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»Mag sein, aber vielleicht...« Der Schnurrbärtige unterbrach seinen Satz, schüttelte diese Gedanken von sich ab und sagte: »Mich auf meine gute Kinderstube besinnend, entschuldige ich mich bei Ihnen für mein Fehlverhalten, Mister.«
»Jacob Adler.«
»Mark Twain«, stellte sich der andere vor. »Ich arbeite als Journalist für den Call. Leider läuft der Laden schlecht. Wenn es mal Neuigkeiten gibt, werden sie durch die Mundpropaganda schneller verbreitet, als wir unser Blatt drucken können. Dann wäre ich auch nicht so blank und könnte Sie zu einem Versöhnungstrunk einladen.«
Jacob ignorierte den Wink mit dem Großmast und sagte:
»Vielleicht können Sie mir auf andere Weise helfen, Mr. Twain.«
»Wie?«
»Ich suche einen Mann, einen Deutschen wie mich. Er heißt Carl Dilger und hält sich auf den kalifornischen Goldfeldern auf. Können Sie mir sagen, wie ich ihn am besten finde?«
»Wenn er sich tatsächlich in Kalifornien aufhält, gibt es nur eine sichere Methode, ihn zu finden.«
»Ja?« fragte Jacob gespannt.
»Sie müssen jeden Claim und jedes Digging in Kalifornien absuchen, Mr. Adler.«
Jacob runzelte die Stirn und blickte den Journalisten skeptisch an.
»Wie lange würde das dauern, Mr. Twain?«
»Kommt drauf an, wie schnell Sie fündig werden. Durchschnittlich hundert Jahre, würde ich sagen.«
»Sie haben Ihren Spaß gehabt, leben Sie wohl«, knurrte Jacob und wollte sich an dem Schnurrbärtigen vorbeischieben.
Aber der hielt ihn fest.
»Warten Sie doch, Adler. Ich wollte Sie nicht beleidigen, sondern Ihnen nur klarmachen, wie aussichtslos das Unternehmen ist, wenn Sie keine Anhaltspunkte haben.«
»Aber ich muß Dilger finden!«
»Was ist so wichtig an dem Mann?« Jacob erklärte es ihm.
»Dieser Dilger ist also nicht wichtig für Sie, sondern für die junge Dame in Ihrer Begleitung«, stellte Twain fest.
»Das kommt aufs selbe heraus«, brummte Jacob.
»Nicht für jeden, aber für Sie, und das ehrt Sie, Adler. Vielleicht kann ich Ihnen tatsächlich helfen. Ich schätze, wir befinden uns an dem einzigen Ort, wo eine reelle Chance besteht, Dilger aufzuspüren.«
»Ausgerechnet hier?« zweifelte Jacob und dachte an die Menschenmassen, die sich durch die Straßen von San Francisco wälzten.
»Gerade weil hier so viele Menschen sind!« entgegnete Twain. »Viele Goldgräber kommen nach Frisco. Sie wollen einkaufen, angeben, sich amüsieren, angeben, Neuigkeiten erfahren und natürlich angeben.«
»Und Sie meinen, Dilger ist darunter?«
»Nicht unbedingt. Aber mit ziemlicher Sicherheit jemand, der ihn kennt oder von ihm gehört hat.«
»Das sehe ich ein. Aber wie soll ich diesen unbekannten Jemand aufspüren?«
Twains breites Grinsen verwandelte den an den Mundwinkeln nach unten gebogenen Schnurrbart zu einem geraden Strich.
»Durch die Segnungen der modernen Presse, Mr. Adler. Vielmehr durch die Druckmaschinen des Call. Selbstverständlich drucken wir nicht nur unsere Zeitung, sondern auch jede andere Schrift, für die wir bezahlt werden und die unserer politischen und gesellschaftlichen Meinung entspricht.«
»Und was ist Ihre politische und gesellschaftliche Meinung, Mr. Twain?«
»Als Privatmann behalte ich sie für mich, da ich mich weder zu den Neuankömmlingen noch zu den Lebensmüden zähle. Als Vertreter des Call ist meine Meinung, daß wir alles drucken, wofür wir bezahlt werden. Kommen Sie!«
Er zog Jacob mit sich durch ein Gewirr von Gassen und Gäßchen, bis sie vor dem wenig beeindruckenden Gebäude standen, in dem die Redaktion und Druckerei des Call untergebracht waren.
Gerade schloß ein großer, gut gekleideter Mann die Eingangstür von außen ab. Sein rundliches, von Schnurr- und Backenbart verziertes Gesicht hellte sich auf, als er Jacobs Begleiter sah.
»Wo hast du nur gesteckt, Sam? Ich wollte dich zum Essen einladen.«
»Aufgeschoben ist nicht aufgehoben«, meinte Twain.
»Tut mir leid«, schüttelte der Mann, der einen vornehmen Dreiteiler und Lackschuhe trug, seinen von einem schmalkrempigen Strohhut bedeckten Kopf. »Ich muß zurück zur Arbeit.«
»Dann vielleicht heute abend, Bret.«
»Ja«, winkte der Dandy. »Bis dann, Sam.«
»Das war mein Redakteur und Freund, Mr. Bret Harte«, erklärte Twain, während er einen rostigen Schlüsselbund aus der Tasche zog und die Tür öffnete.
»Seltsam«, murmelte Jacob, während er zusah, wie Harte mit staksigen Schritten um eine Ecke bog, immer bemüht, seine glänzenden Schuhe dem Straßenschmutz nicht zu sehr auszusetzen.
»Was finden Sie seltsam, Adler.«
»Daß Ihr Freund sagt, er geht zur Arbeit. Liegt sein Redakteursbüro nicht hier im Gebäude?«
»Das schon. Aber nicht sein anderes Büro. Bret hat eine leitende Stellung als Beamter in der örtlichen Zweigstelle der Münze der Vereinigten Staaten. Kein schlechter Job in diesen Tagen. Die klügeren unter den Goldgräbern bringen ihre Nuggets gleich zur Münze, ehe sie sich woanders übers Ohr hauen lassen. Manchmal beneide ich Bret.« Twain seufzte tief und strich über seinen schlanken Oberkörper. »Als Beamter muß er sich keine Sorgen machen, wie er sein Mittagessen bezahlt.«
»Noch etwas, Mr. Twain.«
»Ja?«
»Dieser Mr. Harte nannte Sie Sam«, sagte Jacob.
Der Journalist nickte.
»Stimmt, so heiße ich.«
»Aber mir stellten Sie sich als Mark Twain vor.«
»Verfluchter Kriegsname«, lachte der Journalist und kratzte sich verlegen im Nacken. »Ich wußte doch, daß ich eines Tages damit durcheinanderkommen würde. Als meine Mutter im Jahre Fünfunddreißig das schwere Schicksal auf sich nahm, mich auf diese törichte Welt zu bringen, nannten sie und mein Vater mich Samuel, Samuel Langhorne Clemens, um genau zu sein. Ein bißchen lang für einen Journalisten, finden Sie nicht? Ist länger als manche Kurzmeldung.«