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»Das Schild am anderen Ende muß wohl abgefallen sein. Kostet trotzdem sechzig Cent. Fünfundzwanzig für jeden Erwachsenen, zehn für das Kind.«
»Das ist doch noch ein Baby!« protestierte Jacob. »Es kann gar nicht gehen, hat nicht einen Fuß auf eure Bretter gesetzt.«
»Sonst wären es auch fünfzehn Cent«, griente der Mann, und seine Miene verdüsterte sich. »Wollt ihr etwa nicht bezahlen?«
Wie beiläufig schlug er die Jacke zur Seite. Jacobs Blick fiel auf den Kolben eines Revolvers und den großen Griff eines Messers; beides steckte im Hosenbund des Mannes. Seine drei Gefährten waren ähnlich bewaffnet.
Mit einem widerwilligen Grunzen zog Jacob ein paar Münzen aus der Jackentasche. Die Straßenräubermethoden ärgerten ihn. Aber wenn er sich auf einen Streit einließ, brachte er Irene und Jamie in Gefahr.
Mit einem falschen Lächeln ließ der Geldeintreiber Jacobs Münzen in der Jackentasche verschwinden und gab den Weg frei.
Bei ihrer Suche nach einer Unterkunft stellten Jacob und Irene bald fest, daß die Sache mit dem Bretterweg keine Ausnahme gewesen war. San Francisco war teuer, sündhaft teuer. Wer in der Stadt lebte, wollte auch am Goldrausch teilhaben. Deshalb kostete hier manches Geld, was anderswo kostenlos war. Und was anderswo auch Geld kostete, war hier um ein Vielfaches teurer.
Tageweise war eine Unterkunft erst gar nicht zu bekommen. Eine Woche im voraus war das mindeste, was Vermieter und Hoteliers verlangten.
Ein Hotelzimmer unter dreißig Dollar pro Person gab es nicht. So viel Geld wollten die Auswanderer nicht bezahlen. Es hätte ihre Reserven zu schnell erschöpft.
Schließlich nahmen sie zwei Schlafpritschen in einer der vielen Massenunterkünfte, acht Dollar pro Person und Woche. Es gab woanders schon Pritschen für sechs Dollar, aber dann in verlausten Ställen, die notdürftig zu Schlafsälen umgebaut worden waren. Jacob und Irene bevorzugten ein einigermaßen sauberes Boarding-House, das sogar über getrennte Schlafsäle für Männer und Frauen verfügte.
Da Jamie sehr unruhig war, blieb Irene mit ihm im Quartier zurück. Jacob machte sich auf den Weg, um eine Spur von Carl Dilger zu finden.
Wenn er auch noch nicht die geringste Ahnung hatte, wie er das anstellen sollte.
*
Wahrscheinlich auf einigen Umwegen, weil er die Geographie San Franciscos noch nicht gut genug kannte, steuerte Jacob das Stadtzentrum an. Am Portsmouth Square sollte es sich befinden. Das hatte er sich von der Inhaberin des Boarding-House sagen und sich den ungefähren Weg beschreiben lassen.
»Gehen Sie einfach dahin, wo Sie neben dem Hafen am meisten Menschen und Getöse finden«, hatte die dürre Frau ihm noch nachgerufen.
Als er durch eine lange, gewundene Straße ging, fand er eine Menge Menschen und Getöse. Die Menschen, die das Getöse veranstalteten, versperrten die Straße auf ihrer ganzen Breite. Was die Ursache ihres Geschreis war, blieb dem Deutschen verborgen. Er sah nur die Rückansichten der von ihm weg nach vorn gebeugten Menschen. Sie schienen auf etwas zu starren, was auf der Straße stand oder lag.
Neugierig bahnte er sich einen Weg durch die Menge. Je größer der Widerstand war, desto mehr strengte er sich an. Er fühlte sich fast, als müsse er schwimmen. Dann endlich sah er, worauf die gebannten Augen der Menschen gerichtet waren: auf Frösche!
Ganz normale grünbraune Frösche. Nein, nicht ganz normal - ihre Rücken waren mit farbigen Symbolen markiert: ein blaues Kreuz, ein gelber Kreis oder ein roter Doppelstrich.
Ein ziegenbärtiger Mann, der einen zerschlissenen Gehrock und einen zerbeulten Zylinder trug, schlug mit einem dünnen Stock gegen das fette Hinterteil eines Frosches. Das Tier sollte das tun, was alle anderen Frösche bereits vollbracht hatten: springen.
»Nun mach schon, Charly!« spornte der Ziegenbärtige seinen unwilligen Frosch an. »Zeig den Herrschaften, daß du der beste Springfrosch von ganz Frisco bist. Und zeig es vor allem mir, denn ich habe fünfzig Dollar auf dich gewettet!«
Die Erwähnung des Geldes schien den Frosch aus seiner Lethargie zu reißen. Das mit einem schwarzen Dreieck gekennzeichnete Tier erhob sich in die Luft, aber nur ein kleines Stück. Keinen Yard von seiner Ausgangsstellung entfernt plumpste er träge wieder in den Staub der Straße und traf keine Anstalten, sich auch nur einen Zoll weiterzubewegen.
»Das war's dann wohl mit dem guten Charly!« prustete einer der Männer. »Der beste Springfrosch von Frisco hat heute wohl seinen schlechten Tag. Oder er hat gedacht, derjenige Frosch ist der beste Springfrosch, der am kürzesten springt!«
Der Sprecher schlug sich lachend auf die Schenkel und steckte die Menge mit seiner Heiterkeit an.
Der Ziegenbärtige allerdings zog ein griesgrämiges Gesicht, als er den >besten Springfrosch von Frisco< aufnahm und in einer Tasche seines Gehrocks verschwinden ließ. Noch griesgrämiger wurden seine Züge, als der Besitzer des Siegerfrosches zu ihm kam, um die fünfzig Dollar einzusammeln.
Insgesamt hatten sechs stolze Froschbesitzer ihre Tiere an den Start geschickt. Also hatte der Besitzer des Siegers gerade eben mit einem einzigen Froschsprung zweihundertfünfzig Dollar gewonnen. Kein schlechter Stundenlohn, fand Jacob.
Auch die Zuschauer hatten kräftig gewettet, und eine beträchtliche Anzahl Dollars wechselte nun die Besitzer, bevor sich die Menge allmählich zerstreute.
Einer der weggehenden Männer legte einen wahren Sturmschritt vor und hielt den Kopf gesenkt, so daß sein Gesicht fast ganz unter der vorspringenden Krempe eines rundkronigen Hutes verschwand. Außerdem bewirkte diese Kopfhaltung wohl, daß er kaum etwas sah. Oder es war ihm egal, daß er mit Jacob zusammenstieß. Der Aufprall war so heftig, daß beide Männer ein Umfallen nur dadurch vermeiden konnten, daß sich jeder am anderen festhielt. Der Mann hob, zu spät, seinen Kopf und zischte: »Verdammt, Fremder, passen Sie gefälligst auf, wo Sie hintreten, wenn Sie länger als einen Tag lebend in Frisco verbringen wollen!«
Unter buschigen Brauen blitzten blaugraue Augen feindselig gegen Jacob.
Obwohl der schlanke Mann um die Dreißig mit dem lockigen rotbraunen Haar und dem buschigen Schnurrbart gut einen Kopf kleiner was als der Deutsche, schien er sich vor Jacob nicht zu fürchten.
Der Zimmermann machte sich von dem Schnurrbärtigen los und sagte ernst:
»Bei allem Respekt, Sir, aber nicht ich bin irgendwohin getreten, ohne aufzupassen, sondern Sie. Und außerdem.«
»Ja?« knurrte der andere gefährlich.
»Außerdem können Sie unmöglich wissen, daß ich erst heute in San Francisco angekommen bin.«
»Natürlich weiß ich das«, blieb der Schnurrbärtige störrisch. »Sie haben es mir doch gerade eben gesagt!«
»Wie?« schnappte Jacob.
Dann verstand er und schüttelte grinsend den Kopf.
»Also gut, Sir, aber vorher konnten Sie es nicht wissen.«
»Nein, ich habe geraten. Jemand, der sich einem Mann in den Weg stellt, der gerade seinen letzten Cent bei der Wette auf den falschen Frosch verloren hat, muß entweder neu in Frisco sein oder lebensmüde. Revolver und Messer sitzen hier nämlich noch lockerer als auf den Gold- und Silberfeldern von Nevada.«
»Sehr scharfsinnig«, nickte Jacob. »Und wieso sind Sie nicht davon ausgegangen, daß ich lebensmüde bin?«
»Weil heute Steamer-Day ist. Am Steamer-Day hat man die seltene Gelegenheit, in Frisco mehr Neuankömmlinge als Lebensmüde zu treffen. Deshalb kam ich drauf, daß die PACIFIC PRINCESS Sie an Land gespuckt hat, Dutch. Bevor Sie fragen - daß Sie ein Deutscher sind, verrät Ihr scharfer Dialekt.«
»Wieder richtig geschlußfolgert, Mister. Nur das mit der PACIFIC PRINCESS stimmt nicht. Ich bin zwar heute erst hier angekommen, aber auf einem anderen Schiff.«
»So?« Neugierig hoben sich die buschigen Brauen. »Auf welchem?«
»Auf.«
Jacob brach ab. Fast hätte er den Namen der ALBANY genannt, doch er wußte nicht, ob das gut war. Er wollte Piet Hansen, Irene und sich selbst keine unnötigen Schwierigkeiten bereiten. Deshalb setzte er erneut an und sagte: »Auf einem Segler.«
»Aha.« Der Mann strich mit dem Zeigefinger über den Schnurrbart und meinte dann: »Etwa ein Yankee-Schiff?«
»Ja«, antwortete Jacob und fragte mißtrauisch: »Warum wollen Sie das wissen?«
»Um zu erfahren, ob Sie vielleicht doch ein wenig lebensmüde sind. Bei Menschen, die in diesen Tagen mit dem Postdampfer oder einem anderen Yankee-Schiff Frisco anlaufen, ist das zu bejahen. Das Seeungeheuer knöpft sich nämlich ausschließlich solche Opfer vor.«
»Was für ein Seeungeheuer?« erkundigte sich Jacob kopfschüttelnd. Der Mann kam ihm leicht irre vor.
»Das wüßten die Menschen hier auch gern. Es hat schon eine ganze Reihe von Schiffen angegriffen und versenkt, darunter auch den letzten Postdampfer, der die Stadt vor zwei Wochen anlaufen sollte. Aber es kamen nur ein paar Rettungsboote mit den Überlebenden an. Sie beschreiben das Ungeheuer als einen Wal, allerdings einen, der den Schiffsrumpf mit einem riesigen Schwert durchbohrt und dann explodieren läßt.«