158060.fb2
»Nach draußen, den Verletzten helfen.«
Hatfield wollte durch die Tür auf den Gang treten, aber Cordwainer versperrte ihm den Weg. »Vergessen Sie das, Doc. Draußen ist alles verloren. Wir brauchen Sie hier im Haus. Wir müssen hier die Stellung halten, bis die Truppen aus Kansas City kommen.«
»Aber Quantrill hat doch den Kurier abgefangen«, meinte Irene verwirrt.
»Hat Ihnen das der Doc nicht erzählt?« fragte Cordwainer verwundert und zeigte auf den Mann mit der roten Schärpe, der hinter ihm stand. »Der Freund dieses Mannes, ein gewisser Cody, ist unterwegs zu General Ewing, um Hilfe zu holen.«
Irene antwortete nicht. Ihre Gedanken waren schon woanders.
Ängstlich sah sie Cordwainer an und fragte: »Wo ist Jacob?«
»Mr. Adler? Er hat sich tapfer geschlagen und bis zuletzt mit uns die Stellung gehalten. Aber dann haben ihn die Rebellen erwischt.«
*
Bloody Bill Andersen hatte Jacob zu Boden geworfen und kauerte auf ihm, ein Bowiemesser in der Rechten.
Jacob fühlte sich an den Kampf erinnert, den er und Quantrills Unterführer damals im Guerillalager ausgetragen hatten, als die Freischärler versucht hatten, Präsident Lincoln in ihre Hände zu bringen. Damals hatte der Deutsche den Kampf für sich entscheiden können. Diesmal sah es nicht so aus.
Beim Sturz hatte Jacob seinen Revolver verloren. Mit beiden Händen blockte er Andersons Hand mit dem Messer ab. Der Deutsche war groß und kräftig, aber der Südstaatler stand ihm darin nicht nach. Und Bloody Bill hatte den fanatischen Haß auf seiner Seite, den er gegen den »Dutch« entwickelt hatte. Die scharfe Klinge kam Jacobs Gesicht immer näher.
Jacob dachte an seinen nahen Tod und daran, daß er seine Familie nie wiedersehen würde. Seinen Vater, den Zimmermannsmeister Heinrich Adler, seine Schwester Marthe, seine Brüder Fritz und Lukas. Sie wollte er in Amerika wiederfinden; deshalb hatte er die weite Reise unternommen.
Der Gedanke an seine Familie gab Jacob Kraft, eine Kraft, die Andersons blindem Haß überlegen war. Der junge Deutsche hatte alle Muskeln angespannt und stieß jetzt den Angreifer mit einer gewaltigen Anstrengung von sich. Quantrills Unterführer schrie vor Überraschung auf und landete vier Yards entfernt im Schmutz der Straße.
»Du dreckiger Hund«, fluchte der Bärtige und stand auf, das große zweischneidige Messer noch immer in der Rechten. »Noch mal wird dir das nicht gelingen.«
Langsam kam er auf Jacob zu.
Der rang nach Atem, wälzte sich auf dem Boden herum und packte den Revolver, den er bei Andersons Angriff verloren hatte. Er riß die Waffe hoch, richtete die Mündung auf Bloody Bill und zog den Hahn zurück.
»Noch einen Schritt, und ich drücke ab!«
Anderson hielt mitten in der Bewegung inne und sah seinen Gegner lauernd an.
Jacob schwitzte. Er wußte nicht, ob noch eine Patrone in der Kammer steckte. Hatte er die letzte verschossen, als er Byron Cordwainer das Leben rettete?
Aber eins war ihm klar: Er durfte Anderson seine Zweifel nicht merken lassen.
Aus seinen Augenwinkeln bemerkte Jacob einen Schatten, der auf ihn zutrat. Dann hörte er das metallische Klacken eines gespannten Revolverhahns und eine irgendwoher vertraute Stimme, die sagte: »Wen haben wir denn da? Den verfluchten Dutchman, der uns immer wieder in die Suppe spuckt!«
Der Deutsche warf einen schnellen Blick zur Seite und erspähte einen mittelgroßen jungen Burschen, der ihn aus stechenden, eigentümlich zwinkernden Augen ansah. Jesse James stand keine zehn Yards von ihm entfernt und hatte einen Revolver auf Jacob gerichtet.
»Laß die Waffe fallen, Dutch. Das ist nicht fair dem guten Bill gegenüber. Er hat schließlich nur ein Messer in der Hand, kein Schießeisen.«
»Genau«, bestätigte Bloody Bill mit einem breiten Grinsen.
»Wenn ich meine Waffe fallen lasse, knallen Sie mich doch einfach ab«, sagte Jacob zu dem jungen Guerilla.
»Vielleicht«, meinte dieser. »Ich hätte jedenfalls nicht wenig Lust dazu.«
Jacob überlegte fieberhaft, wie er sich verhalten sollte. Mit einem vermutlich leergeschossenen Revolver hatte er kaum Chancen gegen den jungen Jesse James.
Eine Gruppe ihn umringender Reiter nahm ihm die Entscheidung ab. Gegen so viele Südstaatler hatte er auch nicht den Hauch einer Chance. Entmutigt ließ er den 44er sinken.
Anderson stieß einen Schrei aus und wollte sich auf den Deutschen stürzen, als ein grauuniformierter Reiter sein Pferd zwischen die beiden trieb.
»Nicht so hitzig, Bill«, wurde der Bärtige von William Clarke Quantrill ermahnt. »Sonst bringst du den Kerl noch um!«
»Und warum sollte ich das nicht tun?« fragte ein verärgerter Anderson.
»Weil tote Gefangene so schwer dazu zu bewegen sind, den Mund aufzumachen. Und ich möchte dem Dutchman gern noch ein paar Fragen stellen.« Er blickte seine Männer an. »Fesselt in an den Wagen und laßt eine Wache hier!«
Dann sprengte Quantrill mit dem Hauptteil seiner Streitmacht die Main Street hinauf, um sein blutiges Werk zu vollenden.
*
Das große Haus der Familie Cordwainer war jetzt eine kleine Festung. Die Frauen und die beiden Kinder drängten sich in Virginias Zimmer zusammen und warteten ängstlich auf die kommenden Ereignisse. Die Männer hatten die Fenster im Obergeschoß besetzt und schon mehrmals die Angriffe der Südstaatler abgeschlagen. Doch ihre Lage wurde immer verzweifelter. Wurde vor einer halben Stunde noch an verschiedenen Stellen in der Stadt gekämpft, so schien es nun, als sei das Cordwainer-Haus das letzte Widerstandsnest. Die Schüsse in der Ferne waren verstummt, aber die auf das große weiße Haus nahmen zu. Immer mehr Guerillas verschanzten sich in den umliegenden Gebäuden und nahmen es unter Feuer.
Mit Byron Cordwainer und Hickok waren zwei weitere Männer ins Haus gekommen, Angehörige von Cordwainers Jayhawkers-Truppe: der wuchtige Hufschmied Brock Haley und der Farmarbeiter Doug Smithers. Smithers war gestorben, als ihm eine Kugel die Lunge zerfetzte. Haley war von einem Querschläger das halbe Ohr weggerissen worden.
Auch Clyde, der alte Butler, hatte eine Verwundung davongetragen, als ihm eine Kugel in die Brust gefahren war. Hatfield kümmerte sich um ihn und versuchte die Kugel herauszuholen.
Die letzten kampffähigen Männer im Haus waren Byron und Avery Cordwainer, Hickok, Haley und Martin. Sie hielten sich, so gut es ging, in Deckung, mußten sie aber hin und wieder verlassen, um die Freischärler auf Distanz zu halten.
»Was ist das?« fragte Martin, der neben Byron Cordwainer unter einem großen Fenster hockte, auf einmal. »Da ruft doch jemand!«
Die Verteidiger stellten das Feuer ein und bemerkten jetzt erst, daß auch die Guerillas nicht mehr auf sie schossen.
Statt dessen rief eine Stimme nach ihnen: »He, ihr da im Haus! Wir wollen mit euch reden!«
»Dann tut es doch!« schrie Byron Cordwainer zurück.
»Versprecht ihr, nicht auf Captain Quantrill zu schießen?«
Der Major sah fragend in die Runde.
Hickok nickte ihm zu. »Wir sollten darauf eingehen. Verhandeln heißt Zeit schinden. Vielleicht gerade die Zeit, die General Ewing braucht, um uns zu helfen.«
»Einverstanden«, rief der Major. »Wir reden mit Quantrill und krümmen ihm kein Haar.«
Kurz darauf zeigten sich zwei Reiter unten vor dem Haus. Der eine trug eine graue Uniform und saß auf einem Braunen: Quantrill. Neben ihm erschien ein Guerilla mit der schwarzen Flagge, dem Wahrzeichen von Quantrills Einheit.
»Eine weiße Fahne war ihm wohl nicht gut genug«, knurrte Byron Cordwainer.
»Wozu auch, wenn er eine eigene Flagge hat«, meinte Hickok gleichgültig.