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Custis Hunter, Sheriff Haggen, Avery Cordwainer, Brock Haley und Martin folgten ihm. Die übrigen Männer schaufelten weiterhin Kohlen in die Feuerbüchse, während Nelson Tucker seine ungewohnte Tätigkeit als Lokführer aufnahm.
Die Lokomotive ruckte an, als die ersten Guerillas das Bahnhofsgelände erreichten. Es war nur eine kleine Gruppe. Offenbar hatte Quantrill seine Männer in alle Richtungen geschickt, um die Ausbrecher aufzuspüren. Das stählerne Ungetüm, daß sich gerade in Bewegung setzte, ersparte ihnen das Suchen. Sie rissen ihre Waffen in Anschlag und nahmen den Zug unter Feuer.
Darauf hatten Hickok und die Männer in den Wagen nur gewartet.
Die im Dunklen aufzuckenden Mündungsflammen zeigten ihnen, wo genau die Freischärler standen. Aus den Fensteröffnungen der Waggons erwiderte Hickoks Gruppe das Feuer. Mehrere Bushwackers sanken getroffen zu Boden. Die anderen suchten in Panik nach Deckung. Zeit genug für den Zug, den Bahnhof hinter sich zu lassen. Die vier Heizer arbeiteten weiterhin fieberhaft, und der Pfeil des Kesselmanometers drehte sich immer weiter nach rechts. Die Triebstangen arbeiten schneller und stießen die Kolben in immer kürzeren Abständen in die Zylinder. Allmählich gewann der Zug an Fahrt, wenn er auch noch weit von der Höchstgeschwindigkeit entfernt war.
Inzwischen hatten die Guerillas mitbekommen, daß die Ausbrecher zum Bahnhof geflohen waren. Immer wieder wurde auf den Zug geschossen. Kugeln fuhren splitternd in das Holz der Wagen oder prallten gegen die stählerne Lok und sirrten als Querschläger in die Nacht hinaus. Je schneller die Fahrtgeschwindigkeit wurde, desto schneller ließ der Zug auch diese Störfeuer hinter sich.
Als der Stadtrand auftauchte, erschien Hickok in der Tür, die vom vorderen Wagen zum Tender führte, und rief: »Macht ordentlich Dampf! Sie werden versuchen, uns am Stadtrand aufzuhalten.«
Der Scout kehrte nicht in den Wagen zurück, sondern ging auf der kleinen Plattform davor in die Hocke und starrte, beide Colts in den Fäusten, nach vorn.
Tatsächlich schlug dem Zug heftiges Feuer entgegen, als er an den letzten Häusern vorbeirumpelte, jetzt immerhin so schnell wie ein langsam galoppierendes Pferd.
Und dann sahen die Männer im Zug die böse Überraschung: Ein offener Kastenwagen war quer über die Schienen geschoben worden. Im Innern hatten sich ein paar Bushwackers verschanzt und schossen aus allen Rohren auf die Lokomotive.
Mit einem Aufschrei brach Ellery Cordwainer zusammen. Die Schaufel mit den Kohlen entglitt seinen Händen und fiel neben dem Zug zu Boden. Byron Cordwainer ging neben seinem Bruder in die Knie und untersuchte ihn.
»Er ist bewußtlos, hat eine Kugel in der Brust«, stellte der Mann in der blauen Offiziersuniform fest.
»Lassen Sie ihn auf dem Boden liegen«, riet Jacob. »Dort ist er vor weiteren Kugeln am besten geschützt.«
Melvin zeigte auf den Wagen, der über den Gleisen stand, und fragte zweifelnd: »Was sollen wir tun?«
»Weiterfahren!« schrie Hickok, der jetzt aufrecht auf der Plattform stand und einen Schuß nach dem anderen aus seinen Revolvern jagte.
Zwei Guerillas in dem Kastenwagen schrien getroffen auf. Einer rutschte zur Seite weg, der andere fiel kopfüber aus dem Wagen auf die Gleise.
Die Lok fuhr über den Mann hinweg und erfaßte den schweren Wagen. Die Guerillas, die noch in ihm hockten, sprangen nach allen Seiten auf den Boden. Wer es nicht rechtzeitig schaffte, wurde von dem vor der Lok prangenden Kuhfang mit dem Wagen angehoben und in die Luft geschleudert. Der Kastenwagen zersplitterte in tausend kleine Teile, als die Lok durchbrach.
Dann lag Blue Springs hinter dem Zug, und er dampfte in die offene Prärie hinaus. Aus der Stadt sandte man ihm noch etliche Kugeln hinterher, aber das war bald nur noch Munitionsverschwendung für die Freischärler. Auf der Lok und in den Wagen brach Jubel aus.
Jacob freute sich nur kurz. Dann bemerkte er, daß sich Nelson Tucker, der neben dem rechten Wasserhahn für die Kesselspeisung in die Hocke gegangen war, nicht mehr rührte. Als er den Stationsvorsteher anfaßte, fiel dieser nach hinten. In seinem Kopf klaffte ein großes rotes Loch. Er war tot.
»Was machen wir jetzt?« fragte Byron Cordwainer.
»Ich habe Tucker zugeschaut«, sagte Jacob. »Vielleicht kann ich das Ungetüm bedienen.« Er wandte sich zu Hickok um und schrie gegen den Lärm des Zuges: »Tucker ist erschossen worden. Ich übernehme seinen Posten. Schickt uns einen neuen Heizer!«
»In Ordnung«, antwortete der Scout und verschwand im Wagen.
Kurz darauf erschien Martin, um Jacobs Schaufel zu übernehmen.
Jacob sah ihn zweifelnd an. »Kannst du das mit deinem verletzten Arm?«
»Auf dem Hof meines Vaters habe ich einmal mit gebrochenem Arm bei der Ernte geholfen, weil es am nächsten Tag regnen sollte.« Martin grinste. »Außerdem nütze ich euch nicht viel, wenn ich den Scharfschützen spiele.«
Der stämmige Bauernsohn biß die Zähne zusammen und schaufelte eine Ladung Kohle nach der anderen in die heiße Feuerbüchse.
Der Zug mit jetzt noch acht handlungsfähigen Männern an Bord ratterte hinaus in die dunkle Prärie.
*
Zwei Stunden später
Der Zug hatte den hohen, spitzen Hancock Mountain umrundet, als die Verfolger auftauchten. In breiter Linie ritten sie von den Ausläufern des Berges und stürmten auf den Schienenstrang zu. Wieder ging ein wahrer Kugelregen auf den Zug nieder.
»Quantrill hat die Abkürzung über den Bergpaß genommen«, sagte Custis Hunter. »Jetzt hängt alles davon ab, wer schneller ist, er oder wir.«
Gespannt beobachteten die Männer im Zug die auf sie zukommenden Reiter. Die Heizer holten das Letzte aus sich heraus, um den Kesseldruck noch einmal in die Höhe zu treiben.
Der Zug fuhr durch einen kleinen Wald, weshalb die Männer an Bord Quantrills Trupp aus den Augen verloren. Sie hatten den Wald gerade hinter sich gelassen, als Jacob vor sich ein schnell näherkommendes Licht auftauchen sah. Das konnte nur eins bedeuten: Es war der Scheinwerfer eines anderen Zuges, der direkt auf sie zuraste. Wenn es Jacob nicht gelang, den Zug rechtzeitig anzuhalten, kam es zu einem katastrophalen Unfall.
Jacob hoffte, daß der andere Lokführer den Scheinwerfer ihrer Lok bemerkte. Er betätigte die Dampfpfeife und gleichzeitig den Druckregulator, um der Lok den Antriebsdampf zu nehmen. Aber wo saß die Bremse?
Verzweifelt betrachtete der Deutsche die verwirrende Anordnung der Hebel, als sich eine schwarze Hand auf einen von ihnen legte und kräftig an ihm zog. Kreischend und quietschend kam der Zug zum Stehen, während zwischen Rädern und Gleisen die Funken aufstoben. Die Männer an Bord wurden durcheinandergewirbelt wie Blätter im Herbststurm.
Als der Zug endlich stand, starrte Jacob verblüfft in Melvins Gesicht. »Woher wußten Sie, wo die Bremse sitzt?«
»Ich habe es nur vermutet. Als Kind durfte ich Custis und seinen Vater einmal auf einer Reise nach Philadelphia begleiten. Als wir mit der Bahn fuhren, ließ der Lokführer Custis und mich bei sich mitfahren. So ungefähr hatte ich die Sache noch im Kopf.«
»Na, Gott sei Dank«, murmelte Jacob und erhob sich, als etwas dicht neben seinem Kopf das linke Sichtfenster zerspringen ließ.
»Quantrill greift an!« rief Hickok aus dem vorderen Wagen. »Warum zur Hölle halten wir?«
»Deshalb!« entgegnete Jacob und zeigte nach vorn, wo der andere Zug keine zwei Lokomotivlängen vor ihnen ächzend und fauchend zum Stehen kam. Er war sehr lang und bestand sowohl aus Personen- als auch aus Güterwaggons.
Hickok ging auf der Plattform in Deckung und nahm die angreifenden Reiter unter Feuer, von denen zwei aus den Sätteln kippten. Doch immer mehr Guerillas galoppierten aus dem Wald heraus, und es sah schlecht aus für die wenigen Männer im Zug. Die Heizer zogen ihre Waffen und beteiligten sich an dem verzweifelten Abwehrkampf. Auch Jacob jagte Schuß um Schuß aus seinem Revolver.
Plötzlich krachte eine starke Gewehrsalve. Etliche Pferde überschlugen sich, wieherten verwundet auf, warfen ihre Reiter ab. Verwirrt zügelten die übrigen Guerillas ihre Tiere. Die zweite Salve trieb sie zum Wald zurück.
Aus den Waggons des anderen Zuges waren blauuniformierte Soldaten geströmt, auf Befehl ihrer Offiziere in Stellung gegangen und nahmen die Bushwackers jetzt unter starkes Feuer. Von der unerwarteten Gegenwehr geschockt, ergriffen die Freischärler die Flucht, etliche verwundete Kameraden zurücklassend.
Ein Offizier in der Uniform eines Colonels ging zum Zug aus Blue Springs und fragte: »Das eben waren wohl Quantrill und seine Mordbrenner?«
»Ganz recht, Sir«, antwortete Hickok, der vom Wagen sprang und sich vorstellte. »Mit wem haben wir die unverhoffte und lebensrettende Ehre? Und, vor allen Dingen, wie kommen Sie hierher?«
»Colonel Starret aus Kansas City«, antwortete der Offizier und salutierte. »Ein junger Bursche namens Johnny Miller kam nach einem Gewaltritt völlig abgehetzt nach Kansas City und teilte uns mit, was in Blue Springs los war. Wegen der unterbrochenen Telegrafenverbindung dachten wir uns schon, daß etwas nicht in Ordnung war. General Ewing hat mich mit einem Bataillon Kavallerie und einer Kompanie Infanterie ausgesandt, um nach dem Rechten zu sehen.«
»Der Miller-Junge hat uns also gerettet«, sagte Hickok leise und sah dann wieder den Offizier an. »Sie sollten Ihre Kavallerie schnell ausschicken, um Quantrill endgültig den Rest zu geben, Colonel.«
»Bin bereits dabei«, antwortete Starret und zeigte hinter sich.
Rampen wurden aus den Güterwaggons geschoben und darüber die Pferde aus dem Zug geführt. Der Colonel ging zu seinen Leuten, um ihnen die nötigen Befehle zu erteilen. Hickok begleitete ihn, da der Scout die genaue Stärke von Quantrills Schwarzer Brigade kannte.
Während die Kavalleristen in die Sättel stiegen, trat Custis Hunter auf die Plattform, auf der zuvor Hickok gestanden hatte, und sagte mit leiser Stimme: »Cordwainer und Sheriff Haggen sind tot«.