leo erledigt hatte. Die Kugel hatte den ältesten Cartland-Bruder in die Stirn getroffen, direkt unterhalb des Verbands, den Irene ihm im Lager angelegt hatte.
Leo war tot.