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Mit Leichtigkeit übertönte er das Rauschen der Wellen und das Knattern der Segel im munteren Wind.
»Die Antwort ist ganz einfach: Es gibt keine Beteiligung, weil es keinen Gewinn gibt. Und es gibt keinen Gewinn, weil wir keine Wale fangen werden.«
Ravens Worte lösten beim größten Teil der Mannschaft Verwirrung aus. Außer den Offizieren schienen nur sehr wenige zu wissen oder zumindest zu ahnen, in welcher Mission die LUCIFER unterwegs war.
Fragen wurden laut. Die Verwirrung der Männer und ihre Furcht, mit leeren Taschen heimzukehren, ließen sie ihren übergroßen Respekt vor Raven vorübergehend vergessen.
»Wozu sind wir auf See, wenn wir keine Wale fangen?« schrie ein vollbärtiger Mann mit dem Körper eines Fasses.
»Ich dachte, die LUCIFER ist ein Walfänger«, rief ein olivhäutiger Mann mit spanischem Akzent.
»Ich muß zu Hause Frau und Kinder ernähren!« beschwerte sich ein kräftiger, rotschöpfiger Ire.
»Ihr sollt nicht leer ausgehen«, versprach Raven und verschaffte sich durch das Ausbreiten seiner Arme Gehör.
In dieser Stellung wirkte der schwarzgekleidete Mann wie ein heidnischer Gott, der über seine Anhänger gebot.
»Ich zahle jedem einfachen Seemann pro Tag auf See zwei Golddollar, Maaten und Offizieren entsprechend mehr. Und falls wir unsere Beute fangen, gibt's das Doppelte! Selbst wenn wir schnell zum Ziel kommen, soll das nicht zu eurem Schaden sein. Ich garantiere jedem tapferen Mann hier an Bord eine Mindestheuer von zwanzig Golddollar, auch falls wir morgen schon zurück nach Frisco fahren sollten.«
Einige der Männer brachen in lautes Jubelgeschrei und in Hochrufe auf Kapitän Raven aus.
Andere blieben skeptisch. Einer der Skeptiker war der Ire mit Frau und Kindern.
»Was für eine Beute, Käpten?« übertönte sein rauhes Organ die Stimmen der anderen. »Eben haben Sie gesagt, die LUCIFER fährt nicht auf Walfang aus.«
»Wir jagen auch keinen Wal«, bestätigte John Raven, und ein fanatischer Ausdruck trat in sein einziges Auge. »Das Wild, dem wir nachspüren, ist das stählerne Monster!«
Schlagartig brachen alle Gespräche und Rufe ab.
Ungläubig starrten die Männer ihren Kapitän an.
In vielen Gesichtern lag nicht nur Unglauben, sondern pure Angst.
*
An Bord der ALBANY
»Haben Sie eine Waffe, Hansen?« fragte Captain Levander Driscoll, während er mit gezogenem Navy Colt neben der Kajütentür in Deckung ging.
Durch das Schiff hallten noch immer die Schüsse und Schreie, die so urplötzlich wie ein heimtückischer Orkan über die Bark hereingebrochen waren.
Der alte Seebär nickte verstört.
»Ich habe einen Revolver in meiner Seekiste.«
»Dann holen Sie ihn, in Gottes Namen!« fauchte der blauuniformierte Soldat. »Wenn mich nicht alles täuscht, bekommen wir bald mächtigen Ärger.«
Die Lethargie fiel von Hansen ab. Er sprang so hastig auf, daß sein Stuhl umstürzte, und beugte sich über die alte, abgeschabte Kiste, die neben der Koje stand und so gar nicht zum polierten Prunk der übrigen Kajüteneinrichtung passen wollte.
Darin bewahrte er seine persönlichen Sachen auf. Und den sechsschüssigen Kerr-Revolver, der obenauf lag und jetzt von der wettergegerbten Pranke des Kapitäns ergriffen wurde.
»Versorgen Sie sich mit genügend Munition«, ermahnte ihn Driscoll. »Könnte sein, daß Sie später keine Gelegenheit dazu haben.«
»Ist gut.«
Diesmal mußte Piet Hansen tiefer in der Kiste kramen, bis er die Schachtel mit den Patronen fand. Er steckte sie in eine Jackentasche.
Driscoll zog derweil mit der linken Hand vorsichtig die Tür auf. In der Rechten hielt er den schußbereiten Colt.
»Können Sie etwas sehen?« fragte Hansen, während er die Trommel des Kerrs ausklappte und die Ladung überprüfte.
»Nichts. Der Gang und der Decksaufgang sind so leer wie Armeleutebäuche am Wochenende. Aber an Deck scheint die Hölle los zu sein. Den Schüssen nach zu urteilen.«
Driscoll brach mitten im Satz ab und rief, das Gesicht noch angespannter und den Revolver durch den Türspalt stoßend: »Stehenbleiben, sofort! Oder ich schieße!«
»Was ist?« ächzte Hansen, als er sich neben den Soldaten kniete.
»Auf dem Gang ist ein Mann. Aber ich weiß nicht, ob er Freund oder Feind ist.«
Der Kapitän legte den Kopf schief, um durch den schmalen Spalt hinaus auf den von Öllaternen erhellten Gang zu blicken. Dort krümmte sich ein Mann, offenbar vor Schmerzen, und fiel auf den Boden.
»Das ist Grosser!« rief Hansen aus. »Einer von der alten Besatzung.«
»Fragt sich nur, auf welcher Seite er jetzt steht«, blieb Driscoll skeptisch.
»Grosser hat mir beim Kampf gegen Arnold Schelp und seine Bande geholfen. Für ihn lege ich meine Hand ins Feuer.«
»Aber nehmen Sie die Linke, Käpten!«
»Verdammt, ich vertraue ihm!« Hansens von Driscoll erwähnte Linke ballte sich zur Faust. »Grosser scheint verwundet zu sein. Ich gehe raus und helfe ihm.«
»Es könnte eine Falle sein«, warnte ihn Driscoll. »Der Decksaufgang ist von hier nur zum kleinen Teil einzusehen.« Seine Augen blickten zur Decke. »Wer immer dort oben Rabatz macht, er könnte auf der Treppe lauern und darauf warten, daß wir uns aus der Deckung wagen.«
»Bleiben Sie in der Deckung, Driscoll. Und falls tatsächlich da hinten jemand auf mich schießen sollte, schießen Sie zurück. Ich hole jetzt Grosser!«
Hansen wartete einen möglichen Widerspruch gar nicht erst ab. Er zog die Tür noch ein Stück weiter auf, zwängte sich hindurch und lief geduckt zu der Stelle, wo Grosser zusammengebrochen war - oder dies vorgetäuscht hatte, um in Driscolls Denkweise zu bleiben.
Wachsam blickte der Kapitän zum Decksaufgang. Aber niemand sprang von der Treppe, um ihn anzugreifen. Keine Feuerlanze leckte aus dem Halbdunkel nach ihm, um tödliches Blei in seinen Körper zu stoßen.
Er steckte den Sechsschüsser in eine Jackentasche, aber so, daß der Kolben griffbereit herauslugte.
Als er sich neben Grosser hinkniete und den bäuchlings liegenden Mann vorsichtig umdrehte, waren seine Hände in wenigen Augenblicken warm, feucht und rot.
Nein, Grosser war bestimmt kein Simulant!
Sein blaues Kattunhemd war vorn nur noch ein roter, nasser Lappen.