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Bolitho stützte sein Teleskop auf die Finknetze und studierte die einander überschneidenden, kleinen Inseln. Den ganzen Morgen und auch während der Vormittagswache war die Undine stetig nähergekreuzt. Er hatte sich jede auffällige Einzelheit notiert und die Notizen mit dem verglichen, was er bereits wußte. Die Hauptpassage durch die Inseln öffnete sich nach Süden zu, und fast in der Mitte der Zufahrt lag ein mächtiger Felsbuckel, auf dem sich die Festung erhob. Selbst jetzt, weniger als zwei Meilen von den ersten Inseln entfernt, war es unmöglich zu sehen, wo die Festung begann und wo der zerklüftete Felsgrat endete.
«Wir ändern noch einmal Kurs, Mr. Herrick. «Bolitho senkte das Glas und wischte sich mit dem Handrücken das Auge.»Steuern Sie Ostnordost.»
Die Männer an den Backbord-Zwölfpfündern visierten durch die offenen Stückpforten, in denen die Kanonen bereits in der Sonne glänzten, als ob sie eben abgefeuert wären.
«An die Brassen!«kommandierte Herrick.»Zwei Strich nach Backbord abfallen, Mr. Mudge!»
Bolitho hielt Ausschau nach Potters schmächtiger Gestalt. Der stand unter der Back bei den Matrosen, die bei dem Manöver nichts zu tun hatten; als er hochblickte, winkte Bolitho ihn zu sich.
Dann schlüpfte er aus seinem schweren Uniformrock, nahm den Hut ab, reichte beides Allday und sagte dabei so gelassen, wie es ihm möglich war:»Ich entere selbst auf.»
Allday schwieg dazu; er kannte Bolitho gut genug, um zu wissen, was ihn das kostete.
Potter kam eilig aufs Achterdeck und grüßte.»Sir?»
«Traust du es dir zu, mit mir in den Großmast aufzuentern?»
Potter blickte ihn verständnislos an.»Ja, Sir, wenn Sie meinen… »
«Ostnordost liegt an, Sir«, meldete Herrick. Sein Blick wanderte von Bolitho zur Großrahe, die fast mitschiffs über dem Deck stand und unter dem Winddruck auf das mächtige Segel vibrierte.
Bolitho schnallte seinen Degen ab und reichte ihn Allday.»Vielleicht brauche ich heute deine Augen, Potter.»
Im Bewußtsein, daß jedermann an Deck ihm zusah, schwang er sich in die Luvwanten und begann mit so festen Griffen aufzuentern, daß der Schmerz in seinen Händen stärker war als sein Schwindelgefühl. Immer weiter hinauf, immer mit dem Blick auf die Püttingswanten, die den mächtigen Großmast stützten, von dem aus zwei Seesoldaten neugierig, aber mit unbewegten Gesichtern seinen Aufstieg beobachteten.
Er biß die Zähne zusammen und zwang sich, nicht nach unten zu sehen. Seine Höhenangst betrachtete er als eine besondere Gemeinheit des Schicksals. Mit zwölf Jahren war er zur See gegangen und hatte Jahr um Jahr etwas dazugelernt; aus seiner kindlichen Begeisterung für die Marine war echtes Verständnis geworden, das man schon Liebe nennen konnte. Er war mit der Seekrankheit fertiggeworden, hatte gelernt, Einsamkeit und Kummer vor seinen Kameraden zu verbergen — zum Beispiel damals, als seine Mutter starb, während er auf hoher See war. Auch sein Vater war begraben worden, als er im Karibischen Meer gegen Franzosen und Amerikaner kämpfte. In mancher Seeschlacht hatte er furchtbare Verwundungen und qualvolles Sterben gesehen; sein eigener Körper trug Narben genug zum Beweis dafür, daß Überleben und Tod nur um Haaresbreite auseinanderlagen. Warum in aller Welt war er mit dieser Höhenangst geschlagen? Die Webeleinen schnitten in seine Fußsohlen, als er sich um die Püttingswanten schwang und nur an Fingern und Zehen hing.
Bewundernd sagte der eine Marineinfanterist:»Bei Gott, Sir, Sie haben aber schnell aufgeentert!»
Mit schmerzhaft keuchender Brust stand Bolitho neben ihm. Mißtrauisch musterte er den Seesoldaten, ob sich wohl heimlicher Spott hinter seinem Lob verbarg; es war der Scharfschütze, der vor zwei Tagen den vor Anker liegenden Schoner entdeckt hatte.
So nickte er dem Mann zu und erlaubte sich nun doch einen Blick auf das Deck unter ihm. Zwergenhaft verkleinert bewegten sich Gestalten auf dem Achterdeck, und vorn sah er den Lotgasten im Wasserstag hängen und das schwere Blei geschickt weit über den Bug hinausschleudern.
Seine Spannung wich; er wartete, bis auch Potter oben war und neben ihm stand. Einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, sich noch weiter hinaufzuwagen, über die nächsten vibrierenden Wanten bis zum Eselshaupt. Aber er ließ es sein. Abgesehen davon, daß er sich selbst und denen, die ihm zusahen, seine Kletterkunst bewies, hätte es wenig Sinn gehabt. Wenn Herrick ihn plötzlich an Deck brauchte, würde er ziemlich dumm aussehen, wenn er übereilt abenterte. Außerdem war Potter jetzt schon ganz erschöpft.
Er nahm das Fernrohr zur Hand, das an seiner Schulter hing, und richtete es auf die Passage zwischen den Inseln. In der Zeit, die er gebraucht hatte, um aufzuentern und oben wieder zu Atem zu kommen, war die Undine mehr als eine Kabellänge näher herangekreuzt, und er konnte jetzt hinter dem steil abfallenden Felsbuckel in der Mitte, der die grimmige Festung trug, die nächste Insel sehen, die vorher verdeckt gewesen war.
«Auf der Ostseite bin ich nie gewesen, Sir«, sagte Potter.»Aber ich habe gehört, daß es dort eine gute Durchfahrt gibt. «Er schauerte.»In den Sandbänken dort haben sie bei Ebbe die Leichen vergraben. Was noch von ihnen übrig war.»
Bolitho wurde auf einmal starr vor Konzentration und vergaß für den Augenblick das tief unter ihm liegende Deck. Denn er sah den dunkleren Schattenriß der Masten und Rahen eines Großseglers, fast verborgen in der Biegung des inneren Fahrwassers: eine Fregatte!
Potter bemerkte, was Bolitho entdeckt hatte, und fuhr trübe fort:»Der beste Ankerplatz, Sir. Die Geschütze der Festung können zwei Passagen gleichzeitig bestreichen und jedes Fahrzeug schützen, das dort liegt.»
Etwas Helles flatterte vor dem vordersten Eiland und breitete sich dann aus: auf einem kleinen Boot wurden Segel gesetzt. Bolitho warf einen raschen Blick auf den Vormast, wo Herrick eine große weiße Flagge gehißt hatte. So oder so — bald würden sie Bescheid wissen.
Da krachte es hohl, und dann, nach einer halben Ewigkeit, schoß eine hohe Wasserfontäne etwa eine Kabellänge an Steuerbord voraus gen Himmel. Eilends schwenkte Bolitho das Glas zur Festung hinüber, aber der Pulverrauch war bereits verflogen, so daß er unmöglich den Schußwinkel schätzen konnte.
Er schwenkte das Glas wieder zurück: das Boot bog jetzt schon schneller um eine Anhäufung von Felsbrocken, das Segel dichtgeholt und an die Rückenflosse eines riesigen Haifisches erinnernd. Er atmete erleichtert auf, denn im Masttopp wehte auch dort eine weiße Flagge. Der einzelne Schuß der Festungsbatterie war ein Warnschuß gewesen.
Bolitho warf sich das Teleskop wieder über die Schulter.»Du bleibst noch hier, Potter. Halte die Augen offen und versuche, dich an jede Einzelheit zu erinnern. Vielleicht rettet das dem einen oder anderen das Leben. «Er nickte den beiden Marineinfanteristen zu:»Hoffentlich werdet ihr nicht gebraucht. «Dann schwang er ein Bein über das niedrige Süll und bemühte sich, dabei nicht nach unten zu sehen.»Die Argus will das Fürchten uns allein überlassen.»
Die beiden Männer stießen sich grinsend an, als hätte er ihnen soeben eine ungeheuer wichtige Information anvertraut. Bolitho schluckte krampfhaft und trat den Abstieg an. Als er den Punkt erreicht hatte, an dem er die Finknetze der gegenüberliegenden Seite auf gleicher Höhe sehen konnte, wagte er es, auf die Gruppe hinunterzublicken, die ihn am Schanzkleid erwartete. Herrick lächelte, doch es war schwer zu sagen, ob vor Erleichterung oder weil er sich im stillen amüsierte. Bolitho war mit einem Sprung an Deck und musterte bedauernd sein frisches Hemd. Es war klatschnaß von Schweiß und trug auf der einen Schulter einen schwarzen Teerstrich.
«Egal«, sagte er,»unterm Rock sieht man das nicht. «Dienstlicher fügte er hinzu:»Ein Boot hält auf uns zu, Mr. Herrick. Drehen Sie bei und lassen Sie den Anker klarieren.»
Er warf nochmals einen Blick in die Takelage hinauf. Es war diesmal nicht so schlimm gewesen wie befürchtet. Aber er war schließlich unter idealen Bedingungen aufgeentert, nicht in einem brüllenden Sturm oder in pechschwarzer Nacht.
Als Herrick seine Befehle gegeben hatte, wandte sich Bolitho an Mudge:»Was halten Sie von diesem Schuß?»
Der Steuermann wiegte zweifelnd den Kopf.
«Ein altes Geschütz, Sir. Von da, wo ich stand, hörte es sich an wie ein Rohr aus Bronze.»
Bolitho nickte.»Ganz Ihrer Meinung. Es kann durchaus sein, daß sie noch die Originalbestückung benutzen, die von den Holländern. «Er rieb sich das Kinn und sprach seine Gedanken laut aus.»Dann werden sie sich aber hüten, mit glühenden Kugeln zu schießen. «Er grinste Mudge in das traurige Gesicht.»Nicht daß uns das viel nützt. Auch wenn sie mit Steinkugeln schießen würden, könnten sie kein Schiff verfehlen, das versucht, die Durchfahrt zu erzwingen.»
Da meldete Fowlar:»Das Boot hat einen Offizier an Bord, Sir. Einen Froschfresser — die kenne ich.»
Bolitho nahm ein Teleskop und beobachtete das näherkommende Boot. Es war ein Eingeborenenfahrzeug mit dem vertrauten hohen Bug und Lateinersegel und segelte schnell und leicht auf konvergierendem Kurs. Er sah den
Offizier am Mast lehnen, den Dreispitz tief in die Stirn gezogen, um seine Augen vor der Sonne zu schützen. Fowlar hatte recht: unverkennbar ein Franzose.
Er trat ein paar Schritte von der Reling zurück, als sich die Undine mit aufgegeitem Großsegel und wild schlagenden Marssegeln in den Wind drehte, um ihren Besucher zu erwarten. Die Hände auf der Reling, wartete er ab, bis das Boot den Bug umrundet hatte, wo schon Mr. Shellabeer mit ein paar Matrosen wartete, um es festzumachen und Fender auszubringen.
«Jetzt, Mr. Herrick, werden wir es erfahren«, sagte Bolitho.
Er schritt den schwankenden Decksgang hinab bis zur Fallreepspforte und wartete, daß der Franzose an Bord kam. Die schlanke Gestalt des Offiziers hob sich klar vom kabbligen Wasser ab; aufmerksam musterte er das Geschützdeck der Undine, die Matrosen und Seesoldaten, die ihn von allen Seiten neugierig anstarrten. Als er Bolitho sah, zog er mit elegantem Schwung den Hut und verbeugte sich.»Lieutenant Maurin, m'sieur. Zu Ihren Diensten.»
Er trug keine Rangabzeichen, und sein blauer Uniformrock war mehrfach geflickt und gestopft. Die Sonne hatte ihn gegerbt wie altes Leder, und seine Augen waren die eines Mannes, der fast sein ganzes Leben auf See verbracht hat. Zähigkeit, Selbstsicherheit, Tüchtigkeit — all das stand deutlich auf seinem Gesicht.
Bolitho nickte.»Und ich bin Captain Bolitho von Seiner Majestät Schiff Undine.»
Der Lieutenant lächelte schief.»Mein capitaine hat Sie bereits erwartet.»
Bolitho warf einen Blick auf die Kokarde an Maurins Hut. Statt der französischen Farben zeigte sie die kleine rote Raubkatze.»Und welche Nationalität haben Sie, lieutenant!»
Der Mann hob die Schultern.»Ich stehe natürlich im Dienst des Fürsten Muljadi.»
Jetzt lächelte Bolitho.»Natürlich«, wiederholte er und fügte schärfer hinzu:»Ich wünsche unverzüglich Ihren Kapitän zu sprechen, um gewisse Dinge zu erörtern.»
«Aber selbstverständlich, m'sieur.»
Wieder glitten seine Blicke über die Männer an Deck, von einem zum anderen. Berechnend. »Capitaine Le Chaumareys ist damit einverstanden«, fuhr er fort,»daß ich als Pfand für Ihre, äh, Sicherheit hier an Bord bleibe.»
Bolitho verbarg seine Erleichterung. Wäre Le Chaumareys im Gefecht getötet oder verwundet und durch einen anderen ersetzt worden, dann hätte er seine Taktik ändern müssen. So aber antwortete er gelassen:»Das wird nicht nötig sein. Ich vertraue dem Ehrgefühl Ihres Kommandanten.»
«Aber Sir«, rief Herrick dazwischen,»das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Behalten Sie ihn hier! Ihr Leben ist zu wertvoll, um es auf das Wort eines Franzosen hin zu riskieren!»
Lächelnd legte Bolitho ihm die Hand auf den Arm.»Wenn Le Chaumareys der abgebrühte Schurke wäre, für den Sie ihn halten, dann würde es ihm auch nichts ausmachen, einen Leutnant zu verlieren, um einen britischen Kapitän in die Hand zu bekommen. In meiner Kajüte sind ein paar Notizen. Mit denen können Sie sich die Zeit vertreiben, bis ich wieder da bin. «Er wandte sich zum Achterdeck, berührte grüßend seinen Hut und sagte dann zu Maurin:»Ich bin bereit.»
Noch einen Augenblick blieb er an der Fallreepspforte stehen und blickte in das unten wartende Boot. Etwa ein halbes Dutzend halbnackter Männer saß darin, alle bis an die Zähne bewaffnet und von der Sorte, die töten, ohne lange zu fragen.
Leise sagte Maurin:»In meiner Gegenwart sind Sie sicher, m'sieur.«Er ließ sich geschickt auf den Schandeckel des Bootes hinab.»Im Moment jedenfalls.»
Bolitho nahm die letzten paar Fuß im Sprung und hielt sich an einem primitiven Backstag fest, angeekelt von dem Gestank nach Schweiß und Dreck.»Merkwürdige Verbündete haben Sie, lieutenant.»
Maurin gab das Zeichen zum Ablegen. Lässig hielt er eine Hand am Griff seiner Pistole.»Wer sich mit Hunden schlafen legt, steht mit Flöhen auf, m'sieur. Das ist so üblich.»
Bolitho warf einen raschen Blick auf sein Profil. Vielleicht ein zweiter Herrick?
Doch als sich das Segel krachend füllte und das schlanke Boot Fahrt zu machen begann, dachte er an sein Vorhaben und vergaß nicht nur Maurin, sondern auch die besorgten Gesichter auf dem Achterdeck der Undine.
Das Boot glitt gefährlich dicht an einer Reihe schwarzer Felszacken vorbei, und Bolitho griff wieder nach dem Backstag. Dann nahm es Kurs auf die Hauptdurchfahrt. Er bemerkte, daß die Strömung stark war und der einkommenden Tide entgegenlief. Das Boot stampfte auf dem letzten Teil der Fahrt.
Achteraus war die Undine nicht mehr zu sehen, ein dunkler Landstreifen verbarg sie bereits.
Unvermittelt fragte Maurin:»Warum gehen Sie ein solches Risiko ein, m'sieur?»
Bolitho blickte ihn gelassen an.»Warum tun Sie's?»
Maurin hob die Schultern.»Befehl ist Befehl. Aber bald fahre ich wieder nach Hause. Nach Toulon. Ich habe meine Familie nicht gesehen seit…«Er lächelte trübe.»Zu lange nicht.»
Bolitho blickte über die Schulter des Leutnants und studierte die grimme Festung, die jetzt an Backbord vorbeiglitt. Es war immer noch schwierig, die Ausmaße des Bauwerks festzustellen: eine hohe Mauer auf dem welligen Felsengrat; die Fenster nur kleine schwarze Schlitze. Oben auf der verwitterten Brustwehr konnte er die Mündungen einiger großer Geschütze hinter ihren Schießscharten eben noch erkennen.
Maurin sagte:»Ein schauerlicher Ort, nicht wahr? Aber die sind eben anders als wir. Sie leben wie Krabben zwischen Felsen. «Es klang verächtlich.
Mehrere kleine Boote dümpelten vor Anker, und ein Schoner ähnlich dem, den sie aufgebracht hatten, hatte an einer steinernen Pier festgemacht. Maurin ließ ihn alles in Ruhe betrachten, auch die vielen Gestalten, die den Pier und den ansteigenden Weg zum Festungstor bevölkerten. Bolitho überlegte, daß man ihn bestimmt mit voller Absicht durch die Hauptzufahrt hereingebracht hatte. Und es war wirklich eindrucksvoll. Der Gedanke, daß sich ein Seeräuber, noch dazu ein in Indien Fremder, so eine Macht schaffen konnte, mußte jeden beeindrucken, selbst einen aufgeblasenen Narren wie Major Jardine.
Als die Bootsmannschaft begann, die Segel einzuholen, wandte er sich um und sah dicht vor dem Bug die Fregatte liegen. Aus der Nähe und auf so engem Raum wirkte sie noch viel größer. Viel größer als die Undine. Selbst für die Phalarope, die er zuletzt kommandiert hatte, wäre es ein kühnes Unterfangen gewesen, sich mit den tödlichen Breitseiten dieses Achtzehnpfünders einzulassen.
«Ein feines Schiff«, bemerkte er.
Maurin nickte.»Das beste. Wir sind so lange zusammen, daß wir sogar dasselbe denken.»
Bolitho sah die Geschäftigkeit an Bord, das Blinken der aufgepflanzten Bajonette der Wache an der Fallreepspforte. Sorgfältige Regie, dachte er. An den Decksgängen sah er zusammengerollte Enternetze, die in kürzester Zeit aufgeriggt werden konnten. Hatten sie Angst vor einem Überfall? Wahrscheinlicher war, daß Le Chaumareys seinem neuen Bundesgenossen nicht recht traute. Das war das einzig Positive, was Bolitho bisher gesehen hatte.
Ein kleines Fischerdory trieb vorüber; ein paar Eingeborene standen darin, die ihm mit den Fäusten drohten und wie wilde Tiere die Zähne bleckten. Maurin sagte:»Wahrscheinlich halten sie Sie für einen Gefangenen, hein?«Es schien ihn irgendwie zu deprimieren.
Bolitho hatte an anderes zu denken, denn nun umfuhr das Boot den Bug der Fregatte. Oben erwartete ihn capitaine Paul Le Chaumareys, über den viele Geschichten in Umlauf waren: über gewonnene Seeschlachten, Jagden auf Geleitzüge, zerstörte Stützpunkte. Sein Kriegsruhm war, wie Conway es zutreffend beschrieben hatte, beträchtlich. Aber als Individuum war er ein Geheimnis, hauptsächlich deswegen, weil er einen erheblichen Teil seines Lebens außerhalb Frankreichs zugebracht hatte.
Bolitho ließ seine Blicke über die ganze Länge des Schiffes schweifen: Argus, der hundertäugige Bote der Göttermutter Hera. Sehr passend für einen so schwer faßbaren Mann wie Le Chaumareys, dachte er. Die Argus war ein stark gebautes Schiff und wies die Narben und Male eines harten Dienstes auf — ein Schiff, das zu befehligen er stolz gewesen wäre. Ihr fehlte zwar die Eleganz der Undine, doch war sie zäher und kraftvoller.
Das Boot hatte unter dem Bugspriet festgemacht, und Bolitho kletterte zum Schanzkleid empor, wo die Mannschaft sich um den Mast gruppiert hatte. Keiner machte Miene, ihm zu helfen. Schließlich sprang doch ein junger Matrose herzu und hielt ihm die Hand hin. »M'sieur«, grinste er breit, »a votre Service!«Bolitho ergriff die Hand und schwang sich an Deck. Dieser Franzose hätte auch ein Mann von der Undine sein können.
Er lüftete grüßend den Hut zu dem breiten Achterdeck hinüber und wartete ab, bis die Pfeifen schrillten und eine Abteilung Soldaten die Musketen präsentierte. Nicht so zackig wie Bellairs' Marineinfanteristen, aber mit routiniertem Schmiß, der von langer Übung zeugte. So wie diese Abteilung war auch das ganze Oberdeck; nicht direkt schmutzig, aber auch nicht glattgeleckt, und nicht eben in musterhafter Ordnung. Etwas abgewetzt, aber jederzeit für alles bereit.
«Ah, capitaine!«Le Chaumareys trat zur Begrüßung vor und blickte ihm fest in die Augen. Er sah ganz anders aus, als Bolitho ihn sich vorgestellt hatte: älter. Viel älter sogar. Vielleicht Mitte Vierzig. Einer der größten Männer, mit denen er jemals zu tun gehabt hatte. Über sechs Fuß hoch, und in den Schultern so breit, daß sein unbedeckter Kopf beinahe klein wirkte, besonders da er sein Haar so kurz trug wie ein Sträfling.
«Ich heiße Sie auf meinem Schiff willkommen!«Er machte eine Handbewegung über das Deck hin.»In meiner Welt, die es schon seit langem ist. «Eine Sekunde lang erhellte ein Lächeln sein Gesicht.»Kommen Sie also hinunter in meine Kajüte. «Er nickte Maurin zu:»Ich rufe Sie, wenn es soweit ist.»
Bolitho schritt hinter ihm her zum Kajütniedergang; er merkte, daß die Männer jeder seiner Bewegungen aufmerksam folgten, als wollten sie etwas entdecken.
«Ich hoffe«, sagte Le Chaumareys beiläufig,»Maurin hat Sie mit der gebotenen Aufmerksamkeit behandelt?»
«Gewiß, danke. Er spricht ausgezeichnet englisch.»
«Stimmt. Auch deswegen habe ich ihn für mein Schiff ausgesucht. Er ist mit einer Engländerin verheiratet. «Er lachte kurz auf.»Sie sind natürlich nicht verheiratet. Wie wäre es mit einer französischen Braut für Sie?»
Er stieß die Tür auf und wartete gespannt, was Bolitho wohl sagen würde. Die Kajüte war geräumig und gut möbliert und wie das ganze Schiff ein bißchen unordentlich. Eben bewohnt.
Aber Bolithos Aufmerksamkeit wurde sofort von einer üppig gedeckten Tafel in Anspruch genommen.
«Das meiste davon sind einheimische Produkte«, bemerkte Le Chaumareys und tippte mit der Fingerspitze auf eine große Fleischkeule.»Das hier zum Beispiel ist fast dasselbe wie geräucherter Schinken. Man muß sich sattessen, solange man noch kann, eh?«Wieder lachte er kurz auf, und jetzt sah Bolitho auch, daß dieses Lachen aus einem ziemlich großen Bauch kam.
Er begann:»Ich bin hier, um Ihnen… »
Der Franzose drohte ihm tadelnd mit einem Finger.»Sie sind an Bord eines französischen Schiffes, m'sieur. Erst trinken wir.»
Auf einen kurzen Kommandoruf eilte ein Diener aus der Nebenkajüte mit einem hohen Kristallkrug Wein herbei. Der Wein war ausgezeichnet und kühl wie Quellwasser. Bolitho blickte vom Krug zum Tisch. Echt? Oder noch ein Trick, um zu demonstrieren, wie überlegen sie waren, selbst was Verpflegung und Getränke betraf?
Man brachte einen Stuhl für ihn, und als sie Platz genommen hatten, schien Le Chaumareys etwas aufzutauen.»Ich habe von Ihnen gehört, Bolitho«, sagte er.»Für einen so jungen Offizier haben Sie schon allerhand geleistet. «Ohne jede Verlegenheit fügte er hinzu:»Es war immerhin schwierig für Sie, diese unglückselige Affäre mit Ihrem Bruder… »
Bolitho beobachtete ihn gelassen. Le Chaumareys war ein Mann, den er verstand wie einen Duellgegner: scheinbar lässig, entspannt — aber im nächsten Moment unvermutet zustoßend.»Vielen Dank für Ihr Mitgefühl«, erwiderte er.
Le Chaumareys' kleiner Kopf nickte heftig.»Sie hätten während des Krieges in diesen Gewässern sein sollen. Unabhängig und für keinen Admiral erreichbar — das wäre etwas für Sie gewesen.»
Bolitho merkte, daß ihm der Diener wieder einschenkte.»Ich bin gekommen, um mit Muljadi zu reden.»
Er faßte sein Glas fester. Das hatte er so einfach ausgesprochen, als hätten ihm diese Worte seit Monaten im Sinn gelegen und wären ihm nicht eben erst eingefallen.
Verdutzt starrte Le Chaumareys ihn an.»Sind Sie verrückt? Wissen Sie, was er mit Ihnen machen würde? In einer Minute würden Sie um den Tod betteln, und ich könnte Ihnen nicht helfen. Nein, m'sieur, es ist blanker Irrsinn, daran auch nur zu denken.»
Gelassen erwiderte Bolitho:»Dann gehe ich wieder an Bord meines Schiffes.»
«Aber was ist mit Admiral Conway und seinen Depeschen? Hat er Ihnen nichts für mich mitgegeben?»
«Das ist jetzt überholt. «Bolitho achtete genau auf Le Chaumareys' Miene.»Außerdem sind Sie nicht als französischer Kapitän hier, sondern als Muljadis Untergebener.»
Le Chaumareys nahm einen tiefen Zug aus seinem Glas und kniff die Augen vor dem einfallenden Sonnenlicht zusammen.
«Hören Sie mich an«, sagte er bestimmt.»Zügeln Sie Ihre Ungeduld. Ich mußte es auch, als ich so alt war wie Sie. «Er blickte sich in der Kajüte um.»Ich habe meine Befehle, denen ich gehorchen muß, so wie Sie den Ihren. Aber ich habe Frankreich gut gedient, und hier in Indien ist meine Zeit fast um. Vielleicht waren meine Dienste zu wertvoll, als daß man mich früher nach Hause gelassen hätte; aber das sei, wie es wolle. Ich kenne diese Gewässer wie meine Hosentasche. Den ganzen Krieg hindurch habe ich von diesen Inseln leben müssen — Verpflegung, Wasser, Unterschlupf bei Reparaturen und Informationen über Ihre Patrouillen und Geleitzüge. Als mir befohlen wurde, in eben diesen Gewässern weiterzumachen, hat mir das nicht gepaßt, aber wahrscheinlich fühlte ich mich trotzdem geschmeichelt. Man brauchte mich also noch — im Gegensatz zu manchen Leuten, die auch tapfer kämpften und jetzt nichts zu essen haben. «Er blickte Bolitho scharf an.»Wie das auch in Ihrem Lande zweifellos der Fall ist.»
«Ja«, gab Bolitho zu,»es ist ziemlich dasselbe.»
Le Chaumareys lächelte.»Aber dann, mein ungestümer Freund, dürfen wir beide nicht gegeneinander kämpfen! Wir sind einander zu ähnlich. In der einen Minute braucht man uns, in der nächsten wirft man uns weg.»
Kalt erwiderte Bolitho:»Ihre Aktionen haben viele Menschenleben gekostet. Wären wir nicht gekommen, so wäre die ganze Besatzung von Pendang Bay umgebracht worden; das wissen Sie ganz genau. Eine spanische Fregatte wurde vernichtet, um uns aufzuhalten, nur damit dieser sogenannte Fürst Muljadi seiner Seeräuberei einen Anstrich von Legalität geben und als offizieller Verbündeter Frankreichs ständig den Frieden bedrohen kann.»
Le Chaumareys zog die Brauen hoch.»Gut gesprochen. Aber an der Vernichtung der Nervion hatte ich keinen Anteil. «Er hob seine mächtige Faust.»Gehört habe ich natürlich davon. Ich höre vieles, was mir nicht gefällt. Deswegen habe ich den spanischen Kommandanten hergeholt, um mit ihm über die Sicherheit seiner Garnison zu verhandeln. Er war immer noch der Repräsentant seines Königs und hätte Vereinbarungen treffen können, die Muljadi gewisse Rechte in Pendang Bay gegeben hätten — wenn Sie nicht dazwischengekommen wären. «Jetzt wurde er sehr ernst.»Ich wußte nicht, daß im selben Moment, als ich mit ihm die Bay verlassen hatte, ein Angriff auf den Stützpunkt begann. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort als französischer Offizier.»
«Und ich nehme es an. «Bolitho versuchte, ruhig zu bleiben, aber das Blut prickelte ihm in den Adern wie Eiswasser. Genau wie er es sich gedacht hatte: ein fertiger, ausgeklügelter Plan, der vielleicht schon in Europa begonnen hatte, in Paris und London, in Madrid sogar, und der beinahe geklappt hätte. Wenn er sich nicht entschieden hätte, die wenigen Überlebenden der Nervion und seine Undine nach Pendang Bay zu segeln, und wenn Puigserver nicht ebenfalls dorthin gelangt wäre, so wäre die Sache erledigt gewesen, und Le Chaumareys wäre bereits nach getaner Arbeit — und gut getaner Arbeit — auf dem Weg in seine Heimat.
«Ich bin gekommen, um den Kommandanten zu seinen Landsleuten zurückzubringen«, sagte er, und seine Stimme klang ihm selbst fremd.»Don Luis Puigserver, der Repräsentant des Königs von Spanien, erwartet seine Rückkehr. «Seine Stimme wurde schärfer.»Ist Colonel Pastor überhaupt noch am Leben? Oder gehört auch sein Tod zu den Tatsachen, die Sie wissen, aber nicht billigen?»
Le Chaumareys erhob sich und ging schweren Schrittes zum Heckfenster.»Er ist hier, als Gefangener Muljadis. In der Ruine dort drüben. Muljadi wird nie gestatten, daß Sie ihn mitnehmen, tot oder lebendig. Solange Pastor hier ist, haben Muljadis Forderungen den Anschein der Legalität. Mit Pastor hat er einen klaren Beweis dafür in der Hand, daß England sein Wort nicht halten und die Rechte der Spanier nicht schützen kann. Sie meinen, das sei unglaubwürdig? Zeit und Entfernung können aus jeder Wahrheit eine Farce machen.»
«Aber warum sollte Muljadi dann Angst haben, mit mir zu sprechen?«Der Franzose wandte sich bei diesen Worten vom Fenster ab; sein Gesicht war tief gefurcht und grimmig.»Ich sollte meinen«, fuhr Bolitho fort,»es würde ihm eher daran liegen, mir seine Macht zu demonstrieren.»
Le Chaumareys durchquerte die Kajüte; unter seinem Gewicht knarrten die Decksplanken. Er blieb bei Bolithos Sessel stehen und sah ihm starr in die Augen.»Muljadi und Angst? Nein, ich habe Angst, und zwar um Sie, Bolitho. Hier draußen, an Bord meiner Argus, bin ich Muljadis Arm, seine Waffe. Für ihn bin ich nicht bloß ein Seekapitän, sondern ein Symbol: der Mann, der seine Pläne in die Wirklichkeit umsetzen kann. Aber außerhalb dieser Planken kann ich für Ihre Sicherheit nicht garantieren, und das ist bitterer Ernst. «Er zögerte.»Aber ich verschwende meine Zeit, wie ich sehe. Sie sind also immer noch entschlossen?»
Bolitho lächelte grimmig.»Ja.»
«Ich habe viele Engländer getroffen, in Krieg und Frieden. Manche mochte ich, andere konnte ich nicht ausstehen. Sie bewundere ich. «Er lächelte trübe.»Sie sind ein Narr, aber tapfer. So einen Mann kann ich bewundern.»
Er läutete eine Glocke und deutete auf die Tafel.»Und Sie wollen wirklich nichts essen?»
Bolitho griff nach seinem Hut und erwiderte:»Wenn es so ist, wie Sie sagen, wäre es pure Verschwendung, oder?«Er mußte dabei lächeln, obwohl er kaum klar denken konnte.»Und wenn nicht — nun, dann muß ich mich eben in Zukunft weiter mit Salzspeck begnügen.»
Ein großer, schlanker, dünnhaariger Offizier trat in die Kajüte, und Le Chaumareys sagte etwas in geschwindem Französisch. Dann nahm er seinen Hut und erklärte:»Mein Erster Leutnant. Ich habe es mir anders überlegt, ich komme mit Ihnen. «Er hob die Schultern.»Ob aus purer Neugier oder um meine Voraussage bestätigt zu sehen — das weiß ich nicht. Aber ohne mich sind Sie ein toter Mann.»
Als sie aufs Achterdeck kamen, lag schon ein Boot längsseits, und auf den Decksgängen drängten sich stumme Zuschauer. Sollen sie es sich ruhig ansehen, dachte Bolitho grimmig: eine Fahrt ohne Rückkehr, wenn er sich verrechnet hatte.
Le Chaumareys faßte ihn beim Arm.»Hören Sie zu, denn ich bin älter und wohl etwas weiser als Sie. Ich kann Sie jetzt auf Ihr Schiff zurückbringen lassen. Es wäre keine Schande für Sie. In einem Jahr ist die ganze Geschichte vergessen. Überlassen Sie die Politik denen, die sich jeden Tag die Finger damit beschmutzen, ohne daß es ihnen etwas ausmacht.»
Bolitho schüttelte den Kopf.»Würden Sie das an meiner Stelle tun?«Er zwang sich ein Lächeln ab.»Ihr Gesicht sagt mir, was ich wissen wollte.»
Le Chaumareys nickte seinen Offizieren zu und schritt zum Fallreep. Auf dem Geschützdeck bemerkte Bolitho die frischen Reparaturstellen an Planken und Tauwerk: die Spuren jenes Gefechts mit der Undine, das er damals schon fast verlorengegeben hatte. Ein seltsames Gefühl, so neben dem Kapitän der Argus zu gehen. Sie waren mehr wie Landsleute als wie Gegner, die einander noch vor so kurzer Zeit hatten vernichten wollen. Aber wenn sie nach diesem Erlebnis noch einmal aneinandergerieten, dann gab es keinen Waffenstillstand mehr.
Stetig zog das Boot über das wirbelnde Wasser, mit Kurs auf die Pier unterhalb der Festung. Die ganze Zeit ließen die französischen Matrosen die Augen nicht von Bolitho. Aus Neugier — oder weil sie hier einem Feind ins Gesicht sehen konnten, ohne zu kämpfen?
Nur einmal während der kurzen Überfahrt sagte Le Chaumareys etwas:»Verlieren Sie Muljadi gegenüber nicht Ihre Selbstbeherrschung! Ein Wink von ihm, und Sie sind in Ketten. Mitleid kennt er nicht.»
«Und wie ist Ihre Situation?»
Der Franzose lächelte bitter.»Mich braucht er, m'sieur.»
Als sie an der Pier anlegten, sah er aufs neue den Haß, der ihm schon früher aufgefallen war. Inmitten einer Eskorte von Franzosen mußte er sich beeilen, die steile Schräge zur Festung hinaufzukommen, denn von allen Seite hörte er Flüche und wütendes Geschrei; kein Zweifel, ohne die massive Präsenz ihres Kapitäns wären sogar die französischen Matrosen tätlich angegriffen worden.
Zu ebener Erde war die Festung nicht viel mehr als eine leere Hülse. Im Hof lagen Binsen und Lumpen herum, die den immer zahlreicher werdenden Anhängern Muljadis als Schlaflager dienten. Oben auf der Brustwehr, unter dem blauen Himmel, sah man die Geschütze: alt, aber großkalibrig, und neben jedem ein Haufen Kugeln; lange Taue baumelten liederlich in den Hof hinunter, daneben standen primitive Körbe, vermutlich zum Hinaufziehen von Nachschub an Munition.
Roh behauene Stufen. Die Sonne brannte ihm auf die Schultern, doch als sie plötzlich in den Schatten traten, spürte er feuchte Kälte am ganzen Leib.
«Warten Sie hier drin«, knurrte Le Chaumareys. Er führte Bolitho in einen Raum mit steinernen Wänden, nicht größer als ein Kabelgatt, und schritt zu einer eisenbeschlagenen Tür am anderen Ende. Zwei schwerbewaffnete Eingeborene bewachten sie und glotzten die Franzosen an, als hofften sie auf einen Kampf. Aber Le Chaumareys drängte durch sie hindurch wie ein Dreidecker, der durch die Gefechtslinie bricht. Entweder fühlte er sich vollkommen sicher, oder es war lange geübter Bluff — Bolitho wußte es nicht.
Er brauchte nicht lange zu warten. Die Tür wurde aufgerissen, und er blickte in einen großen Raum, einen Saal, der anscheinend die ganze Breite des Obergeschosses einnahm. Am anderen Ende befand sich ein Podest, das sich farbig von den grauen Steinen der Mauern abhob.
Muljadi lehnte lässig in seidenen Kissen, die Augen starr auf die Tür gerichtet. Er war nackt bis zum Gürtel und trug nur eine weiße bauschige Hose zu Stiefeln aus rotem Leder. Sein Kopf war völlig haarlos und wirkte in dem Sonnenlicht, das durch die
Fensterschlitze fiel, seltsam spitz; übergroß und grotesk stand das eine Ohr ab, das er noch hatte.
Neben dem Thron wartete Le Chaumareys, ernst und mit wachsamem Gesicht. An den Wänden standen mehrere Männer. Noch nie hatte Bolitho so dreckiges, brutales Gesindel gesehen; doch nach der Qualität ihrer Waffen zu urteilen, mußten sie Muljadis Unterführer sein.
Er ging auf den Thron zu, wobei er halb damit rechnete, daß einer der Zuschauenden vorspringen und ihn niederstechen würde; aber keiner bewegte sich oder sprach.
Als er sich dem Thron auf ein paar Fuß genähert hatte, sagte Muljadi grob:»Nicht näher!«Er sprach gut englisch, doch mit einem fremdartigen, vermutlich spanischen Akzent.
«Bevor ich Sie töten lasse, Captain«, fuhr er fort,»was haben Sie noch zu sagen?»
Bolitho verspürte das Verlangen, sich die trockenen Lippen zu lecken. Hinter sich hörte er ein erwartungsvolles Scharren und Rascheln; Le Chaumareys starrte ihn an, Verzweiflung im gebräunten Gesicht.
Bolitho begann:»Im Namen Seiner Majestät, des Königs George, fordere ich die Freilassung von Colonel Jose Pastor, Untertan der Spanischen Krone, der unter dem Schutze meines Landes steht.»
Muljadi fuhr hoch; das Gelenk seiner abgehauenen Hand richtete sich wie ein Pistolenlauf auf Bolitho.»Fordern? Du unverschämter Hund!»
Hastig trat Le Chaumareys vor.»Lassen Sie mich erklären,
m'sieur.»
«Sie haben mich mit Hoheit anzureden!«brüllte Muljadi. Voller Wut wandte er sich wieder an Bolitho.»Ruf deinen Gott um Beistand an! Du wirst noch um deinen Tod flehen!»
Bolithos Herz schlug gegen die Rippen; der Schweiß floß ihm über den Rücken und sammelte sich am Gürtel wie ein eisiger Reif. Mit gespielter Gelassenheit griff er in die Hosentasche und zog seine Uhr. Als er den Deckel aufklappen ließ, sprang Muljadi mit ungläubigem Keuchen hoch, stürzte sich auf Bolitho und packte mit eisernem Griff dessen Handgelenk.
«Wo hast du das her?«schrie er. Von der Uhr baumelte die kleine, goldene, tatzenschlagende Raubkatze.
Bolitho zwang sich, so gelassen wie möglich zu antworten und nicht den genau gleichen Anhänger auf Muljadis Brust anzustarren.»Von einem Gefangenen. «Und in schärferem Ton:»Einem Seeräuber!»
Langsam verdrehte Muljadi Bolithos Handgelenk. Seine Augen glühten.»Du lügst!«zischte er.»Und du wirst leiden dafür! Jetzt gleich!»
«Um Gottes willen!«rief Le Chaumareys dazwischen.»Reizen Sie ihn nicht, er bringt Sie wirklich um!»
Bolitho wandte den Blick nicht ab. Er spürte Muljadis Kraft, seinen Haß — aber noch etwas anderes. Angst?
Er sagte:»Mit einem Fernglas können Sie mein Schiff sehen. Und an der Großrah eine Schlinge. Wenn ich nicht vor Sonnenuntergang wieder an Bord bin, hängt Ihr Sohn — ich gebe Ihnen mein Wort darauf. Das Medaillon habe ich von seinem Hals genommen, als ich etwa vierzig Meilen südlich von hier seinen Schoner aufbrachte.»
Die Augen Muljadis schienen aus ihren Höhlen zu treten.»Du lügst!»
Bolitho löste sein Handgelenk aus Muljadis Griff. Dessen Finger hinterließen Spuren wie Taue, die rasend schnell durch die Hand glitten und sie dabei versengten.
Gelassen erwiderte Bolitho:»Ich tausche ihn gegen Ihren Gefangenen aus.»
Er blickte zu dem verdutzten Le Chaumareys hinüber.»Der capitaine kann das sicherlich arrangieren.»
Muljadi stürzte zum Fenster und riß einem seiner Männer ein Fernglas aus dem Gürtel. Heiser sagte er über die Schulter hinweg zu Bolitho:»Sie bleiben als Geisel hier!»
«Nein«, erwiderte Bolitho,»keine Geiseln, sondern ein ehrlicher Austausch. Sie haben mein Wort als englischer Offizier.»
Muljadi warf das Teleskop wütend auf den Steinboden, daß die Splitter der Linsen in alle Richtungen flogen. Sein Atem ging heftig, und auf seinem kahlrasierten Kopf glänzten Schweißperlen.»Englischer Offizier? Bilden Sie sich ein, daß ich mir daraus etwas mache?«Er spuckte Bolitho vor die Füße.»Dafür werden Sie noch leiden, das verspreche ich Ihnen!»
«Gehen Sie darauf ein — Hoheit!«rief Le Chaumareys dazwischen.
Aber Muljadi tobte wie ein Verrückter. Plötzlich griff er nach Bolithos Arm, zerrte ihn an das andere Saalende und stieß ihn dort vor ein Fenster.
«Blicken Sie hinunter, Captain!«Die Worte fielen wie Pistolenschüsse.»Ich gebe Ihnen den Colonel — aber Ihr Stützpunkt ist trotzdem nicht mehr zu retten!»
Bolitho starrte auf den glitzernden Wasserstreifen hinunter, der sich zwischen der Festung und der nächsten Insel erstreckte. Dort, wo die Durchfahrt einen Bogen machte, lag eine Fregatte vor Anker; das Deck wimmelte von geschäftigen Männern.
Muljadis Haß verwandelte sich in wilden Triumph, und er schrie:»Mein! Alles mein! Nun, Sie Offizier, sind Sie immer noch zuversichtlich?»
«Warum mußten Sie das tun?«fragte Le Chaumareys finster. Wilde Wut in den Augen, wirbelte Muljadi herum.»Denken Sie, man muß mir sagen, was ich tun oder lassen soll? Halten Sie mich für ein Kind? Ich habe lange genug gewartet. Das ist jetzt vorbei!»
Knirschend öffnete sich die Tür. Zwischen zwei bewaffneten Piraten kam der spanische Kommandant herein, blinzelnd, als wäre er fast blind.
Bolitho schritt an Muljadi und seinen Männern vorbei.»Ich bin gekommen, um Sie heimzubringen, Senor.«Er sah die schmutzige, zerfetzte Kleidung des Offiziers, die Spuren der Handschellen an seinen Gelenken.»Es war sehr tapfer von Ihnen.»
Leer und verschwommen, mit zitterndem Kopf, starrte der alte Mann ihn an.»Ich verstehe nicht«, stieß er hervor.
Le Chaumareys sagte:»Kommen Sie! Sofort!«Und leiser fügte er hinzu:»Sonst kann ich nicht für Ihre Sicherheit garantieren.»
Wie Traumwandler schritten sie den abschüssigen Weg zur Pier hinunter, gefolgt von der Stimme Muljadis, der etwas Unverständliches in fremder Sprache hinter ihnen her schrie. Unverkennbar waren es Beschimpfungen und Drohungen.
«Die Fregatte«, sagte Bolitho kalt,»war ein englisches
Schiff.»
Müde nickte Le Chaumareys.»Ja. 1782 im Gefecht schwer havariert, wurde sie hier auf Grund gesetzt. Ihre Mannschaft kam auf ein anderes Schiff. Wir haben fast zwei Jahre an ihr gearbeitet. Jetzt ist sie wieder in Ordnung. Ich habe Befehl, sie in seeklarem Zustand an Muljadi zu übergeben, bevor ich heimsegeln darf.»
Bolitho sah ihn nicht an. Er stützte den spanischen Kommandanten, der vor Schwäche und Erschütterung zitterte.
«Dann kann ich nur hoffen, daß Sie stolz auf Ihr Werk sind, m'sieur. Und auf das, was Muljadi mit der Fregatte anrichten wird — nun, da sie seeklar ist.»
Bald lag das Boot unter den Rahen der französischen Fregatte, und Bolitho stieg hinter Le Chaumareys das Fallreep hinauf. Dieser sagte kurz:»Maurin wird Sie zu Ihrem Schiff bringen. «Dann blickte er Bolitho ein paar Sekunden lang forschend an.»Sie sind noch jung. Eines Tages hätten Sie mich vielleicht verstanden. Nun ist das vorbei. «Er streckte die Hand aus.»Wenn wir uns wieder treffen — und das wird, fürchte ich, unvermeidlich sein — , dann ist es zum letztenmal.»
Er drehte sich abrupt um und schritt zu seiner Kajüte. Bolitho holte seine Uhr hervor und betrachtete den goldenen Anhänger. Wenn er sich verrechnet oder wenn Potter ihm etwas Falsches erzählt hätte… Darüber auch nur Vermutungen anzustellen, war unerträglich.
Dann dachte er an die englische Fregatte. Ohne Muljadis Wutausbruch hätte er überhaupt nichts von ihr erfahren. Dieses Wissen half zwar wenig; aber schließlich war es besser als nichts.
Maurin kam und sagte munter:»Ich lasse ein Boot klarmachen. Auf Ihrem Schiff wird man überrascht sein, daß Sie so unbehelligt wieder eintreffen. Ebenso überrascht wie ich.»
Bolitho lächelte.»Danke. Ich hatte guten Schutz. «Sein Blick schweifte zum Kajütniedergang; aber es blieb ungewiß, wen genau er gemeint hatte.