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Acht Tage sind vergangen. Auf einem Hügel, dem Myrten und Lorbeerbüsche entsprießen, den Fächerpalmen umgeben, hält auf einem Maultier Alonzo und schaut staunend auf die weite Ebene, die sich vor ihm ausdehnt.
Er hat sie einst gesehen als Kind, aber sie ist ihm neu nach seinem jahrelangen Aufenthalt in der großartigen Gebirgsnatur der Anden.
Mit Entzücken eilt sein Blick weithin über die hie und da von kleinen Gehölzen unterbrochene, mit Gras, Blumen und niedrigen Gebüschen bedeckte Fläche, bis zu dem fernen Horizonte, wo alles in violettem Schimmer verschwindet und Himmel und Erde sich zu berühren scheinen. Vogelstimmen tönen lieblich zu seinem Ohr und buntfarbige Schmetterlinge umkreisen ihn.
Es ist das Land seiner Sehnsucht, in das er hinabschaut, das Land, wo Weiße und Christen wohnen und auf der anderen Seite liegen die Berge von Bogotá.
Mit einem Gefühle unendlichen Glückes blickte er über die Llanos hin.
Die durch Hunger und Überanstrengung hervorgerufene Schwäche war bei guter Nahrung rasch gewichen und die kranken Füße in der Ruhe bald geheilt. Herabsteigend von den Bergen, hatte der Knabe, der aus indianischer Gefangenschaft zurückkehrte und so mühsam Spanisch sprach, in den Ansiedlungen der Montaneros freundliche Aufnahme gefunden. Man hatte ihm Kleider und ein Maultier gegeben.
So war er hinabgeritten zu den Llanos, immer nur von der einen Sehnsucht getrieben, unter seinen Stammesgenossen zu sein.
Er war der Gefangenschaft entronnen, er hoffte einer glücklichen Zukunft entgegen zu gehen.
Langsam ließ er sein Tier den Hügel hinabschreiten und ritt durch den sonnigen Wald, wo er die Llanos auf welligen Hügeln begrenzte.
Still und einsam lag alles um ihn her da. Nach einiger Zeit kreuzte ein Reiter seinen Weg, der, als er ihn erblickte, anhielt und ihn betrachtete.
Alonzo sah auf gutem Pferde eine hochgewachsene Gestalt vor sich, die in einen blaugestreiften Poncho gehüllt war.
Das Gesicht des Mannes, das von dem breiten Rande des Sombrero beschattet wurde, hatte wenig Vertrauenerweckendes, doch fiel das Alonzo, der an die finsteren Gesichter der Aimaràs gewöhnt war, nicht auf. Das scharf gezeichnete Profil des hageren Gesichtes, die Adlernase, neben der dunkle, stechende Augen funkelten, der Bart, der die Lippen bedeckte und lang herabfallend das Gesicht umhüllte, waren ihm nichts als das Antlitz eines Weißen, eines Stammesgenossen, deren er nicht oft genug sehen konnte.
Der Reiter, der eine Büchse auf dem Rücken trug, maß die jugendliche Erscheinung Alonzos mit forschenden Blicken.
Als der ihm näher gekommen war, fragte er ihn: "Bist du hier zu Hause, Sennorito?"
Mit der Vorsicht, die ihm seine Gefangenschaft zur zweiten Natur gemacht, erwiderte Alonzo: "In den Bergen, Sennor, nicht hier."
"Kannst du mir sagen, ob ich auf dem Wege zur Calugaschlucht bin?"
"Weiß es nicht, Sennor."
Mit einem in den Bart gemurmelten Schimpfwort ritt der Mann davon, ohne dem Knaben weitere Beachtung zu schenken.
Alonzo setzte seinen Weg fort, und als er auf eine kleine Richtung traf, die ein Bach durchrauschte, hielt er, stieg ab, pflockte sein Tier an und ließ sich unter einer Gruppe schattenspendender Ceibabäume nieder.
Der vereinsamte Knabe, der, unter den rohen Aimaràs lebend, mehr verwildert war, als er selbst es wissen konnte, war nur von dem einen Gedanken fortgetrieben worden, seine Freiheit zu gewinnen. Diese Freiheit hatte er erlangt, aber er war klug genug, sich nach der Aufregung der Flucht, nach dem ersten Rausche des Glückes, die Frage vorzulegen, was er nun damit beginnen solle?
Er entsann sich deutlich des glänzenden Hauses in der Stadt Bogotá, das er als Kind bewohnte, umgeben von der Liebe der Eltern und einer ergebenen Dienerschaft.
Er wußte auch, daß der Name seines Vaters ein hochangesehener war. Seine Geschwister standen vor seinem Geistesauge, ein jüngerer Bruder und zwei kleine Schwestern, die der Tod so früh und so jäh hinabriß.
Einem Traume gleich lag das alles hinter ihm.
Es waren fünf Jahre, ja fünf Jahre mußten seit dem Unglückstage vergangen sein, der ihm durch Mörderhand seine Lieben raubte, ihn einsam machte auf Erden und ihn in die Gewalt der Wilden brachte.
Und mit viel Liebe war er umgeben worden vom Vater, Mutter, Großvater und dem jüngeren Bruder seines Vaters, Don Miguel.
Alonzo ließ sich im Schatten einiger Bäume nieder.
Hatte er früher oft darüber nachgedacht, welche Schritte er tun würde, wenn es ihm gelänge, die Freiheit zu gewinnen, so noch mehr in den letzten Tagen. Vater, Mutter, Geschwister waren tot - ach, wer lebte noch von den Seinen?
Er hatte sich vorgenommen, nach Bogotá zu gehen und dort Blutsverwandte aufzusuchen. Vor allem seinen Onkel. Aber waren sie noch am Leben? Hatten die Feinde seiner Familie Don Miguel verschont? Es war eine ihm endlos dünkende Zeit verstrichen seit dem Unglückstage im Tale der drei Quellen.
Man hatte auch ihn, den damals noch nicht elfjährigen Knaben, sicher für tot gehalten.
Und wenn er nun kam, fast zum Jüngling erwachsen, wenn er kam, so unähnlich den Caballeros des Landes - er entsann sich der glänzenden Erscheinung seines Vaters und seiner eigenen schönen Kleidung - im zerrissenen Poncho und sagte: "Ich bin Alonzo d'Alcantara, den ihr für tot beweintet!" wie würde man ihn empfangen?
An Erbschaftsrechte dachte der unwissende Knabe nicht. Aber er hatte oft, seit er der Aimaràsprache mächtig war, die Gespräche des Kaziken mit anderen belauscht und erfahren, daß sein Vater dem Haß tödlicher Feinde erlegen sei, ein Haß, der auch ihm, dem Sohne gelte, und daß er, Alonzo, nur als Gefangener bewahrt werde, um zu geeigneter Zeit an diese verkauft zu werden.
Er war Alonzo d'Alcantara, der Sohn Don Pedros, eines großen Caballeros und selbst ein Caballero, das war etwas mehr als die Kazikenwürde eines rothäutigen Indianers, sagte er sich mit kindischem Stolze, aber der Name war gefährlich für den, der ihn trug, das wußte er. Seine indianische Vorsicht hatte ihn davon abgehalten, ihn selbst Don Fernando und dem Mestizen mitzuteilen.
War gleich sein Ziel Bogotá, so dachte er doch nicht daran, seinen Namen eher dort zu nennen, ehe er alle Umstände erkundet hatte und vor allem ermittelt, wer von seinen Verwandten noch lebe.
Sein Lebensunterhalt machte ihm wenig Sorge. Er war an Entbehrungen aller Art gewöhnt, abgehärtet, stark, ein geübter Jäger und sicherer Schütze. Das Wild, dachte er sich, gibt Nahrung, die Llanos Futter für das Tier, und der Himmel war sein Dach.
Dieses große Kind wußte wenig von der Welt, die ihn erwartete, noch weniger von den Veränderungen und Zerstörungen, die die grausamen Bürgerkriege unter Menschen und Dingen hervorgerufen hatten.
Er war in der Freiheit, die er so mühsam errungen, so glücklich, daß er die Zukunft getrost dem Walten einer höheren Macht überließ. Er hoffte die Stätten seiner Kindheit wieder zu sehen, in denen er so glückliche Tage zugebracht und rief sich in süß schmerzlicher Erinnerung die Bilder vergangener Zeiten zurück.
So seinen Gedanken hingegeben, vernahm er zu seinem nicht geringen Erstaunen ein leise zu seinem Ohr dringendes silberhelles Lachen.
Er lauschte - es kam von jenseits des kleinen Baches.
Er erhob sich, ging durch den seichten Bach und die Büsche, die ihn jenseits umsäumten, und hatte, vorsichtig durch den Rand lugend, ein liebliches Bild vor sich.
Auf einer Waldblöße, ähnlich der, die er verlassen, spielte ein junges, hellgekleidetes Mädchen mit einem kleinen Hunde.
Sein Herz bebte vor Entzücken, er glaubte nie etwas Lieblicheres gesehen zu haben, als das schöne Kind mit dem lockigen Haar, der zarten Gestalt, anmutig in jeder Bewegung, wie sie da mit dem hübschen Tier spielte.
Er sah eine Zeitlang wie bezaubert zu. Endlich warf sie dem Hund einen Ball hin und sprang mit dem Ausruf: "Such, Mignon," lachend in die Büsche. Der Hund lief dem Ball nach und erhaschte ihn.
Von dem Aste eines nahen Baumes schnellte ein Jaguar herab, ein Schlag seiner Pranke und mit grellem Wehschrei brach der Hund zusammen.
"Mignon!" rief hierauf eine angstvolle Stimme und das junge Mädchen trat aus den Büschen hervor, von jähem Schreck wie erstarrt stehen bleibend, als sie das Raubtier vor sich erblickte. Die gewaltige Katze zog sich vor der hellgekleideten Gestalt knurrend etwas zurück, ihre Beute verlassend, kauerte nieder und schlug mit dem langen Schweife die Erde, während ihre grünlichen Lichter unheimlich funkelnd auf das Mädchen gerichtet waren. Das Tier bemaß den Sprung.
Da hob sich Alonzos Büchse - entlud sich und durch den Kopf geschossen lag die Bestie regungslos da, nur ein krampfhaftes Zittern durchlief ihren Leib.
Der Schreckensruf eines Mannes ließ sich hören; ein alter Herr in dem Anzug der wohlhabenden Hacienderos des Landes tauchte aus den Büschen auf und kam zur rechten Zeit, um das zum Tod erschreckte Mädchen vor dem Umsinken zu bewahren. Sein Blick fiel bald auf die ihre Glieder von sich streckende Bestie, bald auf das bleiche Gesicht des Kindes. Er rief um Hilfe, um Wasser, und zwei Peons eilten herbei, die mit nicht geringem Staunen den toten Jaguar sahen.
Alonzo, der Jägerregel folgend, lud seine Büchse und trat dann aus den Büschen, so nah, daß er des Mädchens Angesicht sehen konnte, das bleich mit geschlossenen Augen an des alten Mannes Brust ruhte.
Niemand achtete seiner, denn alle Aufmerksamkeit galt dem ohnmächtigen Kinde. Mit leuchtenden Augen schaute Alonzo die Kleine an, ein Engel deuchte sie ihm in ihrer kindlichen Schönheit.
Da öffnete sie die Augen und ihr Blick traf auf den des Knaben, der sie so bewundernd anstarrte, schlossen sich aber dann wieder.
Die Peons liefen nach Wasser, eine ältere Sennora und ein dienendes Mädchen, eine Mulattin, eilten herbei - alle umdrängten das Kind.
Alonzo, um den sich niemand kümmerte, der bei der Erregung aller kaum bemerkt zu werden schien, warf noch einen Blick auf das Mädchen, nahm die Büchse in den Arm, ging zurück zu seinem Maultier, stieg in den Sattel und ritt langsam mit überaus glücklichem Gesicht nach Norden zu. Ein Zeltlager, das er in kurzer Entfernung erblickte, sagte ihm, daß hier eine vornehme Familie die Waldeinsamkeit aufgesucht habe.
Nach einiger Zeit hörte er den Galopp eines Pferdes hinter sich und gleich darauf erschien einer der Peons, die er eben gesehen hatte.
"Warte doch, Bursche," rief der Mann schon in einiger Entfernung, "was reitest du denn davon?"
Alonzo hielt und wandte dem Mann sein ernstes, stolzes Gesicht zu, denn der Ton, in dem er ihn anredete, mißfiel ihm.
"Vorwärts, du mußt gleich zurückkommen, Sennor will dir danken. Beeile dich, Bursche, man läßt keinen Sennor warten."
Alonzo maß ihn ernsten Blickes von Kopf bis zu den Füßen.
"Sage deinem Sennor, daß er mir keinen Dank schuldig ist, und daß ich ihm rate, künftig höflichere Diener mit Botschaften auszusenden."
Alonzo hatte außer der Haltung und dem kühnen, stolzen Ausdruck des Gesichts nichts vom vornehmen Herrn an sich, sein zerrissener Poncho, der vom Regen arg mitgenommene Hut, die rauhe Fußbekleidung deuteten mehr auf den Bettler als den Caballero.
Der verblüffte Peon erwiderte: "Du bist ja wohl nicht recht gescheit, du Estupido, du?"
Unter dem drohenden Blick der dunklen Augen Alonzos war dem Diener doch nicht recht wohl. Alonzo sagte aber ruhig: "Empfiehl mich der Sennorita, und ich machte ihr das Jaguarfell zum Geschenk. Fort!" herrschte er den Diener an, als dieser zögerte, und eingeschüchtert wandte der sein Roß und galoppierte zurück.
Alonzo ritt weiter, immerfort an das zarte Kind denkend, das er vor dem wilden Tiere beschützt hatte.
Er rastete während der Mittagshitze und setzte dann seinen Weg nach Norden weiter fort, bis die Sonne sich zu senken begann.
Er betrat ein Tal, lieblich und lauschig. Malerische Felsgruppen engten es ein, auf denen Wachs- und Fächerpalmen wuchsen; einige mächtige Ceiba- und Terebinthenbäume bildeten eine Gruppe in dessen Mitte. Blühende Sträucher ringsum, auf denen Kolibris und Schmetterlinge gaukelten, erfreuten das Auge.
Staunend hielt er an - fast erschreckt. Er blickte sich um - an drei Stellen der felsigen Einfassung rauschte in kleinen Kaskaden silberhell das Wasser der Berge herab.
Einem Blitze gleich zuckte es durch seine Seele - schaudernd erkannte er, daß er an der Stätte weile, an der seine Lieben den jähen Tod durch Mörderhand fanden. Ein unendliches Weh zog durch sein Herz. Das war das Tal der drei Quellen.
Endlich fand er Worte für den unsäglich herben Schmerz.
"O Vater, Mutter, o ihr Lieben alle!" entrang es sich seinen Lippen. "O warum muß ich leben und die Unglücksstätte sehen, die euer Herzblut trank?"
Der ganze Schrecken jener Stunde stand vor seiner Seele. Er sank vom Maultier auf die Knie, betete und weinte herzbrechend. Es war lange her, daß Tränen seine jungen Augen gefeuchtet hatten.
Langsam ließ die furchtbare Erregung seiner Seele nach.
"Ihr seid im ewigen Himmelslicht und seht auf mich herab. Bittet für mich am Thron des Ewigen."
Alonzo stand endlich auf.
Er beschloß, die Nacht an diesem ihm so schreckenvollen und doch für ihn geheiligten Ort zuzubringen.
Er nahm sein Maultier am Zügel und sah sich nach einer Lagerstatt um. Während er noch so stand, ritt ein Mann, der aus den Bergen kommen mußte, langsam durch das Tal der Ebene zu.
Er war auf der anderen Seite der Gruppe von Ceibabäumen hervorgekommen, und sah Alonzo nicht. Ein Schuß hallte an den Felsen wider, der Mann wankte und neigte sich nach vorn über.
Alonzos Auge überflog, trotz der jähen Überraschung, hierbei die umbuschte Felswand, sah den Pulverdampf und glaubte eine Gestalt in blau gestreiftem Poncho dort zu erkennen.
Ohne sich zu besinnen, nahm er seine Büchse zur Hand und lief auf den verwundeten Mann zu, der sich nur mühsam im Sattel hielt.
Während er ihn mit der linken Hand zu stützen suchte, schaute er nach der Stätte, woher der Schuß gekommen und legte mit der Rechten seine Büchse in dieser Richtung an. Doch nichts zeigte sich seinem Auge.
"Seid ihr verletzt?" fragte er dann den Mann, dessen runzelvolles, graubärtiges Gesicht sich über ihn neigte.
"Ja, und es wird für dieses Leben genug sein."
"Das möge ein gütiges Geschick verhüten!"
"Fort, oder wir bekommen den zweiten Schuß."
Alonzos Falkenblick glaubte eine Bewegung in den Büschen, von wo aus der Schütze gefeuert haben mußte, wahrzunehmen, und schoß nach der Stelle hin. Eine stärkere Bewegung zeigte dem Jüngling an, daß der Schütze noch da sei.
"Hast du gesehen? Getroffen? Wer war es?"
Alonzo sagte dem Verwundeten, warum er geschossen und was er bemerkt habe.
"Du bist ein entschlossener Knabe. Es wird einer von den farbigen Schuften gewesen sein."
"Gebt mir eure Büchse." - Der Alte trug sie auf dem Rücken.
"Nimm sie, sie ist geladen -"
Alonzo nahm dem Mann die Waffe vorsichtig ab und bemerkte, daß Blut sein Hemd auf dem Schulterblatt rötete.
Die Büchse schußfertig in der Hand, die Büsche im Auge, führte er rückwärts gehend das Pferd, an dessen Hals sich der Verwundete klammerte, aus dem Bereich des Waldes heraus.
Als sie einige einsam in der Ebene stehende Palmen erreichten, half er dem Manne aus dem Sattel.
"Erlaubt, daß ich nach eurer Wunde sehe." Alonzo lüpfte des Mannes Hemd.
"Blutet sie stark?"
"Ich kann nur ganz wenig Blut sehen."
"Hier in meiner Tasche ist Heftpflaster," der Mann trug eine Tasche am Gürtel - "lege es drüber."
Das tat der Knabe.
"So, es ist gut, die Kugel sitzt drin in der Brust, die holt kein Mensch heraus, lange mache ich es nicht mehr." Er stöhnte dumpf und sagte halblaut: "Ich hätte diesen Ort des Unheils vermeiden müssen." Er sah jetzt seinen Helfer genau an und fragte: "Wer bist du und wie kommt es, daß du Worte der Aimaràsprache in deine Rede mischest?"
In seiner Erregung war Alonzo mehr in das ihm geläufigere Indianeridiom gefallen, als er wußte.
"Ich komme von den Aimaràs her, nach jahrelanger Gefangenschaft. Auch für mich war dieses Tal einst ein Ort des Unheils, von hier führten sie mich fort in die Berge, die blutigen Mörder."
Des Alten Gesicht, das keineswegs etwas Freundliches oder Vertrauenerweckendes hatte, sondern einen Zug von Härte, den der energisch unterdrückte Schmerz der Wunde nicht milderte, zeigte nach diesen Worten einen Ausdruck, der fast dem des Entsetzens glich.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte er Alonzo an.
Dann sagte er mit heiserer Stimme: "So bist du Don Pedros Sohn?"
Alonzo war von dieser Frage jäh überrascht und erwiderte: "Du sagst es, ich bin sein Erstgeborener, der einzige, der damals den Tag des Schreckens überlebt hat."
Er sah in schmerzlicher Erinnerung vor sich nieder und bemerkte nicht, wie der alte Mann sein Gesicht in der rechten Hand verbarg. Die andere hing gelähmt hernieder.
"O - es geschehen noch Wunder" - stammelte er vor sich hin in einem Tone, der eine tiefe seelische Erschütterung bekundete.
"Sie wissen von dem Schreckenstage, Sennor?"
"Ja, ja, ich weiß - ich weiß. Und du bist d'Alcantaras Erstgeborener - du?"
In des Mannes Gesicht, als er jetzt den Blick wieder auf Alonzo richtete, lag etwas Scheues, fast Ängstliches, das den harten Zügen sonst fremd sein mußte, und ein Zittern lief über seinen Leib. Leise wiederholte er: "Pedro d'Alcantaras Sohn!"
"Sie haben meinen armen Vater gekannt?"
Der Verwundete antwortete nicht, ein Stöhnen entrang sich seiner Brust, ein schmerzvolles Stöhnen. Alonzo schrieb es der schweren Verwundung zu.
"Hilf mir aufs Pferd," sagte der Mann dann hastig, "bringe mich nach Hause - ich wohne nicht weit - ich muß noch einige Stunden leben - ich habe noch etwas auf der Welt zu tun - hilf mir -"
Der Knabe, der wieder im vollen Besitz seiner Kraft war, half dem Mann in den Sattel. Stumm ertrug dieser den Schmerz und klammerte sich an dem Sattelknopf fest.
"Steig auf dein Tier, reite neben mir und stütze mich."
So tat Alonzo und beide bewegten sich im Schritt vorwärts, der Alte von Zeit zu Zeit dumpfe Klagelaute ausstoßend, die zu unterdrücken er sich vergeblich bemühte.
Nach einer Stunde erreichten sie ein kleines Haus am Ufer eines Flusses.
Eine alte Negerin erschien in der Tür und vernahm mit Schrecken, daß ihr Herr verwundet sei.
Alonzo und sie trugen den Kranken zu seinem Lager.
"Wasser!"
Man gab es ihm.
Dann lag er eine Zeit schweigend, ermattet da.
Endlich sagte er, kräftiger als man erwarten konnte: "Erbarme dich meiner, Kind, reite zur Hacienda Sennor Vivandas, nimm meinen Rappen, er ist rasch, und hole mir den Cura von dort. Rahel wird dir den Weg zeigen. Der Cura ist der Bruder des Sennors. Sage ihm, Enriquez Gomez liege im Sterben und wolle beichten. Sage ihm, es sei wichtig für den Staat und für viele Menschen, daß er meine Beichte höre und aufschreibe, er soll Papier und Tinte mitbringen."
"O, beides ist hier, Don Enriquez," sagte die Negerin.
"O, so - dann her damit - die rechte Hand ist noch zu gebrauchen. Reite, reite, mein Kind, laß mich nicht ohne Beichte und Absolution sterben."
Der erschütterte Knabe versprach sein Bestes zu tun.
"Noch eines," sagte der Verwundete im Flüstertone, "wenn du mich nicht lebend wieder siehst - nenne deinen Namen nicht - niemand - hüte dich vor de Valla - vor de Valla, er trachtet dir nach dem Leben - reite, reite -"
Den Kranken nicht noch mehr zu erregen, ging Alonzo hinaus; die Negerin folgte ihm und zeigte ihm den angepflockten Rappen. Alonzo sattelte ihn, nahm seine wieder geladene Büchse und stieg auf.
"In welcher Richtung liegt die Hacienda, Madrecilla?"
Sie zeigte ihm einen glänzenden Stern am Himmel. "Reite auf diesen zu, Söhnchen, du wirst dann bald, wenn der Boden ansteigt, die Lichter von Otoño sehen. Der Rappe kennt die Llanos auch bei Nacht, du reitest sicher."
Fort ritt Alonzo auf den Stern zu, das Pferd zur schnellsten Gangart nötigend. Schattenhaft sausten Sträuche und Bäume an ihm vorbei, das Pferd war feurig und ging sicher.
Nach einem scharfen Ritte sah er vor sich, unter ihm liegend, einzelne Lichter, er ließ das Tier etwas verschnaufen und jagte dann weiter. Bald ritt er zwischen Feldern auf gebahnten Wegen einher und hielt gleich darauf vor der Veranda eines erleuchteten Hauses.
Er fragte nach dem Cura und man führte ihn in ein Parterrezimmer, wo er einen älteren, würdig aussehenden Herrn in Priestertracht antraf. Er teilte diesem den Wunsch des schwer verwundeten Mannes mit.
Ernst, sehr ernst hörte ihn der Geistliche an und sagte dann: "Ich will seinen Wunsch erfüllen und mit dir reiten." Er klingelte, bestellte sein Maultier, befahl, daß ein Peon mit einer Fackel vorausreiten solle, packte, während diese Befehle ausgeführt wurden, Papier und Schreibzeug in eine Tasche, auch eine Flasche Wein und gleich darauf ritten er und Alonzo, der Fackel des Peons folgend, der Hütte des verwundeten Gomez zu. Dieser, der glücklicherweise bis jetzt nur leichtes Wundfieber hatte, war erfreut, als er die Ankömmlinge erblickte.
Er befahl, daß alle das Haus verlassen und sich diesem fern halten sollten, und blieb mit dem Geistlichen, der sein Schreibzeug hervorholte, allein.
Erst nach längerer Zeit wurden die Negerin und Alonzo hereingerufen.
Der Geistliche war sehr ernst und betrachtete Alonzos Züge mit großer Aufmerksamkeit. Mit dem Kranken war eine starke Veränderung vor sich gegangen -, er trug den Zug des Todes im bleichen Antlitz. Lange blickte er auf Alonzo. "Reiche einem Sterbenden die Hand, Kind."
Alonzo gab sie ihm.
"Was geschehen konnte, deinen ferneren Lebensweg zu ebnen, armer Knabe, ist geschehen. Vertraue hier dem Cura und folge ihm, er ist dein Freund, er weiß alles."
Es lag eine Weichheit in der Stimme, in den Zügen des Mannes, die umso eindringlicher wirkte, als der Todesengel zu seinen Häupten stand.
"Du hast mir beigestanden in der Not - Sohn Don Pedros, Gott segne dich dafür - sei glücklich, glücklich - erbarme dich - verzeihe -"; er schloß die Augen und lag da wie ein Toter - die letzte Ölung hatte er schon empfangen -, plötzlich hob er das Haupt wieder, öffnete die bereits glanzlosen Augen - "Cura - die Briefe - die Briefe von - ihm - die Brie-"; er sank zurück und war tot.
Der Geistliche betete für seine Seele und schloß: "Mag Gott ihm ein gnädiger Richter sein."
Die Negerin weinte.
"Don Enriquez hat dir sein Eigentum hinterlassen, Rahel. Morgen wollen wir ihn der Erde übergeben. Komm mit mir, Alonzo, zur Hacienda," wandte er sich an den Knaben, "du bist mir anvertraut, mein armes Kind, und ich werde das Vertrauen nicht täuschen."
"Ich folge dir, Cura."
Schweigend legten sie den Weg zur Hacienda zurück, wo man Alonzo ein Zimmer anwies.
Am anderen Tage wurde Enriquez Gomez beerdigt. Der Cura durchstöberte alles nach den Briefen, von denen der Sterbende gesprochen hatte, fand aber nichts.
Als sie zur Hacienda zurückkehrten, war eben der Haciendero Sennor Vincente Vivanda, der ältere Bruder des Geistlichen, angelangt, der mit seinem Töchterchen eine Fahrt in die Berge gemacht hatte.
Eine helle melodische Stimme erklang im Jubeltone: "Das ist er - Papa -, das ist er -, der mich gerettet hat -," und mit jäh emporschießender Freude sah Alonzo das zarte Kind vor sich, das er durch einen glücklichen Schuß auf die gefährliche Katze vor Unheil bewahrt hatte.