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Jacob sah der berühmten Stadt an der Pazifikküste mit sehr gemischten Gefühlen entgegen.
Zum einen bedrückte ihn der Gedanke, daß er und Irene mit dem Betreten kalifornischen Bodens ihre Aufgabe noch keineswegs erfüllt hatten. Das Land am Pazifik war riesig und Carl Dilger nur einer von vielen tausend Glücksrittern.
Zum anderen betrübte ihn das, was Piet Hansen hier erwartete. Der Seebär würde aufgrund seines zwielichtigen Geschäftsverhältnisses mit Arnold Schelp keinen leichten Stand bei den Behörden haben.
Das erste, was den Menschen an Bord der ALBANY auffiel, war der Wald von Masten und Schornsteinen vor der Küste. Hätten Jacob und Irene einen ähnlichen Anblick nicht schon von New York gekannt, hätte es ihnen die Sprache verschlagen. Doch im Hafen von San Francisco schienen fast noch mehr Schiffe zu ankern als vor der Stadt an der Ostküste.
Jacob sprach den Kapitän darauf an und meinte: »Wenn man sich die Anzahl der Schiffe ansieht, bekommt man einen Eindruck, wie viele Menschen hier an Land gehen, um nach Gold zu suchen.«
Nur in Gedanken setzte er hinzu: Und wie schwierig es sein wird, Carl Dilgers Spur aufzunehmen. Er sprach es nicht aus, um Irene nicht unnötig zu beunruhigen.
»Ja, es ist schon eine Menge«, nickte Hansen. »Aber einige sind auch Wracks. Ihr werdet es sehen, wenn wir uns dem Hafen nähern. Schiffe, deren Mannschaften einfach desertiert sind, weil der Goldstaub ihnen lohnender erschien als die Heuer.«
»Dann müssen Sie auf Ihre Leute aufpassen, Käpten«, lächelte Irene.
»Das werde ich. Trotzdem sehe ich einige der Männer bestimmt zum letzten Mal, wenn sie an Land gehen. Jeder Kapitän, der Frisco anläuft, muß damit rechnen.«
Die auf mehreren Hügeln erbaute Stadt wuchs und füllte bald den vorderen Horizont aus. Ein Meer von Häusern in den Ebenen, auf den Kuppen von Hügeln oder auch an die Hänge gelehnt, soweit das Auge reichte.
Im Gegensatz zu New York waren die Häuser hier viel niedriger. Und während in New York die Gebäude aus Stein waren, gab es hier jede Menge Holzhäuser, gerade unter den großen Gebäuden.
Als Jacob das laut bemerkte, erklärte der Kapitän: »Die Leute in Frisco fürchten die Erdbeben mehr als das Feuer. Beides sind die ständigen Plagen dieser Stadt. Die Holzgebäude halten den Erdschwankungen besser stand als solche aus Stein. Lieber flüchten die Menschen vor den Flammen und bauen die Häuser neu auf, als daß sie sich während eines Erdbebens von den zusammenstürzenden Steinen begraben lassen.«
Später, an Land, stellte Jacob fest, daß Hansen nicht übertrieben hatte. Der Auswanderer sah ganze Straßenzüge mit rauch- und rußgeschwärzten Hauswänden - Gebäude, die einer Feuersbrunst nur knapp entgangen waren.
Der Kapitän beugte sich zu Joe Weisman hinüber, der das Steuer hielt. Er gab dem gedrungenen Deutsch-Amerikaner ein paar Anweisungen, wie er die ALBANY zwischen den Untiefen und den immer zahlreicher werdenden anderen Schiffen hindurch zu manövrieren hatte.
»Sie kennen sich hier gut aus, Piet«, staunte Irene.
»Ich war öfter in Frisco, schon damals, als das hier ein armseliges Dorf mit nur einigen hundert Seelen war; heute sind es zigtausend. Das war vor dem großen Goldrausch von Neunundvierzig. Viele nannten den Ort noch bei seinem spanischen Namen Yerba Buena.«
»Was heißt das?« fragte die junge Frau.
»Gutes Kraut. Die Spanier, die das Land von Mexiko aus besiedelten, tauften dieses Tal hier wegen seiner Fruchtbarkeit El Paraje de Yerba Buena - das kleine Tal der guten Kräuter. San Francisco war ursprünglich nur der Name der Missionsstation.«
Ein kleiner Seitenraddampfer schaufelte sich durch die brackigen Fluten auf die ALBANY zu. Bei seinem Anblick verdüsterte sich das Gesicht des Kapitäns.
»Das Boot der Hafenbehörde«, sagte er. »Die Zoll- und Quarantänebeamten. Und falls sich schon herumgesprochen hat, wer wir sind, vielleicht auch Militär.«
»Damit haben wir doch gerechnet«, erwiderte Jacob. »Schließlich wollten Sie sich hier den Behörden stellen.«
»Ja. Aber ich wäre froh gewesen, wenn ich euch und die anderen Passagiere erst an Land hätte setzen können. Wenn ihr Pech habt, werdet ihr alle unter Arrest gestellt, bis die Sache geklärt ist. Und das kann dauern bis.«
Er brach ab und starrte mit offenem Mund voraus.
Dort drehte der kleine Dampfer gerade so rasant nach Steuerbord ab, daß sich das Boot auf die rechte Seite legte. Das linke Schaufelrad ragte weit in die Luft. Fast sah es so aus, als würde die Barkasse kentern. Aber dann lag sie wieder sicher im Wasser und rauschte unter ihrer schwarzgrauen Rauchfahne davon.
»Was ist denn jetzt los?« fragte Irene erstaunt. »Die Behörden scheinen nichts von uns wissen zu wollen!«
Das Ziel der Barkasse war ein anderes Schiff, das kurz hinter der ALBANY in die Bucht gefahren war. Es war auch ein Seitenraddampfer, aber ungleich größer und wuchtiger als das Boot der Hafenbehörde. Und nicht nur die kleine Dampfbarkasse hielt auf den mächtigen Dampfer zu. Von überall näherten sich ihm kleine Boote, von Dampf angetrieben, durch Segel und Wind oder durch Ruder und Muskelkraft.
Piet Hansens eben noch nachdenklich wirkendes Gesicht hellte sich auf, als er laut ausrief: »Ich habe gar nicht dran gedacht, heute ist der erste März!«
»Na und?« meinte Jacob verständnislos. »Was spielt das heutige Datum für eine Rolle?«
»Eine ganz entscheidende!« nickte der Kapitän bekräftigend. »Vielleicht kann ich euch und die anderen Passagiere doch an Land setzen, bevor die Behörden auf die ALBANY aufmerksam werden. Auch Beamte und Soldaten warten nämlich sehnsüchtig auf die neuesten Nachrichten und die Post von ihren Liebsten.«
Hansens Rechte wies zu dem umlagerten großen Seitenraddampfer, dessen in dicken Lettern auf den Bug gepinselter Name jetzt deutlich erkennbar war: PACIFIC PRINCESS - die Pazifik-Prinzessin.
»Heute ist Steamer-Day, ganz wie in den alten Zeiten«, fuhr der Seebär fort. »An jedem ersten und fünfzehnten eines Monats kommt, pünktlich wie die Maurer, das Postschiff an, das von der Ostküste aus ums Kap Horn gefahren ist. Es bringt Vorräte, neue Glücksritter und vor allem Neuigkeiten aus dem Osten, für die mancher hier gern goldene Nuggets gibt.«
Das Bild, das sich Jacob und Irene bot, unterstrich die Worte des Kapitäns. So viele kleine Boote umschwärmten die PACIFIC PRINCESS, daß der große Dampfer kaum bis zu dem breiten Kai durchkam, auf dem sich bereits Menschenmassen in freudiger Erwartung zusammendrängten. Männer und Frauen schoben und schubsten einander, und einige platschten ins brackige Hafenwasser.
Der ALBANY gelang es tatsächlich, unbehelligt vor Anker zu gehen. Eilig ließ Hansen breite Planken ausfahren, damit die Passagiere den Segler verlassen konnten.
Jacob schloß sich ihnen mit gemischten Gefühlen an. Er dachte an den Kapitän und fühlte eine Verpflichtung, an Bord zu bleiben und ihm beizustehen.
Doch er hatte auch eine Pflicht gegenüber Irene und Jamie übernommen. Hansen konnte sich eher selbst helfen als die Frau und das Kind. Gewiß, sie konnten alle an Bord der ALBANY bleiben. Aber dann war es zweifelhaft, ob die Behörden die deutschen Auswanderer so einfach gehen ließen.
Also tauchten auch der Zimmermann, das ehemalige Dienstmädchen und ihr kleines Kind in das ameisenhafte Gewimmel im Hafen von San Francisco ein, und die drei Masten der ALBANY waren bald nur noch einige von unzähligen.
Wie in einem richtigen Ameisenhaufen war das Durcheinander auch in der großen Goldgräberstadt nur ein scheinbares. Jacob stellte schnell fest, daß jedermann ein bestimmtes Ziel verfolgte. Bei vielen war es der anlegende Postdampfer, bei anderen Geschäfte, Bars, Saloons oder Lagerhäuser.
So vielfältig wie die Wege der Menschen war auch ihre äußere Erscheinung.
Einer Menge von Männern sah man den Goldsucher schon aus der Ferne an. Ihre Kleidung war abgetragen, schmutzig, teilweise zerrissen, und sie schienen sich auch noch etwas darauf einzubilden, wie die Art verriet, in der sie ihre oft vollbärtigen Gesichter in die Höhe reckten. Manche hielten junge Mädchen und reifere Frauen im Arm, deren Zuneigung sich wohl nach der Schwere des jeweiligen Nuggetbeutels bemaß.
Dann gab es viele herausgeputzte Geschäftsleute im Gehrock, an deren Armen sich ebenso herausgeputzte Damen und Dämchen häufig vergeblich bemühten, in der brodelnden Menge so etwas wie würdevolle Distanz zu bewahren. Einige der teuer gekleideten Ladies mußten komische Verrenkungen anstellen, damit ihre verzierten kleinen Sonnenschirme nicht aus ihren behandschuhten Händen gerissen wurden.
Daneben konnte man alle nur vorstellbaren Arten von Gesichtern und Kleidungsstücken auf den Kais und in den Straßen sehen. Freigelassene Neger mit wulstigen Lippen und krausen Haaren. Langzöpfige Chinesen mit breitrandigen, oben spitz zulaufenden Hüten oder kleinen Kappen. Mexikaner oder kalifornische Nachfahren der Spanier in teilweise operettenhaft wirkender Kleidung.
Und dazwischen immer wieder die blauen Uniformen der Nordstaaten-Armee. Sie erinnerten Jacob daran, daß diese vom Goldfieber aufgeregte Stadt in einem Land lag, das vom Bürgerkrieg zerrissen war. Und daran, daß Piet Hansen sich zwischen die Fronten gewagt hatte.
Die Beschaffenheit der Straßen stand im krassen Mißverhältnis zur Stärke ihrer Beanspruchung. Eine Befestigung gab es, wenn man Glück hatte, nur an den Rändern vor den Häusern. Ansonsten bestanden die sogenannten Straßen, abhängig von Niederschlag und Abwässern, aus Schlamm oder Staub, angereichert mit jeder Art von Abfällen. Wenn man nicht aufpaßte, konnte man bis zu den Hüften im Unrat versinken.
Jacob und Irene waren froh, als sie einen mit Brettern ausgelegten Fußweg entdeckten, der nicht so stark in Anspruch genommen wurde, wie man es bei der Menge der Menschen, die hier unterwegs war, vermutet hätte. Am Ende des Bretterwegs entdeckten die beiden Deutschen den Grund für diese Zurückhaltung. Vier grobe, ungewaschene Burschen versperrten den Weg.
Einer trat einen Schritt vor und sagte, grinsend seine schlechten Zähne präsentierend: »Das macht dann sechzig Cent, die Herrschaften.«
Seine schwielige Rechte formte sich zur Klaue, die sich Jacob entgegenreckte.
»Sechzig Cent?« wiederholte der Zimmermann. »Wofür?«
»Für die Benutzung des Bretterwegs. Das ist nämlich ein kostenpflichtiger Privatweg.«
»Das haben wir nicht gewußt.«