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Er hörte holländische, französische, spanische und russische Wörter, verstand aber den Sinn der meisten nicht.
Und er sah exotische Gesichter, die ihn an die Indianer erinnerten, die er auf dem langen Treck nach Oregon und auf dem Weg zur Pazifikküste kennengelernt hatte. Viele Neger. Andere Mienen waren unverkennbar asiatisch.
»Fünfzehn!«
Wieder fraß sich die schlanke Gerte in Jacobs Fleisch. Diesmal war es ein Gefühl wie heißes, flüssiges Metall, das über seinen von blutigen Striemen überzogenen Rücken gegossen wurde.
Und diesmal konnte der Gepeinigte nicht verhindern, daß ein lauter, langer Schrei über seine Lippen drang. Sein Verstand wollte den Schrei nicht ausstoßen, doch sein gemarterter Körper gehorchte nicht länger.
Er war zu schwach, um Frenchy und Stanford anzublicken. Er wollte es auch gar nicht. Er konnte sich die Befriedigung nur zu gut vorstellen, die sich jetzt auf ihren Mienen abzeichnete.
Durch den Schleier vor seinen Augen, der alles verschwommen wirken ließ, suchte er den Blickkontakt zu den anderen Shanghaiten, die noch immer ihre Handfesseln trugen. Hier fand er Mitgefühl.
Nur Elihu Browns bärtiges Gesicht fehlte. Trotz seiner Bärenkräfte war der Harpunier durch Stanfords >Bestrafung< zu sehr geschwächt, um an Bord zu erscheinen.
»Achtzehn!«
Der Schleier wurde noch undurchsichtiger. Die Mienen der Umstehenden verschwammen zu einer teigigen Masse.
»Zwanzig!«
Ein Gesicht stach aus der Masse heraus, war plötzlich ganz nah vor ihm. Als wolle der Teufel sein Werk begutachten.
»Zweiundzwanzig!«
Ja, der Teufel!
Es war das Gesicht eines Teufels. Mit der großen, abstoßenden Narbe und der schwarzen Augenklappe. Mit den unbarmherzigen Zügen. Mit der Ausgemergeltheit eines Menschen, der in der Hölle schmorte.
Ein Teufel oder ein Besessener.
»Vierundzwanzig!«
Neuer Schmerz, an der Grenze zum Unerträglichen, ließ das Gesicht wieder verschwinden.
Später konnte Jacob nicht sagen, ob Kapitän Raven tatsächlich so dicht vor ihm gestanden hatte oder ob seine geschwächten Sinne ihm einen Streich gespielt hatten.
»Fünfundzwanzig!«
Jacob wartete auf das heiße Brennen, das kommen mußte. Er wartete lange. Offenbar zögerte der Erste Steuermann der LUCIFER den letzten Schlag besonders lange heraus, um den Delinquenten ein letztes Mal leiden zu sehen.
Dann kam der Schmerz.
Der größte Schmerz!
Aber auch der letzte!
Dieses Wissen hielt Jacobs Geist aufrecht, wenn sein Körper auch zusammenbrach, als man ihn losband.
Auch als er, mit rotzerfetztem Rücken, bäuchlings auf den Planken lag, schwach und hilflos wie ein Neugeborenes, dem erlösenden Schlaf der Bewußtlosigkeit widerstand er.
Es kostete ihn seine letzte Kraft und verursachte weiteren Schmerz. Doch das war es ihm wert.
Sie mochten seinen Körper gebrochen haben, aber nicht seinen Geist.
Diesen letzten Triumph sollten Frenchy, Cyrus Stanford und auch der böse Geist dieses Schiffes, Kapitan John Raven, nicht erleben!
*
An Bord der ALBANY.
Piet Hansen hockte, den bärtigen Kopf in beide Hände gestützt, an dem großen Tisch in der geräumigen Kapitänskajüte, die noch den protzigen Luxus von Hansens Vorgänger Josiah Haskin atmete.
Auf dem Tisch war eine Seekarte ausgerollt und mit verschiedenen Navigationsinstrumenten beschwert: Sextant, Chronometer und Kompaß.
Er benötigte die Instrumente jetzt nicht. Sie dienten nur als Gewichte, um das ungewollte Zusammenrollen der Karte zu verhindern.
Und selbst die Karte war eigentlich überflüssig. Der auf ihr eingezeichnete Kurs erst an den amerikanischen und mexikanischen Teilen Kaliforniens und dann am südamerikanischen Kontinent entlang bis zum sturmumtosten Kap Horn war so fest in sein Gedächtnis eingebrannt wie die Namen sämtlicher Schutzheiliger, die ein Seemann in Notzeiten anflehte.
Der Kapitän der ALBANY hatte die Karte nur auf dem Tisch ausgebreitet, um sich ein wenig von der düsteren Stimmung abzulenken, die seine Seele bedrückte. Doch als er über der Karte saß, war er wieder in dumpfes Brüten verfallen.
Wenn nur schon alles vorbei wäre und er die Fracht an ihrem geheimnisvollen Bestimmungsort abgeliefert hätte! Er würde sich wohler fühlen, wenn er wieder Auswanderer von Deutschland nach Amerika und auf der Rückfahrt Tabak, Reis oder Baumwolle transportierte.
Keine Kanonen!
Er mußte von Sinnen gewesen sein, als er sich auf dieses Abenteuer einließ.
Ein lautes Geräusch riß ihn aus seinen trüben Gedanken, ein energisches Klopfen.
»Herein!« rief er, froh über die Störung.
Als er die blaue Uniform und das verbissene Gesicht von Captain Driscoll erblickte, verschwand der leichte Anflug von Frohsinn wieder. Der Offizier der US-Navy gehörte zu den Männern, die Hansen für seinen Kummer verantwortlich machte.
Bewundernd blickte sich Driscoll in der prunkvoll ausgestatteten Kajüte um, während er zum Tisch trat. Aber rasch wurde sein Gesicht wieder dienstlich, und er richtete seine dunkelgrauen Augen auf den Deutschen.
»Sie kümmern sich gerade um den Kurs, wie ich sehe«, nickte er und zog ein zusammengefaltetes Papier aus der Rocktasche. »Da komme ich ja richtig.«
Als er das dicke Papier auseinanderfaltete, entpuppte es sich ebenfalls als Seekarte. Etwas kleiner als die Hansens, über die Driscoll sein Papier ausbreitete. Seine Karte war mit dem Geheimhaltungsvermerk der Navy versehen.
»Erfahre ich also endlich unseren Zielhafen«, brummte Hansen, halb befriedigt und halb vorwurfsvoll.
»Nein, Käpten. Dies hier ist nur der Kurs, den die ALBANY bis zum Kap Horn einschlagen wird.«
»Das ist kein Kurs«, sagte Hansen mit zerfurchter Stirn, nachdem er sich die gezackte rote Linie, die auf der NavyKarte eingezeichnet war, eingehend angesehen hatte. »Das ist bloßer Unsinn. Wenn die ALBANY das da« - alles in dem alten Seebären weigerte sich, den wirren Zickzack als >Kurs< zu bezeichnen - »befolgt, fährt sie so ziemlich jeden Umweg, den sie nur machen kann. Wir werden Kap Horn mit mindestens zweiwöchiger Verspätung erreichen.«
»Genau«, lächelte Driscoll kalt. »Das ist unsere Absicht.«