158060.fb2
Die Schwarze brach ab, weinte nur noch.
»Um nicht völlig allein zu sein?« setzte Irene den Satz fort.
Beth nickte.
Irene wollte ihr etwas Tröstendes sagen, aber ihr fiel nichts ein. Deshalb streichelte sie einfach nur ihren Arm. Beth sah sie dankbar an.
Das plötzliche Klopfen an der Tür ließ die beiden Frauen vor Schreck zusammenzucken. Sie hatten keine Schritte auf dem Gang gehört.
»Herein«, sagte Irene und dachte an Martin.
Aber der Mann, der jetzt ins Zimmer trat, war nicht ihr Freund vom Auswandererschiff. Es war ein kleiner älterer Mann mit einem großen weißen Schnauzbart. Um seinen Kopf war turbanartig ein blutiger Verband gewickelt. Er trug eine große schwarze Tasche bei sich.
»Doc Hatfield!« schrie das schwarze Hausmädchen freudig erregt.
Der Arzt nickte knapp und sah dann besorgt auf das Bett, wo sich Virginia in kovulsivischen Zuckungen wand.
»Sieht so aus, als sei ich gerade noch rechtzeitig gekommen«, sagte Edwin Hatfield, stellte seine Tasche neben dem Bett ab, zog seine Jacke aus und krempelte die Hemdsärmel hoch.
»Können Sie Mrs. Cordwainer noch helfen, Doktor?« fragte Beth mit banger Hoffnung.
Ein Zucken lief durch Hatfields Gesicht. Er antwortete nicht, fragte nur, wo er sich die Hände waschen könnte.
*
Während Hatfields Wunde gereinigt und verbunden wurde, erzählte Hickok Byron Cordwainer und seinen Männern in knappen Worten, was sich ereignet hatte. Zum Glück war der Arzt nur von einem Streifschuß getroffen worden. Die stark blutende Wunde sah schlimmer aus, als sie war.
Hatfield wollte sich als erstes um Hickoks verstauchten Fuß kümmern, aber als sie von Virginia Cordwainers prekärer Lage erfuhren, sagte der Scout: »Kümmern Sie sich rasch um die Frau, Doc! Bei mir sind schon schlimmere Verletzungen von selbst verheilt.«
Draußen vor den Barrikaden, war es wieder ruhig. Die Reiter, die Hickok und Hatfield verfolgt hatten, hatten sich zurückgezogen. Zwei waren, wahrscheinlich tot, zurückgeblieben. Sie lagen im Dreck, und niemand, kümmerte sich um sie.
Soldatenschicksal, durchfuhr es Jacob Adler, der mitgeholfen hatte, die Lücke in den Barrikaden wieder zu schließen. Jetzt kauerte er, den Karabiner in den Händen, in seiner Stellung und lauschte der Erzählung des hakennasigen Mannes mit der auffälligen roten Schärpe.
Jacob hatte sich in seiner Heimat nicht danach gedrängt, den Militärdienst für den König von Preußen abzuleisten. Die Umstände, die zu seiner überstürzten Flucht nach Amerika geführt hatten, verhinderten, daß er diesen Dienst antrat. Er war nicht traurig darüber, hatte das Benutzen von Schußwaffen immer gehaßt.
Jetzt war er gezwungen, sie zu benutzen und andere Menschen vielleicht zu töten. Er mußte es tun, um die Menschen, die ihm am Herzen lagen, zu beschützen. Das Schicksal ließ sich nicht betrügen. Er war jetzt doch eine Art Soldat, auch wenn er keine Uniform trug.
Aber der Mann, der die Verteidigung von Blue Springs leitete, trug eine Uniform, den blauen Waffenrock eines Majors. Byron Cordwainer hatte sich diesen Rang während der Indianerkriege bei den regulären Truppen erworben. Aus dem regulären Dienst war er ausgeschieden, aber Rang und Waffenrock trug er als Anführer einer irregulären Reiterkompanie weiterhin.
Jacob hatte darüber nachgedacht, inwieweit sich Cordwainers Jayhawkers von Quantrills Bushwackers unterscheiden mochten, aber er war zu keinem Ergebnis gelangt. Letztlich war es müßig, darüber zu spekulieren. Die Auswanderer und ihre Mitreisenden saßen mit Cordwainers Leuten in einem Boot. Ihr gemeinsamer Feind war Quantrills Schwarze Brigade, und das hielt sie zusammen.
»Wie schätzen Sie die Lage ein, Mr. Hickok?« fragte Cordwainer, nachdem der Kundschafter seinen Bericht beendet hatte.
»Für uns nicht sehr gut.«
»Aber wir haben hier eine gute Befestigung«, sagte der Major und zeigte auf die Barrikaden.
Hickok blieb unbeeindruckt. »Nicht mehr lange, wenn Quantrill erst die Wagen einsetzt.«
»Was für Wagen?« .
»Haben Sie eben die gewaltige Explosion gehört?«
»Ja«, antwortete Cordwainer, sah den Scout aber weiterhin verständnislos an.
»Das war ein mit Pulverfässern und Munitionskisten beladener Wagen. Ich habe ihn hochgehen lassen. Aber die Rebellen haben noch mehr davon. Wenn sie es schaffen, die Wagen an unsere Stellungen zu bringen, haben wir die längste Zeit Barrikaden gehabt.«
Allmählich zeichnete sich Erkenntnis auf dem asketischen Gesicht des Majors ab. Er wollte noch eine Frage stellen, wurde aber durch Schüsse unterbrochen, die vom Westteil der Stadt herüberklangen.
Und dann rief einer der Männer hinter den östlichen Barrikaden: »Sie kommen! Quantrill greift an!«
*
Der Wagen rumpelte einen steilen Hügel hinunter. Die große knochige Frau auf dem Bock hatte Mühe, die Zugpferde davon abzuhalten, schneller zu laufen. Das neunzehnjährige Mädchen, das neben ihr saß, warf den beiden Kleppern immer wieder ängstliche Blicke zu.
»Gut so, Agnes«, rief Ben Miller, der auf einem Pferd saß, seiner Frau zu. »Du machst das sehr gut. Die Geschwindigkeit ist genau richtig. Sieh nur zu, daß die Gäule nicht schneller werden.«
»Mach ich schon, Ben«, antwortete Agnes Miller und strengte sich weiter an, die Pferde zurückzuhalten.
Schließlich trug sie die Verantwortung für sich und ihre beiden Töchter: Cora, die neben ihr auf dem Bock saß, und die kleine, fieberkranke Ann, die zwischen den wichtigsten Habseligkeiten der Millers hinter ihr in dem planenüberspannten Kastenwagen lag.
Ben Miller hätte natürlich den Platz mit seiner Frau tauschen können, um den Wagen selbst den Hügel hinunterzusteuern. Aber Agnes hatte das nicht gewollt. Die Farmerin hatte schon öfter einen Wagen gelenkt und traute sich zu, mit dem Gespann umzugehen.
Auch wollte sie ihrem Mann nicht zuviel zumuten. Als Quantrills Guerillas auf ihre Farm gekommen waren, hatte Ben einen Streifschuß am Kopf abbekommen. Er trug noch den Verband, den Doc Hatfield ihm angelegt hatte.
Ben gab vor, keine Beschwerden mehr zu haben. Aber wenn er sich unbeobachtet glaubte, lag ein gequälter Ausdruck auf seinem Gesicht. Wären die Kinder nicht gewesen, hätte Agnes ihn schon darauf angesprochen. Doch sie wollte ihre Kinder nicht noch mehr verängstigen, als sie es ohnehin schon waren.
Und Agnes wollte mit einem Fahrerwechsel keine wertvolle Zeit verlieren. Denn die Millers waren auf der Flucht. Auf der Flucht vor Quantrills wilder Horde. Sie wußten nicht, ob sie verfolgt wurden, aber es konnte gut sein. Der Weg nach Kansas City war noch weit.
Hätten Doc Hatfield und die beiden Fremden, Hickok und Cody, die von Quantrill auf der Miller-Farm zurückgelassenen Verwundeten nicht überwältigt, befände sich die Farmerfamilie noch immer in der Gewalt der Südstaatler. Jetzt flohen sie mit ihrer wichtigsten Habe nach Kansas City, um im Schutz der dortigen Garnison abzuwarten, bis es in der Gegend um Blue Springs wieder ruhiger zuging.
Als der Wagen wohlbehalten das abschüssige Gelände hinter sich gelassen hatten, brannten die Zügel in den Händen der Farmerin. Sie schnalzte mit der Zunge und trieb die Pferde zu schnellerer Gangart an.
Dann wandte sie sich an Cora: »Klettere mal nach hinten und schau nach deiner Schwester!« »Ja, Ma.«
Cora verschwand unter der Plane, die über den alten Kastenwagen der Millers gespannt war.
»Ann ist wach«, rief Cora. »Ich bleibe bei ihr und mache ihr ein paar feuchte Umschläge.«
»Ist gut«, erwiderte ihre Mutter und sah besorgt zu Ben, der seinen Braunen zum Wagen lenkte. »Wo Johnny nur bleibt?«
»Ich weiß nicht«, brummte Ben und kniff die Augen zusammen, als er nach Westen blickte, um eine Spur von seinem Sohn zu entdecken.
Der sechzehnjährige Johnny war vor einer Stunde auf seinem Fuchs vorausgeritten, um die Gegend zu erkunden. Weniger, um mögliche Gefahren zu entdecken, mit denen vor ihnen nicht zu rechnen war, als um eventuelle Hilfe auszukundschaften. Vielleicht fand er eine Möglichkeit, das Militär rasch über Quantrills Auftauchen bei Blue Springs zu informieren. Zwar war der junge Cody mit zwei schnellen Pferden nach Kansas City aufgebrochen, aber die Leute in Blue Springs waren sicher für jede Stunde dankbar, die das Militär ihnen eher zu Hilfe kam.
Ben Miller konnte nicht ahnen, wie sich zwischenzeitlich die Lage in der Stadt zugespitzt hatte. Und daß die Verteidiger der Stadt auf Will Cody nicht mehr hoffen durften.