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»Ziehen Sie mich doch an Bord!« forderte Vivian Marquand.
Arnold Schelp überlegte. War es nicht günstiger, die Frau einfach ersaufen zu lassen?
Vielleicht konnte er sich allein, ohne lästige Mitwisser, leichter durchschlagen.
Aber dann dachte er wieder an das Bombengeschäft, das die Fracht der ALBANY versprach.
Ohne die Hilfe der anderen würde er es vielleicht nicht schaffen, sich des Schiffes wieder zu bemächtigen. Sie waren mit den hiesigen Sitten und Gebräuchen vertrauter als er. Und mit ihrer Unterstützung würde es auch leichter gelingen, die Fracht an ihren Bestimmungsort zu bringen.
»Was ist denn?« rief halb erstickt die Frau, die sich nur noch mühsam über Wasser hielt. Ihre vollgesogene Kleidung zog sie erbarmungslos in die Tiefe.
Bis Schelp sich entschlossen hatte. Seine kräftigen Armen hievten sie ins Boot. Und kurz danach auch Don Emiliano und McCord.
Die ALBANY war in der Zwischenzeit an den vier Menschen vorbeigefahren. Ihre Silhouette, der dunkle Rumpf und die im Sternenlicht hell glänzenden Segel, schwamm aber noch groß und drohend in der Nähe.
Schreie drangen zu den Menschen im Ruderboot herüber, manchmal nur als vom starken Nachtwind zerstückelte Wortfetzen:
»Mann über Bord!«
».Beiboot. fehlt.«
».Steuermann. tot!«
»Beidrehen!«
Schelp blickte skeptisch zur ALBANY und fluchte: »Verdammt, sie suchen nach uns! Los, alles an die Riemen!«
Sie lösten die Ruder aus den eisernen Spangen und legten sie in die Dollen. Als sie die hölzernen Ruderblätter ins Wasser tauchten, bewegte sich das Boot sehr ungelenk auf den Wellen.
»Wir fahren ja im Kreis!« stieß Schelp wütend hervor.
Die Ursache war schnell gefunden. Schelp und McCord saßen auf der einen und Vivian Marquand und Don Emiliano auf der anderen Seite. Die beiden letzteren verstanden sich nicht besonders auf das viel Kraft erfordernde Rudern, weshalb sich ihre Bemühungen beim Antreiben des Bootes nicht so sehr auswirkten.
Auf Schelps Befehl tauschten die Frau und der Südstaatler die Plätze. Danach bewegte sich das Boot gleichmäßiger und damit schneller.
»Wohin fahren wir überhaupt?« erkundigte sich zwischen zwei Ruderschlägen keuchend der Mexikaner.
»Zur Küste natürlich!« knurrte Schelp. »Bis nach San Francisco schaffen wir es in dieser Nußschale niemals.«
*
»Ich werde alle Boote wassern und so lange nach diesen Ratten suchen, bis ich sie habe!« sagte Piet Hansen mit verbissenem Gesicht.
Er stand neben Jacob und Irene an der Reling, umkrampfte diese mit seinen Fäusten und starrte hinaus auf das samtig glitzernde Meer, das irgendwo am Horizont mit dem Nachthimmel verschmolz.
Von dem fehlenden Ruderboot und von den vier Entflohenen war nichts zu sehen und zu hören.
Natürlich nicht.
Auch wenn die Flucht von einem Matrosen der Bordwache sofort entdeckt worden war, hatte es seine Zeit gedauert, bis der Kapitän benachrichtigt wurde und dieser wiederum sein Schiff beidrehen ließ. Dadurch lag ungefähr eine Seemeile zwischen der ALBANY und dem Ruderboot.
»Hat das denn Sinn?« fragte Irene zweifelnd. »Können wir Mrs. Marquand und die anderen in der Dunkelheit wiederfinden?«
»Wir müssen!« polterte Hansen und sah zum Ruderhaus, wo Joe Weisman das Steuerrad übernommen hatte.
Neben ihm lag der leblose Körper Georg Möllers, den sie vom Steuer hatten schneiden müssen. So leblos wie der Matrose unten in der Kajüte. In beider Männer Kehlen klafften große blutige Wunden.
»Immerhin kennen wir die Fluchtroute«, fuhr der Kapitän fort. »Sie können nur zur Küste rudern. Alles andere wäre Wahnsinn, ohne Proviant und nautische Kenntnisse.«
Jacob seufzte schwer und meinte: »Die kalifornische Küste ist ein recht langes Gebilde, habe ich mir sagen lassen. Ich sehe die Strolche nur ungern entkommen, aber besteht wirklich eine Aussicht, daß wir sie wiederfinden?«
»Vielleicht nicht jetzt in der Nacht.« Hansen blickte prüfend in den Himmel. »Aber bald wird der Morgen grauen. Wenn wir mit der ALBANY vor diesem Küstenabschnitt kreuzen, müßten wir auf das Boot stoßen.«
»Vielleicht«, erwiderte Jacob wenig begeistert. »Und wenn die amerikanischen Kriegsschiffe hier auftauchen, stoßen sie auf die ALBANY. Wenn wir Pech haben, eröffnen sie das Feuer, ohne sich erst nach unserem Gesinnungswandel zu erkundigen.«
Hansen stieß einen Fluch aus, der Irene trotz ihrer Vertrautheit mit dem Seemann erröten ließ.
»Jacob, du hast recht. Wir könnten uns damit ins eigene Fleisch schneiden, und das verdammt tief.«
Der Kapitän seufzte schwer und sagte dann: »Bloß die Alternative gefällt mir nicht. Ich hatte mich schon darauf gefreut, diese Lumpen in Frisco den Behörden zu übergeben. Nach diesem Doppelmord würde ich mich sogar freuen, sie am Galgen baumeln zu sehen. Es ist ein sehr gefährliches Pack!«
»Gerade deshalb sollten wir froh sein, daß wir sie los sind«, meinte Irene.
Hansen überlegte und nickte dann.
»Aye, das ist wohl so. Gut, wir segeln auf dem alten Kurs weiter und überlassen Schelp und die anderen ihrem hoffentlich nicht zu gnädigen Schicksal.«
Er trat von der Reling weg, um die nötigen Befehle übers Deck zu brüllen.
Während die Bark wieder auf Nordkurs ging, blieben die beiden jungen Auswanderer noch eine ganze Weile an der Reling stehen und starrten hinaus aufs Meer.
Beide dachten an Vivian Marquand und das, was aus der Frau geworden war.
Beide fühlten sich erleichtert, daß sie nicht länger an Bord war.
Und beiden war unwohl bei dem Gedanken, daß sich die Frau in Schwarz wieder auf freiem Fuß befand.
*
Die beeindruckende Bucht von San Francisco tauchte erst am Nachmittag des dritten Tages nach der nächtlichen Flucht vor dem schlanken Bug der ALBANY auf.
Der Sturmwind hatte sich mit unerwarteter Schnelligkeit gelegt, fast herrschte eine Flaute. Die Segel hingen mit trauriger Schlaffheit an den Rahen. Deshalb kam die Bark viel langsamer voran, als Piet Hansen angenommen hatte.
»Nur gut, daß wir die Kriegsschiffe abgeschüttelt haben«, brummte der Kapitän irgendwann. »Bei diesem Wind, den man kaum so nennen kann, wären sie uns mit ihrem Dampfantrieb hoffnungslos überlegen.«
Als der Dreimaster durch die enge Einfahrt der Bucht glitt, standen fast alle Passagiere an der Reling, um erwartungsvoll dem Ziel ihrer unerwartet dramatisch verlaufenen Seereise entgegenzublicken.