158060.fb2 Der Eine-Million-Dollar-Zug - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 1

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Die zweite Salve, von den hinter Barrikaden versteckten Verteidigern abgefeuert, brachte den Angriff der fast einhundert Reiter zum Erliegen. Verwundete Männer schrien auf, stürzten aus den Sätteln und wälzten sich auf dem schlammigen Boden hin und her. Die reiterlosen, von dem Schußgewitter aufgeschreckten Pferde stoben nach allen Seiten davon und brachten weitere Unordnung in die Reihen der Guerillas. Wer noch im Sattel saß, zügelte sein Pferd und blickte hinüber zu den beiden Anführern, neben denen ein Mann mit einer großen schwarzen Flagge ritt. Der zierliche, unauffällige Mann in der Uniform eines Südstaatenoffiziers, der die »Schwarze Brigade«, wie er seine kleine Armee nannte, befehligte, hob den rechten Arm und schwenkte die Hand mehrmals nach hinten. Erleichtert wendeten seine Männer ihre Pferde, gaben ihnen die Sporen und sprengten zurück hinter die rettenden Hügel.

Ihre Gegner hinter den Barrikaden schickten ihnen einen Kugelhagel nach, der noch den einen oder anderen Freischärler zu Fall brachte. Wer von den aus dem Sattel Geschossenen noch laufen konnte, rappelte sich auf, versuchte ein reiterloses Pferd einzufangen oder hinkte den zurückweichenden Kameraden nach. Manch einer schaffte es, sich in Sicherheit zu bringen. Manch einer brach aber auch unter dem heißen Blei, das auf der Flucht in seinen Körper fuhr, zusammen.

Die Verteidiger des kleinen Ortes Blue Springs in der Nähe des Missouri kannten keine Gnade. Genauso wenig wie die Angreifer, die berüchtigte Guerillaschar des ehemaligen Schulmeisters und jetzigen Captains William Clarke Quantrill.

Man schrieb den Juni des Jahres 1863, und in Nordamerika tobte der erbitterte Bürgerkrieg zwischen der Union der Nordstaaten und den konföderierten Südstaaten. Ein Krieg, der hier, im Grenzgebiet zwischen Kansas und Missouri, mit besonderer Härte und Grausamkeit geführt wurde.

Kansas hatte der Sklaverei abgeschworen. In Missouri war sie, obwohl sich der Staat auf die Seite der Union geschlagen hatte, erlaubt. Schon vor Ausbruch des Sezessionskrieges, wie der Bürgerkrieg auch genannt wurde, hatten sich hier im Grenzgebiet Anhänger und Gegner der Sklaverei blutige Kämpfe geliefert. Diese flammten jetzt mit erneuter Heftigkeit auf, weil jede der kriegführenden Parteien hoffte, die Grenzstaaten auf seine Seite zu ziehen. Vielfach wurde der Kampf von irregulären Truppen ausgetragen, und die waren in der Regel noch unerbittlicher als die Regulären.

Quantrills wilde Reiter hatten sich unter den Irregulären den Ruf eines besonders draufgängerischen, brutalen Haufens erworben. Wo sie auftauchten, regierten Vernichtung, Tod, Furcht und Schrecken. Schon mehrere Ortschaften der Sklavereigegner hatten sie in Schutt und Asche gelegt.

Derzeit allerdings sah es so aus, als sollte ihnen das mit Blue Springs nicht gelingen. Jedenfalls nicht so mühelos, wie es sich viele der Angreifer vorstellten, als sie ihre Pferde unter lautem Gejohle in den Kampf getrieben hatten.

Hinter der ersten Hügelkuppe zügelte Quantrill seinen Braunen und sah mit besorgter Miene seine zurückweichenden Männer an, die sich um ihn und die schwarze Flagge herum sammelten. Viele von ihnen hatten Verletzungen davongetragen, ein paar sogar mehrere. Die Verteidiger hatten unter seinen Männern eine blutige Ernte gehalten.

»Dieser Cordwainer ist ein schlauer Fuchs«, sagte Quantrill zu seinem Unterführer Bloody Bill Anderson, der sein Pferd zu ihm lenkte. »Er hat uns nahe genug herankommen lassen, um uns mit den Salven seiner Leute erhebliche Verluste beizufügen.«

»Trotzdem hätten wir den Angriff nicht abbrechen sollen«, knurrte ein unzufriedener, wütender Anderson und fuhr dabei mit der Hand durch seinen dichten dunklen Vollbart, als hätten sich dort ein paar ihrer Gegner eingenistet. »Wir hätten versuchen sollen, die Barrikaden zu stürmen. Im Nahkampf hätten wir schnell mit diesen Yankee-Hunden aufgeräumt.«

Quantrill schüttelte seinen schmalen Kopf mit dem dunkelblonden Haar, das unter einem grauen Offiziershut hervorlugte. »Das glaube ich nicht, Bill. Dieser Cordwainer scheint mit allen Wasser gewaschen zu sein. Er verläßt sich bestimmt nicht nur auf eine Verteidigungslinie. Ich an seiner Stelle würde es jedenfalls nicht tun.«

Zwei weitere Reiter drängten ihre Pferde zu Quantrill und Anderson, ein blonder Weißer und ein kräftiger Schwarzer. Es waren Custis Hunter und sein ehemaliger Sklave Melvin, der einzige Neger unter Quantrills Männern.

Vor einem halben Jahr noch war Custis Hunter ein glücklicher Mann gewesen und hatte auf Starcrest, der Plantage seines Vaters, gelebt. Zusammen mit der Frau, die er in Kürze zu heiraten gedachte, Virginia Lawrence aus Blue Springs. Aber dann überfiel Byron Cordwainer mit seiner aus den Bürgern von Blue Springs aufgestellten Jayhawkers-Freiwilligentruppe die Plantage und brannte sie nieder. Custis' Vater starb dabei ebenso wie Melvins schwangere Frau. Melvin rettete Custis aus den Flammen des brennenden Herrenhauses, in dem ihn die Jayhawkers liegengelassen hatten, weil sie den von mehreren Kugeln getroffenen Mann für tot hielten.

Aber Custis kam durch und erholte sich ganz langsam von seinen schweren Verletzungen. Er und Melvin, dem er die Freiheit geschenkt hatte, hatten sich Quantrills Guerillas angeschlossen, um Rache zu nehmen an Byron Cordwainer, den Bürgern von Blue Springs und der Frau, die jetzt Virginia Cordwainer hieß.

Die junge Frau, Tochter des Bankiers Armstrong Lawrence, war aus ihrem Elternhaus geflohen, um der Hochzeit mit dem ungeliebten Byron Cordwainer, Sohn des Bürgermeisters und neben Armstrong Lawrence mächtigsten Mannes von Blue Springs, zu entgehen. Virginia liebte Custis und zog zu ihm. Byron Cordwainer hatte sie sich bei dem Überfall zurückgeholt.

Custis konnte es erst nicht glauben, als er hörte, daß Virginia den ungeliebten Mann geheiratet hatte. Doch es war so. Seitdem galt der Haß in seinem Herzen auch der einstmals geliebten Frau, deretwegen er alles verloren hatte, die Plantage - und seinen Vater.

»Wir müssen wieder angreifen«, rief Custis, sobald er Quantrill und Andersen erreicht hatte. »Blue Springs darf nicht zur Ruhe kommen!«

»Sie werden nicht zur Ruhe kommen«, entgegnete der Guerillaführer. »Aber mit unserem nächsten Angriff lassen wir uns Zeit. Er muß gut vorbereitet sein. Ich will nicht, daß wir uns noch einmal blutige Nasen holen.«

Custis war einigermaßen beruhigt. Als Quantrill vorhin das Zeichen zum Rückzug gegeben hatte, befürchtete er, der Anführer der Schwarzen Brigade könnte genug haben vom Angriff auf Blue Springs.

Aber es gab etwas für Quantrill sehr Wichtiges in der Stadt, weswegen er sie unbedingt einnehmen wollte. Custis wußte nicht, um was es sich handelte. Nur Quantrill, Anderson und George Todd, der den Angriff auf der Westseite der Stadt befehligte, schienen das zu wissen.

Custis konnte es gleichgültig sein. Hauptsache, er würde die Stadt brennen sehen!

George Todd sprengte zu ihnen heran und sagte zu Quantrill: »Das war ein verdammter Fehlschlag, Bill. Ein halbes Dutzend meiner Männer ist tot, genauso viele schwer verwundet.«

»Bei uns sieht es ähnlich aus«, erwiderte der Guerillaführer, dessen ausdrucksloses Gesicht mit den unpassend weichen, fast weiblichen Zügen unbewegt blieb. »Aber beim nächsten Mal zeigen wir es der Yankee-Brut!«

»Das klingt, als hättest du einen Plan«, meinte Todd interessiert.

»Den habe ich«, sagte Quantrill und teilte seinen Männern mit, wie er die Stadt erobern wollte.

*

Martin Bauer verließ die Kirche von Blue Springs mit einem weißen, stramm sitzenden Verband um seine rechte Schulter, in die eine Kugel der Bushwackers gefahren war, wie die Südstaaten-Guerillas auch genannt wurden. Father Goddard hatte sein Gotteshaus in ein Krankenhaus umgewandelt, um die Verwundeten zu versorgen. Mit mehr Gottvertrauen als Geschick gingen er und die Frauen, die ihm halfen, ihrer Aufgabe nach.

Der einzige Arzt der Stadt, der alte Dr. Hatfield, hatte am gestrigen Tag den Ort verlassen, um auf der Miller-Farm einen Krankenbesuch zu machen. Einer Nachricht zufolge, die Quantrill ihnen mit dem toten Gus Peterson geschickt hatte, befand sich Hatfield jetzt in den Händen der Südstaatler.

Martin blieb vor der Kirche stehen und lauschte der Stille, die über der Stadt lag und die ihm nach dem Feuergefecht unwirklich vorkam, beinah überirdisch. Aber sie paßte zu dem Ort. Blue Springs war eine aufstrebende Stadt, der selbst die unermüdlichen Regengüsse der letzten Tage nicht den Anschein von Ordentlichkeit und Sauberkeit hatten nehmen können. Kürzlich erst war die Eisenbahnstrecke nach Kansas City fertiggestellt worden, und jetzt warteten die Bürger auf den Beginn des regulären Bahnverkehrs und die Reisenden, die in ihrer Stadt absteigen und ihr Geld dort lassen würden.

Martin und seine Freunde Jacob Adler und Irene Sommer hatte es eher zufällig hierher verschlagen. Mit einem Dampfschiff waren sie von St. Louis aus den Missouri hinaufgefahren, um sich in Kansas City einem Oregon-Treck anzuschließen. Aber das tagelange, pausenlose Unwetter hatte eine Weiterfahrt unmöglich gemacht. Deshalb hatte der Kapitän alle Reisenden an Land setzen lassen, wo sie ein Wagenzug nach Blue Springs bringen sollte, um von dort aus mit der Eisenbahn nach Kansas City zu fahren. Der Wagenzug war von Quantrills Bande angegriffen worden, die es auf Blue Springs abgesehen hatte und verhindern wollte, daß die Bürger der Stadt Verstärkung erhielten.

Die Reisenden waren zwar durchgekommen, aber Martin fragte sich, ob das an ihrem Schicksal etwas änderte. Sie waren zusammen mit den Bürgern der Stadt in Blue Springs eingeschlossen, ohne Hoffnung auf Rettung.

Er dachte an den jungen Peterson, den besten Reiter der Stadt, der in der Nacht ausgesandt worden war, um Hilfe aus der Garnison von Kansas City zu holen. Quantrill hatte ihn erwischt und mit einem Ultimatum, das die Aufforderung zur bedingungslosen Kapitulation enthielt, in die Stadt zurückgeschickt. Die Aufforderung steckte an einem Messer, das in Petersons Brust gerammt worden war. Den toten Kurier hatten die Bushwackers auf seinem Pferd festgebunden. Jetzt lag Peterson in einem Nebenraum der Kirche aufgebahrt, und Mary Calder, seine junge Verlobte, trauerte um ihn.

Und in Kansas City wußte man nichts über die verzweifelte Lage, in der sich Blue Springs befand.

Auch telegrafisch hatte man keine Hilfe anfordern können. Alle Verbindungen waren unterbrochen. Wahrscheinlich war das ebenfalls Quantrills Werk.

Mit langsamen Schritten, die frische, ein wenig nach Pulverrauch und Tod schmeckende Luft dieses ersten regenlosen Morgens seit vielen Tagen aufsaugend, ging der stämmige Deutsche durch die leeren Straßen der wie ausgestorben wirkenden Stadt. Sein Ziel lag im vornehmen Südteil: das Haus der Cordwainers, wo er und seine Freunde Unterkunft gefunden hatten. Hier wollte er sich ein wenig ausruhen. Sein verletzter Arm schmerzte so heftig, daß Martin für eine Weile als Schütze nicht zu gebrauchen war.

Wenn er länger auf die Fenster der verriegelten und teilweise verbarrikadierten Häuser sah, bemerkte er zuweilen ein Augenpaar oder zumindest das Flattern der Vorhänge. Alte, Frauen und Kinder warteten ängstlich auf den Ausgang des Kampfes, der über das Schicksal der Stadt und ihrer Bewohner entscheiden würde. Wie Quantrills Männer mit eroberten Städten umgingen, war allgemein bekannt. Häuser wurden abgebrannt, Männer erschossen und Frauen vergewaltigt. Nicht in alle Fenster konnte er blicken. Viele, besonders die zu ebener Erde gelegenen, waren mit Brettern vernagelt.

Es war ein langer, beschwerlicher Weg, der den norddeutschen Bauernsohn nach Amerika geführt hatte. Martin fragte sich, ob er hier zu Ende war.

Die Wohnhäuser wurden größer, pompöser und waren von kleinen Parks umgeben, als er ins südliche Viertel kam. Hier lebten die wohlhabenden Familien, wie die Cordwainers und die Lawrences.

Sie bestimmten, was in Blue Springs geschah. Sie sorgten dafür, daß alle Bürger der Stadt auf der Linie der Sklavereigegner waren. Und doch waren fast alle Bediensteten, die Martin bislang hier gesehen hatte, Schwarze.

Dieses Land Amerika war ebenso seltsam wie groß.

Seine Bewohner fochten einen gnadenlosen Bruderkrieg untereinander aus, in dem es nicht zuletzt um die Frage der Sklavenbefreiung ging. Und doch duldeten die Nordstaaten, die für die Abschaffung der Sklaverei eintraten, in ihren Reihen Staaten, in denen Sklaverei erlaubt war. Der Staat Missouri, an dessen westlichem Rand Blue Springs lag, war solch ein Staat.

In einer Zeitung auf dem Flußdampfer PRIDE OF MISSOURI hatte Martin die Proklamation gelesen, mit der Abraham Lincoln, Präsident der Nordstaaten, die Sklaven in den Konföderierten Staaten für frei erklärt hatte. Darin hatte es geheißen:

»Daß am ersten Tag des Januar unseres Herrn 1863 alle Personen, die in einem Staat oder bestimmten Teil eines Staates, dessen Bewohner zu der Zeit in Aufruhr gegen die Vereinigten Staaten sind, von der Zeit und für immer frei sein sollen, und die vollziehende Staatsgewalt der Vereinigten Staaten mit Einschluß der Militär- und Marinegewalt die Freiheit solcher Personen anerkennen und erhalten wird und nichts tun wird, um solche Personen oder eine von ihnen in ihren Bemühungen für ihre tatsächliche Freiheit zu hindern.«

Die Schwarzen in den sklavenhaltenden Staaten des Nordens waren nicht davon betroffen. Sie blieben weiterhin Sklaven.

Mitreisende auf dem Schiff hatten das Martin gegenüber als einen politischen Schachzug Lincolns bezeichnet. Der Präsident durfte Staaten wie Missouri nicht verprellen, wollte er verhindern, daß sie Partei für die Konföderation ergriffen. Später, wenn der Krieg gewonnen und die Sklaven in den Südstaaten freie Menschen waren, würden die übrigen Sklavenstaaten mitziehen müssen, denn das System der Sklaverei würde sich dann überlebt haben.

Vielleicht stimmte das. Martin jedenfalls hatte Vertrauen zu Abraham Lincoln.

Er hatte diesen großen Mann, auf dessen breiten Schultern eine ungeheure Verantwortung lastete, persönlich kennengelernt, als er und Jacob dabei geholfen hatten, die Entführung des Präsidenten durch Quantrills Guerillas zu verhindern.

Lincolns zerfurchtes, gütiges, weises und stets zu einem humorvollen Lächeln fähiges Gesicht stand so deutlich vor seinem inneren Auge, als sei dieses Zusammentreffen erst gestern erfolgt. Er spürte, daß dieser Mann nur das Beste für sein Land und dessen Bewohner wollte, auch wenn Martin nicht alle Winkelzüge der großen Politik verstand. Er wünschte Lincoln Glück und Erfolg für seinen schweren Kampf.

Das große weiße Herrenhaus der Cordwainers lag ebenso verlassen vor ihm wie alle übrigen Gebäude der verängstigten Stadt. Auch hier waren die zu ebener Erde liegenden Fenster vernagelt.