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»Ist sogar so. Deshalb unterzeichne ich meine Werke als Mark Twain. Und manchmal vergesse ich schon, wie ich wirklich heiße.«
»Wie kommt man auf solch einen Namen?« fragte Jacob, während sie die dunklen, staubigen, von Spinnweben verzierten Geschäftsräume des Call betraten.
»Eine Erinnerung an meine Zeit als Mississippi-Lotse. Mark Twain ist die Bezeichnung eines Handloters für zwei Faden Wassertiefe. Ob meine Artikel tiefsinniger sind, mag jeder Leser selbst entscheiden. Kennen Sie den Mississippi, Adler?«
»O ja, nur zu gut«, antwortete Jacob und dachte an sein lebensgefährliches Abenteuer auf dem großen Mississippi-Steamer QUEEN OF NEW ORLEANS.
Twain (Jacob beschloß, ihn weiterhin so zu nennen, wie er sich ihm vorstellt hatte) setzte sich hinter einen wurmstichigen Schreibtisch, nahm einen durch häufiges Anspitzen arg geschrumpften Bleistift und einen vergilbten Block zur Hand und kritzelte eilig etwas nieder. Zwischendurch fragte er Jacob nach der Adresse seines Quartiers.
Dann las der Journalist vor: »Dringend gesucht wird Mr. Carl Dilger aus Hamburg (Deutschland). Wer ihn kennt oder etwas über ihn weiß, melde sich umgehend bei Mr. Jacob Adler in Victoria Marshs Boarding-House an der Dean Street. Bestmögliche Belohnung zugesichert!«
Twain blickte auf und fragte: »Was sagen Sie zu dem Text, Adler?«
»Klingt ganz gut, bis auf den Satz mit der Belohnung. Ich habe nämlich nicht viel Geld.«
»Habe ich das behauptet?«
»Aber Sie haben etwas von einer bestmöglichen Belohnung geschrieben!«
»Genau«, nickte Twain und verbarg ein Grinsen im Schatten des buschigen Schnurrbarts. »Sie werden jeden Informanten nach dem besten Willen und Ihren Möglichkeiten belohnen. So habe ich es auch abgefaßt.«
»Aber es klingt anders!«
»Yeah, ich denke auch manchmal, ich sollte Politiker werden.«
Twain stand von seinem Schreibtisch auf und begab sich in den Nebenraum, die Werkstatt des Setzers. Ohne Umschweife machte er sich daran, die benötigten Typen aus dem Setzkasten zu fischen und in die Winkelhaken einzureihen.
»Sie machen alles selbst?« staunte Jacob.
»Niemand hier, wie Sie sehen. Den Setzer mußten wir letzte Woche aus Geldnot entlassen. Ich mache den Job mit, habe ihn schließlich gelernt. Allerdings bekomme ich dafür keinen Cent mehr. Apropos, wie hoch soll die Auflage des Plakats sein?«
»Was kostet es denn?«
»Hm, sagen wir, tausend Stück für hundert Dollar?«
»Das ist viel Geld. Was kosten denn fünfhundert Plakate?«
»Hundert Dollar. Kleinere Auflage, höhere Unkosten.«
»Und zweihundert Plakate?«
»Fünfzig Dollar.«
»Noch kleinere Auflage, noch höhere Unkosten?« fragte Jacob.
»Right. Außerdem muß mein knurrender Magen befriedigt werden.«
»Also gut«, seufzte Jacob. »Zweihundert Stück!«
Keine Stunde später hielt der junge Deutsche die noch feuchten Plakate in der Hand und drückte fünf Zehn-DollarScheine in Mark Twains Hand.
»Eigentlich sehen wir hier in Frisco lieber Golddollars«, meinte der Journalist. »Aber ich will mal nicht so sein. Ist ja kein Rebellen-Geld. Nicht, daß ich geldversessen wäre, aber dieser verfluchte Springfrosch namens Charly hat durch seine Faulheit ein hübsches Loch in meine Haushaltskasse gerissen.«
»Holen Sie sich das Geld doch mit Springfröschen wieder rein«, schlug Jacob vor.
»Sie meinen, ich soll mich der Mühe unterziehen, solche blöden Tiere zu dressieren?« fragte Twain ungläubig.
»Nein, ich meine, Sie sollten darüber schreiben. Einen Artikel oder eine lustige Geschichte vielleicht.«
»Yeah!« Twains Zeigefinger massierte den Schnurrbart und färbte ihn dabei unbeabsichtigt mit Druckerschwärze ein. »Vielleicht werde ich das tun. Bret plant, einen Band mit Erzählungen zu veröffentlichen. Er hat mich gefragt, ob ich nicht etwas beisteuern will. Warum nicht eine lustige Geschichte?«
»Ja«, meinte Jacob zögernd, da er von diesen Dingen wenig verstand. »Warum nicht.«
Er verabschiedete sich, verließ das Gebäude des Call und steuerte einen von Twain empfohlenen Eisenwarenladen an, um achthundert Nägel zu kaufen, was ihn weitere achtzig Dollar kostete.
San Francisco war wirklich ein teures Pflaster, falls man diesen Ausdruck bei dem bedenklich schlechten Zustand der Straßen überhaupt verwenden konnte.
In der Hoffnung, daß sich die Ausgabe bezahlt machte, verbrachte er den Rest des Tages damit, die Plakate an Orten anzubringen, die Twain ihm als vielbesucht beschrieben hatte: Zeitungsredaktionen, Saloons, Hotels und das kleine Gebäude der Staatlichen Münze, hinter dessen dunklen Mauern Bret Harte, der Redakteur des Call, seinem Brotberuf nachging.
Das letzte Plakat brachte Jacob neben der Eingangstür von Victoria Marshs Boarding-House an. Als er den letzten Nagel mit dem Griff seines Bowiemessers eingeschlagen hatte, ging er zu Irene, um ihr von seiner Unternehmung zu berichten.
*
Portsmouth Square, an der Clay-Street-Seite, am Abend dieses Tages.
Das Golden Crown - die goldene Krone - kannte jeder, der sich länger als einen Tag in San Francisco aufhielt. So sagte man. Und jeder, der länger als zwei Tage hier war, kannte Henry Black, den Inhaber des großen Vergnügungspalastes, der von einer riesigen Bar mit allen möglichen und unmöglichen alkoholischen Getränken über eine Spielhalle und einen Tanzsaal über so ziemlich alle Ablenkungen verfügte, die sich ein Goldsucher nach Monaten harter Arbeit draußen auf den Diggings nur wünschen konnte. Sogar ein Theater gehörte zu dem wuchtigen hölzernen Rundbau, dessen oberstes Stockwerk tatsächlich aussah wie eine Krone und zudem mit goldschimmernder Farbe angestrichen war.
Henry Black war eine genauso beeindruckende Erscheinung wie seine Goldgrube. Groß, breit, wuchtig, mit Händen wie Schaufelblätter. Das backenbärtige Gesicht war stets gerötet und warnte vor den cholerischen Ausbrüchen, die seine Mitarbeiter erzittern ließen. Das derbe Erscheinungsbild seines Körpers wollte nicht so recht zu dem piekfeinen taubenblauen Dreiteiler, der goldenen Uhrkette und den dicken, diamantverzierten Ringen an seinen klobigen Wurstfingern passen.
Man munkelte, daß Henry Black seinen Reichtum durch finstere Geschäfte erworben hatte. Aber niemand sprach laut darüber. Hätte er es gewagt, hätte Henry Black ihm vielleicht sogar gesagt, daß er einst ein Hufschmied namens Heinrich Schwarz gewesen war, der aus dem fernen Deutschland nach Amerika kam, um endlich sein Glück zu machen. Vielleicht hätte Henry Black dem Betreffenden sogar die Umstände erzählt, unter denen er zu Wohlstand und seinem neuen Namen gekommen war. Aber danach hätte er den Neugierigen umgebracht!
Henry Black schwitzte, als er die Treppe zum obersten Stockwerk hinaufstieg. Hätte er jemandem erzählt, daß er vor Angst schwitzte, hätte jeder das für einen Scherz gehalten und laut gelacht.
Aber die Angst überfiel den wuchtigen Mann jeden Abend, wenn er die >Krone< aufsuchte, wie er das Reich des Hais für sich nannte. Dort oben regierte der wahre Besitzer des Golden Crown.
Der Mann, der Henry Black in der Hand hatte wie so viele andere Männer und Frauen in San Francisco. Der sich rasch zum heimlichen König der Stadt aufgeschwungen hatte, obwohl er erst ein paar Monate hier war. Dessen Namen niemand kannte.
Alle nannten ihn nur den Hai.
Den Hai von Frisco!
Vor der massiven Eichenholztür blieb Black stehen, holte noch einmal tief Luft und wollte dann die mächtige Faust gegen die Füllung schlagen.
Aber bevor er noch klopfen konnte, rief eine Stimme: »Kommen Sie rein, Henry!«
Der Hai!