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»Es war ein Fehler«, murmelte Ben Miller so leise, daß es seine Frau vorn auf dem Wagen nicht hören konnte. »Ich hätte Johnny nicht allein vorschicken dürften, nicht in solchen Zeiten.«
Aber waren die Zeiten im Gebiet zwischen Kansas und Missouri, das man wegen der vielen Unruhen auch die »blutige Grenze« nannte, jemals besser gewesen? Falls es so gewesen war, konnte er sich nicht mehr daran erinnern.
Mit einem unwilligen Kopfschütteln trieb er den Braunen an und holte den Wagen ein. Das Kopfschütteln hätte er lassen sollen. Es brachte die starken, übelkeitserregenden Schmerzen zurück, die seinen Schädel seit dem Streifschuß heimsuchten. Er bemühte sich, es vor seiner Frau zu verbergen.
Ohne Erfolg.
»Fehlt dir etwas, Ben?« fragte Agnes im Flüsterton. Ihr Gesicht war ein Spiegel ihrer Besorgnis.
»Nur Kopfschmerzen«, meinte Ben und zwang sich tapfer zu einem Lächeln. »Nichts Ernstes.«
»Du solltest dich in Kansas City noch mal von einem Arzt untersuchen lassen. Nur zur Vorsicht.«
»Ja, in Kansas City.« Wieder suchten Ben Millers Augen das vor ihm liegende Land ab. »Wenn wir nur schon da wären.«
Seine Frau warf ihm einen weiteren besorgten Blick zu. »Du hörst dich an, als hättest du vor etwas Angst, Ben.«
Der Mann wollte seinen Kopf schütteln, unterließ es aber im letzten Augenblick. »Nicht vor etwas Bestimmtem. Nur vor den Gefahren, die in dieser unruhigen Zeit überall lauern. Manchmal denke ich, wir sollten aus diesem Land verschwinden und uns einem der Trecks anschließen, die von Kansas City ins Oregon-Gebiet fahren.«
»Auch da lauern überall Gefahren«, wandte die Frau ein.
»Ja. Aber die Menschen fallen nicht wie hungrige Wölfe übereinander her, nur weil sie verschiedene politische Ansichten vertreten.«
Eine Weile ritt Ben Miller schweigend neben dem Wagen her und hing seinen Gedanken nach.
Bis seine Frau sagte: »Ben, ich glaube, da kommt uns ein Reiter entgegen! Ist es Johnny?«
Diesmal hielt der Farmer sein Pferd nicht an, kniff nur erneut die Augen zusammen und legte wieder die Hand an die Hutkrempe. Ja, ein Reiter näherte sich dem Wagen, aber auf die Entfernung konnte er ihn nicht erkennen. Ben Miller hätte nicht mal zu sagen vermocht, ob es ein Weißer, ein Schwarzer oder ein Roter war.
Der Reiter ritt sehr schnell und verschwand hinter einem Baumgürtel. Wenn er wieder auftauchte, würde er in Schußweite sein.
Der Farmer war vorsichtig geworden. Er zog den von ihm stets gut gepflegten Gallagher-Hinterlader aus dem Scabbard und legte den Karabiner quer vor sich über den Sattel.
»Halte den Wagen an und geh hinein zu den Mädchen«, sagte er zu seiner Frau.
Agnes zügelte die Pferde und zog die knarrende Bremse fest. Aber sie kletterte nicht zu ihren Töchtern unter die Plane, sondern griff hinter sich und holte den Richmond-Karabiner hervor, der einem der verwundeten Quantrill-Männer gehört hatte.
»Was tust du?« fragte Ben stirnrunzelnd.
»Das siehst du doch«, antwortete seine Frau, während sie den Hahn spannte. »Ich stehe meinem Mann bei.«
Ben murmelte etwas Unverständliches in seinen Stoppelbart, aber ein stilles Lächeln glitt über sein Gesicht. Er war stolz und glücklich, daß er sich stets auf seine Familie verlassen konnte. Wenn das ein Mann in diesem wilden Land nicht konnte, besaß er schlechte Karten.
Der Reiter tauchte hinter den Bäumen auf und schwenkte seinen Hut. Jetzt erkannten die Millers ihn und auch sein Pferd mit dem rötlich schimmernden Fell.
»Es ist Johnny!« stieß Agnes erleichtert hervor und ließ vorsichtig den Hahn ihres Karabiners zurückgleiten, um die Waffe wieder in der Ablage hinter dem Bock zu verstauen.
Auch ihr Mann steckte seine Gallagher zurück ins Leder des Scabbards.
Johnny Miller zügelte sein Tier kurz vor dem Wagen und sagte aufgeregt: »Sie haben Cody, und sie kommen direkt auf uns zu!«
»Wer?« fragte sein Vater.
»Ich weiß es nicht. Drei Männer. Sie haben es eilig und führen zwei zusätzliche Pferde mit sich. Es sind die Pferde, mit denen Cody losgeritten ist. Über einem von ihnen liegt er.«
»Ist er tot?«
»Keine Ahnung. Das konnte ich nicht feststellen. Ich hatte gerade in einem Waldstück angehalten, um einen Stein aus einem Hufeisen zu pulen, als ich ihr Hufgetrappel hörte. Sowie ich Cody und die Pferde erkannte, habe ich mich davongemacht.«
Sie konnten die von Johnny beschriebene Gruppe jetzt sehen. Im schnellen Schritt kam sie auf den Planwagen zu.
»Wenn wir Glück haben, sind wir noch nicht entdeckt worden«, sagte der Farmer. »Immerhin dürften die Fremden, wer immer sie sein mögen, nicht mit uns rechnen.« Er zeigte auf den nächsten Baumgürtel. »Fahr den Wagen hinter die Bäume, Agnes.«
Seine Frau löste die Bremse, trieb die Zugtiere an und lenkte das Gespann nach rechts, bis es hinter der Baumgruppe verschwunden war. Ben und Johnny Miller folgten dem Wagen und stiegen hinter den Bäumen von den Pferden.
»Sorgt dafür, daß die Gäule ruhig sind«, sagte Ben Miller und schlich sich mit seiner Gallagher ins Unterholz, bis er einen freien Blick auf das übrige Gelände hatte, selbst aber gut getarnt war.
Cora beugte sich aus dem Wagen und fragte, was los sei. Ihre Mutter erklärte es ihr und wies sie an, dafür zu sorgen, daß Ann ruhig war.
Keine zehn Minuten, nachdem der Kastenwagen hinter den Bäumen verschwunden war, passierten die Fremden die Stelle. Ben Miller kannte sie nicht. Aber er kannte die Pferde und den jungen Burschen, der wie ein totes Stück Fracht über dem Rücken eines Braunen lag. Johnny hatte sich nicht getäuscht.
Freund oder Feind? fragte sich der Farmer beim Anblick der drei fremden Reiter, konnte sich diese Frage aber beim besten Willen nicht beantworten.
So wenig wie die anderen Fragen, die ihn beschäftigten: War Cody tot oder nur verwundet? Waren die drei Reiter für seinen Zustand verantwortlich, oder hatten sie ihn nur gefunden?
Sie konnten zu Quantrill gehören oder genauso gut auf der Seite der Union stehen. Sie trugen keine Uniform. Man sah es ihnen nicht an. Jedenfalls schienen es keine Einwohner von Blue Springs zu sein. Die kannte Ben Miller alle. Und er war sich ziemlich sicher, die drei schmutzigen, unrasierten Fremden noch nie im Leben gesehen zu haben.
Ben Miller war kurz versucht, sie anzusprechen. Immerhin war er bewaffnet und konnte sie auf Distanz halten. Möglich, daß sie freundlich gesinnt waren und wußten, wo es Hilfe für die von Quantrill bedrohte Stadt gab. Von Cody war jedenfalls keine Hilfe mehr zu erwarten.
Aber der Farmer hielt den Mund. Vielleicht gaben seine Vorsicht und die Verantwortung für seine Familie den Ausschlag dafür. Vielleicht eine Art sechster Sinn. Oder auch nur das grausame Aussehen des Pockennarbigen auf dem Apfelschimmel.
Nein, Ben Miller wollte kein Risiko eingehen, wollte seine Familie nicht in Gefahr bringen. Er ließ die kleine Gruppe vorbeireiten und wartete geschlagene zwanzig Minuten, bevor er das Signal zur Weiterfahrt gab.
»Pa, was machen wir jetzt?« fragte Johnny, der den Fuchs an seine Seite lenkte. »Ich meine, was Cody betrifft. Er kann keine Hilfe mehr für Blue Springs holen.«
»Nein«, stimmte ihm sein Vater zu und dachte über das Problem nach.
*
Die Erde erzitterte unter den vielen hundert Hufen, als Quantrills wilde Schar die Hügel heruntersprengte. Wie schon beim ersten Angriff auf Blue Springs stießen die Freischärler gellende Schlachtrufe aus und feuerten ihre Waffen ab, obwohl die Distanz zu den Barrikaden einen Treffer so gut wie unmöglich erscheinen ließ. Aber es machte ihnen Mut und sollte die Männer in der Stadt einschüchtern und vielleicht zu voreiligen Schüssen verleiten. Über den Häuptern der Bushwackers wehte Quantrills schwarze Flagge. Den Reitern voran rasten zwei vierspännige Frachtwagen - brennende Wagen.
Die Verteidiger duckten sich in ihre Stellungen, brachten ihre Waffen in Anschlag und warteten ab, bis die Angreifer auf sichere Schußweite heran waren. Sie waren es jetzt schon gewohnt, und Byron Cordwainers Ermahnung, erst auf seinen Befehl hin zu feuern, war überflüssig.
Jacob lag ruhig da, den Maynard-Karabiner im Anschlag und den Blick unverwandt auf die heranstürmenden Guerillas gerichtet. Er wunderte sich über sich selbst, wie leicht es ihm auf einmal fiel, Soldat zu sein und auf Menschen zu schießen -wenn er es unbedingt mußte.
In seiner Nähe hatten sich Cordwainer und Hickok verschanzt. Letzterer hatte sich ebenfalls mit einem Gewehr bewaffnet, einem Robinson-Nachbau des Sharps-Karabiners, der im Scabbard des erbeuteten Rebellenpferdes gesteckt hatte. Cordwainer begnügte sich mit seinem Army Colt, der in seiner Rechten lag. Der schwere Kavalleriesäbel, der an seiner Seite baumelte, war für das bevorstehende Feuergefecht nutzlos; die Offizierswaffe dokumentierte nur Cordwainers Führungsanspruch über die Männer von Blue Springs.