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Alonzo hatte es in der Tat schwierig gefunden, auf die andere Seite des Tales zu gelangen, und dazu mehr Zeit gebraucht, als er voraussetzte. Auch war ihm diese Seite der das Tal der Aimaràs umgebenden Berge nicht bekannt genug, um die kürzesten Pfade zu wählen. Endlich war er an der bezeichneten Stelle.
Seine Absicht, die Feinde zur Verfolgung zu bewegen, gelang, und er sah noch, wie seine Begleiter durch das Tal ritten, hörte auch den Schuß des Mestizen. Jetzt galt es also, zu der Stelle zu gelangen, die er mit den Freunden verabredet hatte.
Sein Gesicht hatte er, als er sich auf den Felsen zeigte, abgewendet gehalten, so daß er im Poncho und Sombrero für Don Fernando gehalten wurde.
Waren ihm diese Berge und Schluchten gleich nicht vertraut, verließ er sich doch auf seinen Jägerinstinkt und seine Kraft und Geschicklichkeit in Überwindung von Schwierigkeiten im Bereiche des Felsengebirges. Welche Richtung er einzuhalten hatte, um den Weg nach Westen zu erreichen, wußte er genau, ihn täuschte der wechselnde Stand der Sonne nicht.
In seinen Verfolgern hatte er aber Feinde, die diesen Teil des Gebirges kannten und das grimmige Verlangen fühlten, dessen, der sie so schmählich getäuscht hatte, habhaft zu werden.
Dies wurde Alonzo bald inne, als er sich zweimal die Richtung verlegt fand, die er einhalten wollte und einhalten mußte. Nur seine große Vorsicht verhinderte, daß er entdeckt wurde. Der Knabe, der so lange in der Gefangenschaft der Wilden geschmachtet hatte, war entschlossen, sich lieber in einen Abgrund zu stürzen, als sich von neuem in ihre Hände zu geben.
Da er den Verlauf der Schluchten nicht kannte und darum in diesen leichter der Gefahr ausgesetzt war, überrascht und umzingelt zu werden, mußte er sich auf den Höhen halten.
Wiederholt vernahm er Stimmen von unten und wurde hierdurch gezwungen, weiter von der Richtung, in der sein Ziel lag, abzuweichen, als es wünschenswert war. Im Begriff, einen abgeplatteten Felsen zu überschreiten, der mit dünnen Büschen bedeckt war, verriet ihm ein von der Seite kommender Ausruf, daß er gesehen worden sei.
Sein Auge gewahrte auf dem Nachbarfelsen, der durch eine steil abfallende Schlucht von dem getrennt war, auf dem er weilte, das Haupt eines Aimarà.
Der erregte Knabe riß mit Gedankenschnelle die Büchse an die Wange und feuerte. Krachend entlud sich die Waffe und der Kopf verschwand. Er lud seine Waffe rasch wieder und schaute, sich hinter Büschen deckend, um, jeden Augenblick erwartend, neue Feinde auftauchen zu sehen. Aber nichts zeigte sich.
Behutsam kroch er dann durch die Büsche dem Rande des Felsens zu, um einen Ausblick in die trennende Schlucht zu gewinnen. Vorsichtig blickte er über den Rand, gewahrte aber nichts Verdächtiges.
Eilig lief er nun nach der anderen Seite und hier war der Abstieg möglich. Er warf sich zwischen den Büschen nieder, um zu ruhen, denn seine Kraft war übermäßig in Anspruch genommen worden.
Er sah zur Sonne auf, die still ihre Bahn am weiten Himmelsbogen einherzog und dachte: "Werde ich die Heimat wiedersehen, auf die du jetzt auch deine goldenen Strahlen niedersendest? Oder muß ich fern von ihr in bitterem Herzeleid unter den Messern dieser Menschen sterben?"
Nichts regte sich um ihn, nichts Verdächtiges gewahrte sein forschendes Auge.
War der, auf den er schoß, allein gewesen? Hatten die anderen Aimaràs den Knall seiner Flinte vernommen? Daß der Schall eines Schusses, der in der Höhe abgegeben wird, schwer nach unten in die Schluchten dringt, wußte Alonzo.
Kannten aber jetzt die Aimaràs die Stelle, wo er weilte, so war es wahrscheinlich genug, daß bald von allen Seiten der Fels erstiegen werden würde. Geschah dies, war er entschlossen, zu kämpfen bis zum letzten Augenblick.
Still blieb es ringsum.
Er fühlte sich wieder kräftig und beschloß, den Abstieg zu wagen.
Er begann hinabzuklettern, fortwährend alles ringsum mit forschendem Auge überfliegend und von Zeit zu Zeit lauschend.
Er kam hinab und betrat eine mit Steingerölle bedeckte Schlucht.
Die Sonne sagte ihm, daß er sich nach rechts wenden müsse.
Eine andere Schlucht, breiter und mit Gras und Büschen bewachsen, kreuzte die, in der er einherging. Gebückt schritt er hindurch.
Ehe er sie noch hinter sich gebracht hatte, belehrten ihn gellende Rufe aus der Höhe, daß er entdeckt sei. Die Aimaràs schienen sämtlich oben zu sein. Sie hätten schießen können, denn einige führten Büchsen, aber zu sehr lag ihnen daran, den Gefangenen lebend zu haben, und er konnte ihnen nicht mehr entgehen.
Jetzt lief Alonzo, der immer noch den Sombrero und Poncho Don Fernandos trug, in der Fortsetzung der Schlucht, die er zuerst betrat, weiter. Er wußte, daß er die gewandten Verfolger bald auf seiner Ferse haben werde.
So mit aller Anstrengung vorwärts stürmend gewahrte er zur Rechten seines Weges auf einem Felsvorsprung einen gewaltigen, viereckig behauenen Stein und dahinter den Teil einer dunklen Öffnung im Felsen. Er wußte, daß ringsum in den Bergen Begräbnisstätten des einst zahlreichen Volkes der Aimaràs sich in den Felsen befanden, und hoffte, dies würde eine solche sein. Ein rauher Felspfad führte hinauf, Alonzo klomm ihn empor und verschwand in der Öffnung. Gleich darauf betraten zwei Indianer die Schlucht. Sie liefen weiter, die anderen kamen nach. Diese schenkten dem Orte, den Alonzo als Zuflucht aufgesucht hatte, mehr Beachtung als die ersten.
Sie blieben stehen und schauten hinauf.
"Dort schlummern die Toten früherer Zeiten," sagte ein älterer Mann, "als vor Jahren der Erdgeist zornig war und die Felsen schüttelte, verrückte sich der schließende Stein und öffnete die Pforte des Todes."
"Sollte der Weiße dorthin geflohen sein?"
Es war das wahrscheinlich, denn die Felsen ringsum stiegen jäh an, waren nicht zu erklettern und Alonzo hatte nicht Vorsprung genug gehabt, um die sich gerade hinstreckende Schlucht schon durchmessen zu haben, als sie von den ersten Verfolgern betreten wurde.
Man ließ drei Männer als Wache bei der Grabstätte und die anderen untersuchten eifrig jeden Strauch, jeden Winkel der Schlucht, wie auch die nächste nach Fußspuren, deren dort keine gefunden wurden, obgleich der weiche durchnäßte Boden sie da hätte aufnehmen müssen.
Alle kamen überein, daß der Flüchtling die Grabstätte aufgesucht habe, um sich darin zu bergen.
Diese selbst zu betreten, hinderte sie abergläubische Scheu.
Aber vielleicht erlaubte die gegenüberliegende Felswand einen Einblick. -
Schweratmend hatte Alonzo den dunklen Raum, zu dem eine geräumige, behauene Öffnung führte, betreten.
Es war, wie er vermutete, eine altindianische Gruft.
Ringsum standen in eingehauenen Nischen die verschnürten Ballen, die die Leichen der Indianer in hockender Stellung bargen. Die Trockenheit der Luft dörrt sie in diesen Felsgräbern zu Mumien aus. Alonzo hatte auf seinen Streifzügen durch die Gebirge dergleichen schon gesehen. Er atmete auf, denn er wußte, daß die Aimaràs in dieses Felsengrab nicht einzutreten wagen würden. Zunächst war er also gerettet.
Die Stimmen unten sagten ihm bald, daß man ihn hier oben vermutete, auch erkannte er, daß man von dem gegenüberliegenden Felsen einen Teil der Grabhöhle zu überschauen vermochte. Er setzte sich so, daß er nicht gesehen werden und doch nach dem Felsrande ausschauen konnte.
Nach einiger Zeit gewahrte er wirklich, wie drüben vorsichtig zwei Köpfe sich erhoben und deren funkelnde Augen das dunkle Grabmal durchforschten -, doch bald verschwanden sie wieder.
Den Knaben focht die schauerliche Umgebung nicht an, er streckte sich aus auf seinem Poncho und ruhte.
Der Hunger meldete sich und Durst quälte ihn. Aber der Beutel mit den Nahrungsmitteln war am Sattel seines Pferdes befestigt. Zu seiner Freude gewahrte er, wie in den Vertiefungen des Felsgesteins draußen noch kleine Pfützen Regenwasser standen. Hinter den Stein, der einst die Höhle verschloß, kriechend, vermochte er ungesehen seinen Durst zu löschen.
An Entbehrungen aller Art war er gewöhnt, seitdem er unter den Aimaràs weilte.
Aber was wurde aus den Gefährten, die jetzt seiner an dem verabredeten Orte harrten? Wie sie schmerzlich und angstvoll seiner harren würden, sie, die des Landes unkundig waren.
Ihm fiel jetzt auf, daß die Sonne trübe geworden war, er schaute vorsichtig hinaus und erkannte, daß der Nebel aus dem feuchten Tale aufstieg, der oft genug alles ringsum dicht in seinen Mantel einhüllte.
Immer matter war die Sonne, immer stärker der Nebel, schon konnte er die nahe gegenüberliegende Felswand nicht mehr sicher erblicken. Ein solcher Nebel nach einem starken Regengusse hielt oft tagelang an.
Bot ihm der Nebelschleier Rettung?
Der Gedanke kam ihm, daß die Aimaràs den Nebel benützen könnten, herauf zu schleichen, um ihn abzufangen. Vielleicht waren doch einige der Krieger weniger abergläubisch und wagten es, die Ruhestatt der Toten zu betreten. Zu heiß war ihr Verlangen, sich seiner zu bemächtigen.
"Ich will sie erschrecken, wenn sie kommen," sagte Alonzo. Er stieß einen der mit einer Decke von geflochtenem Bast umhüllten Ballen aus seiner Nische und durchschnitt die ihn zusammenhaltenden festen Faserstricke mit seiner Machete. Die Mumie, die zu Tage trat, stellte er dicht neben den Eingang an den Felsenpfad.
"Wenn die Abergläubischen davor nicht zurückschrecken, das würde mich wundern."
Der Nebel war jetzt so dicht, daß man nicht drei Schritte weit sehen konnte, die Sonne war nicht zu gewahren.
Alonzo horchte nach unten, kein Laut drang zu ihm. Vor der Höhle befand sich eine kleine Plattform, die einst für den schweren Schlußstein des Grabes hergestellt war. Beim Hinaufklettern hatte er gesehen, daß der Fels von hier fast senkrecht anstieg. Den Weg nach unten versperrten die Aimaràs, das wußte er, auch wenn er sie nicht sah, aber nach oben, gab es nach oben hin keinen Weg?
Er trat zur Seite des Eingangs bis an den Rand der Plattform und untersuchte den ansteigenden Fels.
Sein Auge erkannte leicht eingehauene Stufen, wahrscheinlich Reste einer ehemaligen in den Fels gemeißelten Treppe, die Regen und Frost noch nicht ganz zerstört hatten.
Er sann nach. Wenn ich meinen Lasso hätte -? Aber waren nicht die Mumien in lange, unendlich zähe Stricke eingehüllt, von deren Festigkeit er sich soeben überzeugt hatte?
Er entfernte einen zweiten Mumienballen von seinem Platze, löste den umschnürenden Strick und formte daraus einen Lasso. Das war auch in den Felsen ein nicht zu unterschätzendes Hilfsmittel.
Er warf die Büchse auf den Rücken, rollte die Seitenteile des Poncho auf den Schultern zusammen und umschnürte ihn mit seinem Gürtel. So hatte er die Arme frei.
Er betrat die Plattform und lauschte nach unten. Sein feines Ohr vernahm trotz des dämpfenden Nebels schleichende Schritte. "Ah, sie kommen doch -?" Er trat zurück und spannte den Hahn seiner Büchse.
Ein Schrei des Entsetzens berührte sein Ohr, ein Schrei des tiefsten Schreckens, und deutlich vernahm er, wie eilige Schritte sich nach unten entfernten.
Der ernste Knabe vermochte nicht, ein Lächeln zu unterdrücken. "Dank dir, toter Kazike," sagte er, "du hast sie gescheucht."
In der Tat hatten zwei jüngere Krieger versucht, sich an den Eingang der Höhle zu schleichen, als sie plötzlich im Nebel die Mumie vor sich sahen. Diesem Anblick hielten sie nicht stand und entfernten sich in tödlicher Angst.
"Nun ist es Zeit." Alonzo nahm den Strick zusammengerollt in die Hand und begann vorsichtig den Anstieg.
Er fand Stufenreste in geeigneter Höhe genügend groß noch, um den Fuß zu stützen, und gelangte so langsam nach oben.
Rings umgab ihn dicht der Nebel.
Endlich aber hörten die Stufen auf und nur die glatte nackte Felswand war vor ihm, aber er mußte dem Rande des Felsens nahe sein.
Er wickelte seinen Strick los und warf die Schlinge nach oben.
Zweimal kam sie zurück - das dritte Mal haftete sie an einem Gegenstande, den er aber nicht zu sehen vermochte. Er zerrte, hing sich an den Strick, er hielt.
Entschlossen kletterte er empor und erreichte nach geringer Anstrengung den Rand des Felsens. Die Schlinge hing an der zähen, tief im Fels haftenden Wurzel eines Baumes, den wohl der Sturm gebrochen haben mußte.
Alonzo war oben und atmete auf.
Vorsichtig ließ sich Alonzo an dem Strick nieder.
Nebel, Nebel ringsum, über ihm, unter ihm undurchdringlicher Nebel. Er machte den Strick los und rollte ihn zusammen. Die Sonne konnte er nicht sehen, doch in einem rechten Winkel mit der Schlucht schritt er mit der Sicherheit eines indianischen Jägers, der seinen Weg nach unscheinbaren Merkmalen bestimmt, in gerader Linie langsam und mit großer Vorsicht vor.
So gelangte er erst nach geraumer Zeit an den gegenüberliegenden zerrissenen Rand des felsigen Berges. Der Abstieg schien möglich, ihn deuchte es, als ob die Wand hier terrassenförmig abfalle.
Vorsichtig, sich fortwährend des Strickes bedienend, den er um Stein- und Felszacken schlang, gelangte Alonzo Fuß für Fuß herab bis auf eine grasbewachsene Talsohle. Mit Entzücken vernahm er das Rauschen eines Baches, der zeigte den Weg und verbarg seine Spur.
Gleich darauf stand er an dem Gewässer. Er stieg hinein und ging vorsichtig mit dessen Strömung. Ihm kam es jetzt vor allem darauf an, Raum zwischen sich und den Aimaràs zu legen. Der Gang war schwierig auf dem glatten Gerölle in dem kalten Wasser. Nach wohl zwei Stunden fühlte er sich ermattet, er trat ans Land und fand eine Dickung von Nadelholz. Er hieb Zweige ab mit seiner Machete, wickelte sich in seinen Poncho und schlief ein. Seine letzten Gedanken waren die Gefährten, die wohl ratlos in dem Nebel seiner harren mochten. Er erwachte, immer noch hüllte der Nebel alles ein. Den Durst stillte er in dem kleinen Bache, den Hunger überwand er. Wieder schritt er, mit einem Stabe bewehrt, den er sich geschnitten, in dem Bache talabwärts, bis ihn ein dumpfes Rauschen stutzig machte.
Er suchte das Ufer, das von Büschen und Bäumen eingefaßt war, und ging an diesem langsam hin. Stärker wurde das dumpfe Rauschen und er erkannte, daß der Bach zu seiner Seite senkrecht in die Tiefe stürze.
Die Sonne hatte er, seitdem der Nebel aufstieg, nicht mehr gesehen, aber jetzt mußte er an der einbrechenden Dunkelheit erkennen, daß sie hinter den Bergen verschwand. Er suchte, soweit es Nebel und Dämmerung gestatteten, nach einem Platze, wo er die Nacht zubringen konnte. Er fand einen vom Sturm niedergestürzten Baum, der zwischen dichten Büschen lag; hier bereitete er sich nach Jägerart sein Lager aus Zweigen, deckte sich mit solchen zu und entschlief.