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Der junge Spanier war im Laufe des Nachmittags aus seinem festen Schlummer durch das Eintreten des Kaziken und zweier älterer Indianer mit grausamen Zügen, denen das lange Haar in Zöpfen geflochten um das Gesicht hing, erweckt worden.
Er starrte in dem Dämmerlicht, das ihn umgab, auf die vor ihm auftauchenden Gestalten. Als er den Kaziken erkannte, sagte er fröhlich: "Ah, mein Freund, du hast dir die Sache überlegt; sehr verständig. Also, was koste ich? Ich hoffe, du schätzest mich weniger hoch ein als ich mich selbst taxiere. Was verlangst du würdiges Oberhaupt dieser trefflichen Menschen?"
"Wir möchten erfahren, wie dich die Weißen nennen. Du sagtest, du seiest der Sohn eines großen Häuptlings deines Volkes."
"Ich sagte dir auch die Wahrheit, ich bin Fernando de Mosquera, der Sohn des Gobernadors von Santander, und mein Vater wird deine Wünsche erfüllen."
"Wir bedürfen deiner Schätze nicht," erwiderte der Kazike. "Die Priester sind hier, um dich zu sehen."
Don Fernando warf einen Blick auf die widerwärtigen, mit silbernen Zieraten geschmückten Gestalten, aus deren Gesichtern ein tierischer Stumpfsinn sprach, während sie ihn mit den dunklen Augen anstarrten, und sagte dann, seinen Widerwillen bekämpfend: "Es ist mir eine Ehre, die beiden geistlichen Herren bei mir zu sehen, obgleich sie mit unseren Curas recht wenig Ähnlichkeit haben. Indessen wird mein Vater nicht säumen, auch ihre Wünsche zu erfüllen, die beiden Herren sollen nur angeben, was sie bedürfen."
"Sie bedürfen nur deiner selbst, Spanier," sagte der Kazike. "Dir soll die Ehre zu teil werden, auf dem Altar des Kriegsgottes, dem wir in allem Unglück treu geblieben sind, zu sterben als Opfer für den Gott. Sie sind gekommen, um zu erkennen, ob du mit Mut sterben wirst."
Der junge Mann erschrak sichtlich.
"Als Opfer für euern Kriegsgott - die Ehre, teuerster Herr, ist gewiß sehr groß" - das Beben seiner Stimme bewies seine innere Erregung, denn ihm war nicht unbekannt geblieben, daß im Gebirge Stämme hausten, die noch ihren alten grauenhaften Opferdienst pflegten, "aber ich bin der Ehre durchaus nicht würdig. Sollte euer Kriegsgott nicht Gold, Silber, schöne Sättel und Zäume, Decken und Büchsen viel lieber als Opfer nehmen, als einen unbedeutenden Menschen wie mich?"
Der Kazike wechselte einige Worte in der Aimaràsprache mit den Priestern, deren Gesichtszüge nicht verrieten, ob sie verstanden hatten, was der junge Mann sagte. Diese erwiderten etwas und gingen hinaus.
"Der Gott braucht die Dinge nicht, die du aufzählst," sagte der Kazike, "aber er liebt das blutende Herz eines Weißen, und du mußt dich glücklich preisen, es ihm darbieten zu dürfen."
"Ich danke dafür," murmelte der junge Mann mit bitterer Ironie.
"Iß und trink und sei guter Dinge, Weißer," sagte der Kazike und folgte den Priestern.
Don Fernando blieb in leicht erklärlicher Aufregung zurück. Er hatte sich trotz der Schrecken der Gefangenschaft unter diesen indianischen Räubern doch mit der Hoffnung getröstet, daß ein Lösegeld ihn rasch befreien würde. Sollten diese entmenschten Wilden, die so einsam im Gebirge hausten, ihn wirklich ihrem Aberglauben opfern wollen?
Er schauderte zusammen - er hatte nicht die geringste Lust zu sterben.
Verzweiflungsvoll sah er sich in dem Raume um, der ihm zum Aufenthalte angewiesen war.
Kahle Wände - eine unerreichbare Fensteröffnung, draußen bewaffnete Wächter.
Flucht war augenscheinlich unmöglich. Selbst wenn es ihm gelang, sein Gefängnis zu verlassen, wo sollte er hin in dem wüsten Gebirge ohne Waffen, eine fanatische, blutdürstige Bevölkerung um sich her?
Die alten Weiber traten wieder herein und brachten reichlich Speise und Trank. Beim Öffnen der Tür sah Don Fernando seine Wächter, die ihn, wie es ihm schien, behaglich angrinsten. Die Lust zu essen hatte er verloren, aber er trank lange und hastig aus dem mit Wasser gefüllten Kruge.
Dann warf er sich auf sein Lager und Schreckensbilder durchzogen sein Gehirn.
Er hatte von der Grausamkeit der Gebirgsstämme, die seit der Revolution gänzlich verwildert und vollständig unabhängig geworden waren, erzählen hören. Wußte, daß diese von Zeit zu Zeit aus ihren Schlupfwinkeln herauskamen und dann weder Weiße noch auch ihre sich zum Christentum bekennenden Stammesgenossen schonten. Es war ihm jetzt kein Zweifel, daß er unter eine solche Horde geraten war. Er schauderte, wenn er sich das Bild der beiden Männer zurückrief, die der Kazike Priester genannt hatte und der Worte des Häuptlings. Geopfert? Das ist abgeschlachtet zu werden? Und keine Hilfe? Unaufhörlich düstere Gedanken durch den Kopf wälzend, warf er sich auf seinem Lager unruhig hin und her.
Die Nacht kam und er merkte es nicht.
Vor der Tür seines Gefängnisses hatte man Feuer angezündet, er sah es an dem Lichtschein, der durch die Ritzen drang.
Die Zeit ging hin und er gewahrte es kaum, unaufhörlich malte er sich ein grauenhaftes Ende aus.
Er begann voll tiefster Inbrunst zu beten.
Ängstlich lauschte er oftmals. Ringsum war alles totenstill.
Er erhob sich leise, schlich unhörbar zur Tür und legte sein Ohr daran. Er hörte die Wächter atmen, aber ob sie schliefen oder wachten, vermochte er nicht zu unterscheiden.
Er faßte den verzweiflungsvollen Gedanken, hinauszustürzen und zu versuchen, das Freie zu erreichen.
Ein seltsamer Laut, ein leises Knirschen berührte sein Ohr, es kam von der Wand hinter ihm. Was war das?
Wie ein Hauch drang es jetzt zu ihm her in spanischer Sprache: "Schläfst du?"
Er bebte in fieberhafter Erregung von oben bis unten.
Wo kam der Laut her? - Er schien aus der Erde zu dringen.
Don Fernando neigte das Haupt nach der Seite hin, woher der Ton kam und flüsterte: "Nein."
"Komme hierher - langsam - leise."
Es war, trotzdem Licht durch die Ritzen der Tür zu erkennen war, ganz dunkel in der Zelle. Zitternd, Schritt vor Schritt ging er vorsichtig nach der Ecke zu, von dort kam die Stimme.
"Wo bist du?"
"Hier."
"Was willst du?"
"Dich retten."
Mit Mühe unterdrückte Don Fernando einen Freudenschrei; schon die spanischen Laute hatten ihm gesagt, daß er einen Freund vor sich habe.
"Beuge dich zur Erde, vorsichtig, sprich nicht mehr."
Der junge Spanier ließ sich langsam nieder, eine Hand berührte ihn, und nur seinem angstvoll lauschenden Ohre verständlich erklang es: "Hier ist eine Öffnung am Boden, du findest eine Treppe. Taste und komm herab."
Don Fernando tastete mit den Händen, fühlte mit grenzenlosem Entzücken eine viereckige Öffnung im Boden und eine Stufe. Mit größter Vorsicht setzte er seine Füße auf die oberste Treppenplatte und stieg die Stufen hinab in das Dunkel. Wieviel wußte er nicht, er war halb betäubt. Jetzt fühlte er eine menschliche Gestalt neben sich.
"Bleibe," hauchte es in sein Ohr, "ich will die Öffnung schließen." Er erriet mehr als er es sah, daß sein unbekannter Freund die Stufen hinaufging und die Öffnung oben schloß, nur ein leises Knirschen gab davon Kunde.
Eine Hand faßte die seine.
"Folge mir."
Willenlos folgte der erregte Gefangene der Hand, die ihn führte, durch einen sich windenden Gang und betrat mit seinem Führer den Raum, in dem der Mestize weilte.
"Keinen Laut, noch ist Gefahr."
"Was hast du mit uns vor? Wer bist du?"
"Ein Gefangener dieser Roten, gleich euch. Ihr sollt morgen geopfert werden, abgeschlachtet zu Ehren ihres Götzen; ich rette euch oder wir sterben zusammen."
Techpo befreite den Mestizen von der Fessel, die ihn an der Wand hielt.
"Und nun folgt mir, es ist keine Zeit zu verlieren."
Techpo stieg rasch hinauf, eilig folgten Don Fernando und der Halbindianer.
Sie standen in dem Gemache auf der Terrasse des Tempels. Techpo schloß die Öffnung vorsichtig. Er flüsterte den beiden, die sich selbst in der Dunkelheit mit forschenden Blicken maßen und gleichzeitig ihren Retter zu erkennen suchten, zu: "Dicht hinter mir gehen, leise. Kommt jemand uns in den Weg, werft euch zu Boden; muß gekämpft werden, übt keine Schonung, unser Leben ist verfallen."
Er wandte sich nach der den Priesterhäusern abgewandten Seite des Tempels und schlich geräuschlos voran, dicht folgten ihm, lautlos, Don Fernando und der Mestize.
Sie erreichten das Erlengebüsch, Techpo hob die Büchse auf und übergab dem Mestizen die Machete.
"Fort, die Nacht schreitet vor, bald kommt der Tag, bleibt dicht hinter mir, lautlos."
Schnell schritt der Knabe voraus, mit unfehlbarer Sicherheit den Weg wählend.
Von den Priesterhäusern her tönten Stimmen durch die Nacht und eiliges Hin- und Herrennen von Menschen.
"Deine Flucht ist entdeckt," sagte Techpo zu dem Spanier.
"O, hätte ich eine Waffe," seufzte Don Fernando, "ich möchte nicht wehrlos sterben."
"Nimm meine Machete." Der Knabe reichte ihm die Waffe.
"Vorwärts - wir müssen die Felsen gewinnen - verfolgen wird uns niemand, sie werden an einen Zauber glauben."
Sie eilten weiter.
Vom Tempel her tönte jetzt durch die Nacht der dumpfe, aber weithin hallende Ton eines Hornes, der, ein Zeichen drohenden Unheils, alle Schläfer in dem Tale der Aimaràs weckte.
In den zerstreuten Häusern der Indianer flammten Lichter auf.
"Schnell."
Jetzt wurde es auch lebendig in den Gärten und man vernahm Stimmen.
Das Horn ließ sich fort und fort vernehmen. Eine Gestalt tauchte schattenhaft zu ihrer Rechten auf. Stimmen erklangen.
"Zur Seite! Hinter den Busch! Nieder!"
Dem Anruf gehorchend, schlüpften alle drei hinter den von Techpo bezeichneten Busch und beugten sich zur Erde.
Sieben bis acht Männer huschten an ihnen vorbei und liefen dem Tempel zu, von dessen Höhe immerfort das dumpfe Horn herabklang.
"Presto amigos, der Tag kommt heran."
Sie stürmten unter Techpos Führung dahin. Von neuem kamen ihnen Männer entgegen, diesen war nicht auszuweichen.
"Kämpfen!" sagte der Knabe.
Die Aimaràs stutzten, als sie die drei Gestalten der Flüchtlinge, die so eilig herankamen, erspähten, und einer rief ihnen zu: "Halt!"
Doch Techpo stieß einen gellenden, weithin hallenden Schrei, den Kriegsruf eines benachbarten in den Bergen wohnenden Stammes, der seit Menschenaltern mit den Aimaràs in Todfeindschaft lag, aus.
Dies erschreckte die Aimaràs, die, durch das warnende Horn von einer Gefahr unterrichtet, jetzt, als sie den Kriegsruf der Chibchas hörten, den Feind mitten im Dorfe glaubten. Sie verschwanden im Dunkel.
Mit aller Kraft weiter strebend, erreichten jetzt die Flüchtlinge den Rand der Felsen. Noch war es dunkel.
"Geht dicht hinter mir, wir dürfen keine Spur hinterlassen," flüsterte der Knabe, und gehorsam folgten ihm die beiden anderen auf den Fersen über nacktes Felsgestein.
Techpo bog nach links ein und stieg in einer schmalen Felsrinne nach oben.
Sie war sehr steil und der hinter ihm gehende Spanier kam schwer fort. Techpo, dies gewahrend, reichte ihm die Hand, der nachfolgende Mestize, der des Bergsteigens gewohnt schien, unterstützte Don Fernando und schwer atmend erreichten die drei nach Anspannung aller ihrer Kräfte endlich ein kahles Felsplateau. Sie überschritten es in einer geraden Linie, um dann über einen schmalen Felsgrad hin, der besonders in der Dunkelheit nur mit Lebensgefahr zu überschreiten war, auf ein anderes höher gelegenes Felsplateau zu gelangen.
"So, jetzt sind wir einstweilen sicher," sagte der Knabe, "hier werden sie uns nicht vermuten, und sollten sie unsere Spur haben, über den Felsgrad traut sich keiner von ihnen. Aber wir müssen weiter, ehe die Sonne aufgeht, wir haben noch eine gefährliche Stelle vor uns."
Mit ungeminderter Kraft schritt der Knabe voran, mit Mühe nur folgte ihm der erschöpfte Spanier und selbst der Mestize zeigte, daß seine Spannkraft nachließ.
Schon wich die Nacht und die ersten roten Strahlen zuckten über den Horizont, als die Flüchtigen den Rand des mit Steinen übersäten Plateaus erreichten und in eine Schlucht hinabsahen, die jenseits wilde Felsformationen zeigte, die von düsterem Koniferenwald überragt waren. Deutlicher konnten die drei Flüchtlinge, die ein seltsames Schicksal hier auf der Höhe der Kordilleren vereinigt hatte, sich gegenseitig betrachten.
Mit Staunen sah Don Fernando den schönen Knaben vor sich, dessen Gestalt durch die indianische Tracht sehr vorteilhaft gehoben wurde.
Techpo blickte in des erschöpften Spaniers Antlitz, glücklich einen Weißen zu sehen, einen Jüngling, dessen Äußeres ihn symphatisch anmutete.
Neben ihm stand der Halbindianer, dessen bronzefarbene Züge seine Verwandtschaft mit den Ureingeborenen verrieten. Sein gutgeformtes Gesicht zeigte Klugheit und Energie, seine schlanke, in einen einfachen Jagdanzug gehüllte Gestalt sehnige Formen. Sein dunkles Auge ruhte mit Staunen auf Techpos jugendlichem Äußeren, seinem indianischen Putz.
Doch nur einen kurzen Augenblick dauerte diese gegenseitige Musterung der drei jungen Leute, die hier im rötlichen Schein des kommenden Tageslichts auf kahler Felshöhe standen.
"Quer vor uns ist ein oft begangener Pfad," flüsterte Techpo, "ich will hinunter und spähen, dort ist der Weg, der hinabführt, er ist leicht zu begehen. Lasse ich den Schrei des kreisenden Adlers hören, folgt mir."
Hierauf stieg er hinab und entschwand den Augen der beiden anderen.
Nun lauschten diese auf das Zeichen, das sie hinabrufen sollte.
Nach kurzer Zeit erklang der täuschend nachgeahmte helle Schrei des Raubvogels.
"Laßt mich vorangehen, Sennor," sagte der Mestize, "ich bin mit den Felsen vertrauter als Ihr."
"Geh, Amigo, ich bin todmüde."
Der Mestize stieg hinab und vorsichtig folgte ihm der Spanier.
Sie gelangten ohne große Mühe in die Tiefe der Schlucht, wo der Knabe sie erwartete.
"Vorsichtig, wir müssen dort schräg hinüber," er deutete auf eine Einbuchtung in der gegenüberliegenden Felswand. "Tretet nur auf Steine, sie sind schlau, die Bandidos."
Seinem Winke folgend und mit großer Vorsicht die Füße nur auf die durch die Schlucht verstreuten Steine setzend, gelangten sie hinüber, wo ihrer in einer Felsenrinne, die dem strömenden Regen als Abfluß dienen mußte, ein neuer Aufstieg harrte, der sich glücklicherweise minder schwierig und anstrengend erwies als der erschöpfte Spanier befürchtet hatte.
Nach kurzer Zeit waren sie oben und alle drei verschwanden im Dunkel des Waldes.
"Habt ihr noch Kräfte, eine Legua zurückzulegen?" richtete Techpo die Frage an den Spanier - "dann sind wir in voller Sicherheit und können ruhen."
"Vorwärts, Amigo - ich halte noch aus. Ein gütiges Geschick hat mir in dir" - er blickte mit dem Ausdruck freudiger Rührung in des Knaben Gesicht - "den rettenden Engel gesandt."
"Ja, Sennorito - Sennor spricht wahr - und das Geschick sei gepriesen. Antonio Minas wird nie vergessen, was Ihr für ihn getan habt."
Lächelnd reichte Techpo beiden die Hand und sagte einfach: "Ich bin glücklich, euch den Ladrones entrissen zu haben, was noch kommt, tragen wir gemeinsam."
Nach einer Stunde erreichten sie das stille, liebliche Tal, in dem die Maultiere Techpos weideten.
"Hier ruht aus, hier sind wir sicher - kein Indianer wagt es, dieser Höhle und diesen Felsen zu nahen, sie glauben sie von bösen Geistern bewohnt."
Er entnahm dem Beutel, den er mitgeführt hatte, gedörrtes Fleisch und Maiskuchen.
"Eßt, wenn ihr Hunger habt - ich muß schlafen, ich eile seit vielen Stunden durch die Berge."
Er suchte eine geschützte Stelle, wo das Gras hoch wuchs, wickelte sich in seinen Poncho und war gleich darauf eingeschlafen.
Don Fernando, der sich kaum noch auf den Füßen halten konnte, und der Mestize folgten, ohne auch nur die dargebotenen Speisen zu berühren, seinem Beispiele und suchten im Schlafe Erholung nach großer Anstrengung.