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Der obere Lauf seines Remington spuckte, begleitet von einem Feuerstrahl, sein Geschoß aus. Ein kleine Rauchwolke stieg über den rothaarigen Kopf und ging langsam im Nebel auf.
Ein vollbärtiger, untersetzter Mann schrie auf und knickte ein. Mit einem dumpfen Laut schlug er auf die Planken. Schelps Kugel hatte eine böse Wunde in seinen Oberschenkel gerissen.
Eine verhärmte Frau löste sich aus der Gruppe, ging neben ihrem Mann in die Knie und schluchzte laut seinen Namen: »Andrew!«
Was Schelps Worte nicht geschafft hatten, bewirkte der Schuß: Die Passagiere blieben wenige Schritte vor der Brücke stehen.
»Gut so, Leute, seid vernünftig!« sagte Schelp laut. »Wenn ihr gehorcht, wird euch nichts geschehen. Aber wenn nicht.« Schelp grinste gemein. »Nun, seht euch Andrew an!«
Erst schwiegen die etwa hundert Menschen.
Dann hob ein leises Gemurmel an.
Es wurde zu einem Raunen.
Aus dem Raunen setzten sich einzelne Rufe ab. Fordernde Rufe:
»Erst wollen wir wissen, was los ist!«
»Stimmt es, daß die Navy auf uns geschossen hat?«
»Wann erreichen wir endlich Frisco?«
»Warum richten Sie Waffen auf uns?«
»Wir wollen mit dem Käpten sprechen!«
Nachdem der letzte Ruf erklungen war, beugte sich Schelp zu dem Mann am Steuerrad hinüber und raunte: »Beruhigen Sie die Leute, Käpten! Sie sollen alle wieder unter Deck gehen, dann passiert ihnen nichts.«
Hansen nickte seufzend und rief nach Joe Weisman, dem er das Steuer übergab.
Der Kapitän hatte es längst bitter bereut, daß er mit Schelp gemeinsame Sache machte. Daß er jetzt einmal mehr den Handlanger für ihn spielte, fand er aber vernünftig. Eine Meuterei an Bord würde in einem Blutbad enden. Und wie es aussah, würde Schelp dabei auch noch die Oberhand behalten.
Also sprach Hansen beruhigend auf die Passagiere ein. Er erzählte ihnen, daß die ALBANY San Francisco in wenigen Tagen erreichen würde.
Behielt die Bark ihren derzeitigen Kurs bei, stimmte das sogar. Um den Verfolgern zu entgehen, ließ der Kapitän sein Schiff nordwärts laufen. An der Küste desjenigen Teils von Kalifornien entlang, der zu Mexiko gehörte.
»Und die Kanonen?« fragte ein kleiner, hagerer Mann mit dem strengen Gesicht eines Schulmeisters. Er trat einen Schritt vor, stemmte die Hände in die Hüften und blickte den Kapitän trotzig an. »Wieso schießt unsere eigene Navy auf uns?«
»Es war nicht die US-Navy«, log Hansen. »Es waren Raiders der Konföderierten.«
»Raiders!«
Der Aufschrei pflanzte sich durch die Menge fort. Raiders nannte man die Kaperfahrer der Konföderierten, die zahlreiche Überfälle auf die Handelsmarine der Vereinigten Staaten unternahmen. Da die ALBANY unter der US-Flagge segelte, erschien Hansens Erklärung einleuchtend.
Bis der Mann mit dem Schulmeistergesicht fragte: »Wenn das vorhin Raiders der Konföderierten waren, weshalb hatten sie dann die Flagge des Nordens gehißt?«
In Gedanken ließ Piet Hansen eine ganze Flotte von deftigen Seemannsflüchen vom Stapel. Warum mußte ausgerechnet dieser Besserwisser während des Beschusses durch die Kriegsschiffe an Bord gewesen sein und alles beobachtet haben!
»Lassen Sie sich schnell was einfallen, Käpten!« zischte Schelp leise.
»Das war ein Trick, eine Täuschung«, beantwortete Hansen die Frage mit einer weiteren Lüge. »Die Raiders wollten uns in Sicherheit wiegen.«
Der kleine Kerl mit dem strengen Aussehen schien immer noch nicht zufriedengestellt. Aber eine resolute Frau, die ihn um mehr als Haupteslänge überragte, trat vor und zog ihn, halb gegen seinen Willen, in die Reihen der anderen Passagiere zurück.
»Geht alle unter Deck, Leute!« verlangte der aufatmende Kapitän Hansen. »Noch sind wir nicht aus der Gefahrenzone. Wenn die Raiders zurückkehren und uns erneut unter Beschuß nehmen, ist euer Leben hier oben an Deck nicht sicher. Außerdem behindert ihr meine Männer bei der Arbeit, wenn ihr hier herumsteht und jeden Durchgang verstopft.«
Das schien den Menschen einzuleuchten. Vielleicht hatte sich auch der Respekt vor den auf sie gerichteten Waffen in ihnen festgesetzt. Jedenfalls machten sie kehrt und strebten dem Durchgang zum Zwischendeck zu. Zwei kräftige Kerle stützten den Mann, den Schelp angeschossen hatte.
»Gut gemacht, Käpten«, grinste Schelp und steckte seinen Derringer zurück in die Westentasche. »Ich habe doch gleich gewußt, daß mit einem Partner wie Ihnen an meiner Seite nichts schiefgehen kann. Sie führen Menschen genauso sicher wie ein Schiff.«
Der beißende Spott in Schelps Worten entging Piet Hansen nicht. Der Kapitän wußte, auf welches Schiff der Rotkopf anspielte: auf die HENRIETTA!
Schelp wandte sich an Möller und sagte: »Nehmen Sie fünf Bewaffnete mit und passen Sie auf die Passagiere auf! Die Leute sollen unter Deck bleiben und sich ruhig verhalten.«
»Und wenn sie Ärger machen?« fragte der knochige Steuermann.
»Na, dann schießen Sie!«
Schelp sagte es in einem Ton, als verstände sich das von selbst.
»Aye«, krächzte Möller.
Er wählte seine Begleiter aus und bildete mit ihnen einen losen Ring um den Durchgang zum Zwischendeck. Sie trieben die Passagiere in den Bauch des Schiffes wie Schäfer, die ihre Tiere zur Schlachtbank führten.
Hansen war bei diesem Anblick nicht wohl.
Das Pulverfaß stand noch an Bord, nur die Funken sprühten nicht mehr ganz so heftig.
*
Als der schwarze Schatten über Irene, Jamie und Jacob fiel, sah die junge Frau ängstlich auf.
Sie blickte auf ein schwarzes Kleid, einen schwarzen Schleier und einen schwarzen Hut. Die verhüllte Gestalt ängstigte sie fast mehr als der Derringer in deren schwarz behandschuhten Rechten.
Rechts und links von der geheimnisvollen Gestalt standen ihre beiden männlichen Begleiter. Die Waffen in ihren Fäusten waren ungleich größer. Ein langläufiger Leach & Rigdon-Revolver bei dem Captain der Konföderierten und ein französischer LeMat bei dem Mexikaner.
Aber am bedrohlichsten wirkte nach wie vor die Frau in Schwarz.
»Nehmen Sie Ihr Kind und verschwinden Sie unter Deck!« befahl die Vermummte.
»Und. Jacob?« fragte Irene zögernd.
Sie wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte. War es richtig, Jacobs Tod vorzutäuschen?
Oder war gerade das ein vielleicht tödlicher Fehler?