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Lange Zeit war Blue Springs die Endstation der Eisenbahn gewesen, weil die Bahnlinie wegen finanzieller Schwierigkeiten nicht in der Lage gewesen war das letzte Teilstück bis nach Kansas City fertigzustellen. Aber der Krieg hatte dies, wie so vieles, geändert.
Die Regierung hatte bislang Zuschüsse zum Bahnbau mit dem Hinweis verweigert, Transporte nach Kansas City könnten auch per Schiff auf dem Missouri durchgeführt worden. Wie unsicher es war, sich auf die Naturgewalten zu verlassen, zeigte sich in Regenzeiten wie diesen. Das hatte Washington schon vor einem Jahr erkannt und den Bau des letzten Teilstücks bezuschußt.
In Kansas City lag eine große und wichtige Garnison, mit der unbedingt Verbindung gehalten werden sollte. Denn das nahe Missouri gehörte zwar offiziell zur Union, zeigte als Sklavenstaat aber große Neigung, sich auf die Seite der Konföderierten zu schlagen. Deshalb war es wichtig, die US-Truppen aus Kansas City schnell verlegen zu können. Und dazu brauchte man die Eisenbahn.
Vor kurzem war die Verbindung zwischen Blue Springs und Kansas City hergestellt und auch schon zur Einweihung von einem Sonderzug befahren worden, der noch auf dem Bahnhof von Blue Springs stand. Jetzt wartete man hier auf den ersten regulären Zug für die neue Strecke, der für den Morgen des übernächsten Tages angekündigt war.
Auf den Zug warteten alle, auf die Wagenkolonne niemand. Um so größer war die allgemeine Überraschung. Sie verwandelte sich in Bestürzung, als die Reisenden von dem Zusammenstoß mit Quantrills Guerillas berichteten.
Ein großer, hagerer Mann, der in seinem dunklen Anzug fast aussah wie ein Priester oder ein Leichenbestatter, trat an den Wagenzug heran. Die aufgebrachte Menge wich respektvoll vor ihm zurück.
Byron Cordwainer blickte Jacob aus seinen tiefliegenden, stechenden Augen an und fragte: »Woher wissen Sie, daß diese Männer zu Quantrill gehören? Vielleicht waren es einfach nur Wegelagerer.«
»Wegelagerer, die in Kompaniestärke auftreten?« fragte Jacob zurück.
»Das ist in Zeiten wie diesen nicht ungewöhnlich. Ganze Horden von Deserteuren schwärmen durchs Land.«
»Vielleicht waren Deserteure unter den Männern. Aber dann reiten sie jetzt für Quantrill.«
»Was macht Sie da so sicher, Mister?« hakte Cordwainer nach.
»Ich weiß es, weil meine Freunde und ich vor kurzem erst auf Quantrill und seine Leute gestoßen sind. Es war kein angenehmes Zusammentreffen. Die drei Männer, die unsere Wagen in eine Falle locken sollten, kenne ich von damals sehr genau. Und sie reiten für Quantrill!«
Cordwainer musterte Jacob eingehend und nickte dann, offenbar zufrieden mit dem Ergebnis der Musterung und des Gehörten, wenn es ihm auch nicht behagte. »Wenn es wirklich Quantrill war, muß Blue Springs das Schlimmste befürchten.
Es ist allgemein bekannt, daß hier nur Anhänger der Union und Gegner der Sklaverei leben, obwohl unsere Stadt noch auf dem Gebiet von Missouri liegt. Quantrill wird sich kaum die Gelegenheit entgehen lassen, Blue Springs zu überfallen, um die Stadt, wie so viele vor ihr, zu plündern. Wir müssen uns sofort auf die Verteidigung vorbereiten.«
»Ganz so eilig ist es nicht«, beruhigte ihn Jacob und erzählte, wie sie die Brücke von Lone Rock zum Einsturz gebracht hatten.
»Das gibt uns etwas Luft«, stimmte Cordwainer zu. »Trotzdem haben wir keine Zeit zu verschenken. Auf Hilfe von außen ist nämlich so schnell nicht zu hoffen. Seit heute morgen sind sämtliche Telegrafenleitungen tot. Wir ...«
Er brach ab und verfiel in dumpfes Brüten. Kurz nur, dann sagte er: »Mir kommt gerade ein schlimmer Verdacht. Was ist, wenn das mit den Telegrafenleitungen kein Zufall ist, wenn auch Quantrill dahintersteckt?«
»Dann hat er es wirklich auf Ihre Stadt abgesehen«, antwortete Jacob.
»In der Tat«, murmelte Cordwainer, drehte sich abrupt um und gab laut seine Befehle.
Sein Tonfall verriet, daß er das Befehlen gewohnt war. Die Einwohner von Blue Springs gehorchten ihm aufs Wort und organisierten binnen weniger Stunden die Verteidigung der Stadt.
Die Wagen des Trecks wurden an die Ausfallstraßen gefahren und dort als Barrikaden umgestürzt. Fenster und Türen wurden vernagelt und ebenso Balkone, die so zu Wachtürmen wurden. Die kampffähigen Männer der Stadt wurden von Cordwainer in Gruppen eingeteilt, um die verschiedenen Verteidigungsstellungen zu besetzen. Ein Reiter wurde als Bote nach Kansas City gesandt, um Verstärkung aus der dortigen Garnison zu holen.
Die Menschen, die mit dem Wagentreck gekommen waren, wurden in Hotels und Pensionen untergebracht. Wer in diesen Häusern keine Unterkunft fand, wurde privat einquartiert.
Man half sich gegenseitig, denn man war auf gegenseitige Hilfe angewiesen. Die Männer des Trecks bedeuteten für die Einwohner von Blue Springs zusätzliche Gewehre bei der Verteidigung ihrer Stadt.
Jacob, Martin und Irene mit dem kleinen Jamie wurden eingeladen, im Privathaus der Cordwainers zu wohnen. Dieses Haus stellte manches sogenannte Hotel in den Schatten. Es war ein großer, weißer Bau mit mehreren Veranden, malerisch in einem kleinen Park gelegen. Eine zahlreiche dunkelhäutige Dienerschaft sorgte für die Bedürfnisse der weißen Herrschaft. Die bestand aus fünf Personen: Byron Cordwainers Vater Avery, dem Bürgermeister der Stadt; dessen Frau Abigail; Byrons jüngerem Bruder Ellery; Byron selbst und seiner schwangeren Frau Virginia.
Die Cordwainers und ihre unverhofften Gäste fanden sich in einem großen Salon zu einem späten Abendessen ein, nachdem die Verteidigung der Stadt organisiert war. Die mit blütenweißen Tüchern gedeckte Tafel bog sich fast unter den zahlreichen silbernen Schüsseln, Pfannen und Tellern. Die Cordwainers erschienen in feinster Garderobe und Byron in der Uniform eines US-Majors.
»Ich wußte nicht, daß Sie Offizier sind«, bemerkte Jacob, der sich, wie seine Freunde, in seiner einfachen Kleidung ein wenig deplaziert vorkam.
»Ich habe mit der regulären Armee gegen die Roten gekämpft und dort zum Schluß den Rang eines Majors bekleidet. Jetzt trage ich den blauen Rock, weil ich eine Kompanie Freiwilliger befehlige.«
»Gegen wen kämpfen Sie?«
»Gegen Männer wie die von Quantrill. Guerillas, Missourier, Bushwackers, wie immer man sie nennen will.«
»Ich habe nicht gewußt, daß hier die Front verläuft«, meinte Irene erstaunt.
Byron Cordwainer sah die junge Deutsche versonnen an. »Wir hatten hier schon eine Front und einen Krieg, als noch niemand im Süden daran dachte, sich von der Union loszusagen. Als Abraham Lincoln noch ein kleiner, unbekannter Rechtsanwalt bei den Hinterwäldlern war, haben wir Freistaatler in Kansas und Missouri schon blutig gegen die Versklavung der Schwarzen gekämpft.«
Die deutschen Auswanderer erfuhren, das Gegner und Befürworter der Sklaverei im Grenzgebiet zwischen Missouri und Kansas schon seit zehn Jahren verbissen gegeneinander kämpften. Erst ging es darum, ob das junge Kansas sich in seiner Verfassung zur Sklaverei bekannte oder nicht. Als diese Frage zu Gunsten der Sklavereigegner entschieden war, wollten diese ihre Auffassung auch den Sklaven haltenden Missouriern aufdrängen. Das offene Ausbrechen des Bürgerkriegs gab beiden Parteien neuen Auftrieb und ließ den blutigen Guerillakrieg nur noch heftiger werden.
Die Cordwainers äußerten sich entschieden gegen die Sklaverei. Ihre Familie war die reichste und maßgebliche in der Stadt. Sie sorgten dafür, daß sich niemand in Blue Springs niederließ, der nicht ihrer Ansicht war. Um die Stadt gegen Angriffe der Sklavereibefürworter zu verteidigen, hatte Byron Cordwainer aus ihren Bürgern die Freiwilligenkompanie rekrutiert, die jetzt das Kernstück der Stadtverteidigung bildete.
Während Byron Cordwainer, sein Bruder und sein Vater hitzige Reden für die Freiheit aller Menschen und gegen die Sklaverei führten, hielten sich die beiden Damen der Familie sehr zurück.
Abigail Cordwainer betonte zwischendurch nur immer wieder, wie froh sie sei, daß Politik eine reine Männerangelegenheit war.
Virginia Cordwainer war mehr als einsilbig. Ihr sowieso schon blasser Teint schien während des Abends noch bleicher zu werden. Sie rührte kaum etwas von den reichhaltigen und leckeren Speisen an.
Irene, die sie genau beobachtete, führte das erst auf Virginias Zustand zurück. Sie kannte das von ihrer eigenen Schwangerschaft. Aber je länger der Abend dauerte, desto mehr verfestigte sich in Irene der Eindruck, daß die Reden der Männer an Virginias Unwohlsein nicht unschuldig waren. Die schwangere Frau atmete regelrecht auf, als Avery Cordwainer die Tafel aufhob.
Es war schon spät, und bis auf Byron und Ellery Cordwainer wollten alle rasch zu Bett gehen. Die beiden Brüder wollten noch einmal die Verteidigungsstellungen kontrollieren.
Die drei Zimmer der Auswanderer lagen nebeneinander im obersten Stockwerk. Irene bemerkte, daß Virginias Schlafzimmer gleich neben ihrem lag.
Die junge Deutsche war so erschöpft von den Anstrengungen des Tages, daß ihre Augen zufielen, sobald sie Jamie in das von den Cordwainers zur Verfügung gestellte Kinderbett gelegt hatte. Einer ihrer letzten Gedanken war, daß ihr kleiner Sohn zum erstenmal in seinem jungen Leben in einem richtigen Kinderbett schlief, und dann noch in einem so prächtigen. In Oregon würde er bestimmt sein eigenes Kinderbett haben.
Irene schlief ein und träumte vom fernen Oregon, das in ihrem Traum einem Garten Eden glich.
*
Eilig und vorsichtig zugleich lenkte der junge, schmale Reiter seinen Schecken durch die Nacht. Eilig, weil die Menschen in Blue Springs auf seine Hilfe hofften, weil vielleicht ihr Leben davon abhing, daß er nach Kansas City durchkam. Vorsichtig, weil die fast stockdunkle Nacht viele Gefahren barg, die seinem Ritt ein vorzeitiges Ende setzen konnten.
Schon bei normaler Witterung mußte ein Reiter in der Dunkelheit vorsichtig sein, um zu vermeiden, daß sein Pferd über eine aus dem Boden ragende Wurzel stolperte oder in das Loch eines Hasen oder eines Fuchses trat. Die Regenbrüche der letzten Tage verschlimmerten diese Gefahren noch, indem sie den Boden aufweichten, rutschig machten, größere Baumwurzeln freilegten oder vormals sichere Pfade einfach wegschwemmten.
Deshalb ließ Gus Peterson seinen Schecken während der meisten Zeit nur im Schritt gehen. Am klügsten und sichersten wäre es gewesen, erst am nächsten Morgen aufzubrechen. Aber dann konnte es schon zu spät sein, konnte Blue Springs von Quantrill und seinen Guerillas eingekreist sein.
Wenn es stimmte, was die mit dem Treck eingetroffenen Leute erzählt hatten, war höchste Eile geboten. Bei Tagesanbruch, wenn er Quantrills Trupp hoffentlich umgangen hatte, wollte Gus sein Tier kräftig antreiben, um den Entsatz aus Kansas City möglichst schnell herbeizuholen.
Wenn das einem Mann gelingen konnte, dann Gus Peterson. Der zwanzigjährige Angestellte in der Lawrence Missouri Bank galt als einer der besten Reiter der Stadt, und sein Schecke Chief war eins der schnellsten und zugleich ausdauerndsten Tiere diesseits des Big Muddy. Das hatte Gus auf mehreren Rennen bewiesen, die ihm recht ansehnliche Preisgelder eingetragen hatten. Aber nie war es dabei um einen so hohen Preis gegangen wie in dieser wolkenverhangenen Nacht.
Mary Calder, die er bald heiraten wollte, hatte ihn mit Tränen im Gesicht angefleht, nicht zu reiten. Aber Gus hatte es tun müssen, auch für Mary. Er mußte verhindern, daß Quantrills Bande über seine Stadt herfiel und vielleicht auch über seine Braut. Allein die Vorstellung, daß Mary in die Hände der Guerillas fallen konnte, bereitete ihm fast körperliche Schmerzen.
Gus hoffte, früh genug aufgebrochen zu sein, um einen Zusammenstoß mit den Südstaatlern zu vermeiden. Falls es doch dazu kam, mußte er sich auf den alten Colt Dragoon an seiner Hüfte und auf den Karabiner in seinem Scabbard verlassen. Doch er hoffte sehr, daß es nicht dazu kam, denn Quantrills Horde pflegte in größerer Zahl aufzutreten, als er Patronen besaß.