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Das Bild, das die beiden Reiter boten, als sie am folgenden Tag aufbrachen, war natürlich ein ziemlich sonderbares. Es bleibt sehr zu bezweifeln, ob Cyprien sich in einem solchen Aufzug gern vor den Augen von Miss Watkins auf der Hauptstraße des Lagers von Vandergaart gezeigt hätte. Doch Not bricht ja Eisen. Hier befanden sie sich ja in der Wüste, und die Giraffen bildeten gewiß kaum merkwürdigere Reittiere als etwa Dromedare. Ihre Gangart hatte übrigens eine gewisse Ähnlichkeit mit der jener »Schiffe der
Wüste«. Sie war entsetzlich hart und gleichzeitig von einem solchen Schwanken begleitet, daß die beiden Reisegefährten zuerst fast dieselbe Übelkeit wie von der Seekrankheit verspürten.
Nach 2 bis 3 Stunden hatte sich jedoch Cyprien so gut wie der Chinese an diese Schaukelbewegung gewöhnt. Da die Giraffen nun einen sehr schnellen Schritt einhielten und sich nach einiger, schnell unterdrückter Widerspenstigkeit auch als sehr gelehrig erwiesen, so gestaltete sich alles ganz nach Wunsch.
Es kam jetzt vor allem darauf an, durch vermehrte Geschwindigkeit die während der letzten 3 oder 4 Tage verlorene Zeit wieder einzuholen. Matakit mußte jetzt schon ein gutes Stück Weges vorausgekommen sein. Oder sollte An-nibal Pantalacci ihn gar schon erreicht haben? Mochte dem sein, wie es wollte, jedenfalls blieb Cyprien entschlossen, nichts zu unterlassen, um an sein Ziel zu gelangen.
3 Reisetage hatten die Reiter oder vielmehr die »Giraffenhocker« in ein ebenes Land gebracht. Sie hielten sich jetzt längs des rechten Ufers eines ziemlich windungsreichen Wasserlaufs, der genau nach Norden strömte - ohne Zweifel einer der Nebenflüsse des Sambesi.
Die jetzt vollständig gezähmten und nebenbei durch anstrengende Tagesmärsche nicht weniger wie durch Lis streng eingehaltene magere Fütterung etwas abgematteten Giraffen ließen sich nun mit vollkommener Leichtigkeit regieren. Cyprien konnte sogar die langen Zügel seines Tieres gänzlich loslassen und es durch einfachen Schenkeldruck nach Belieben leiten.
Befreit von der früheren Beschwerlichkeit und Unsicherheit, gewährte es ihm jetzt ein förmliches Vergnügen, aus den eben durchmessenen wilden und verlassenen Gegenden herauszukommen und von allen Seiten Spuren einer schon etwas vorgeschrittenen Zivilisation zu bemerken. Hier fanden sich von Strecke zu Strecke Maniok- oder Tarofelder von sehr regelmäßiger Anlage und bewässert durch ein System aneinandergefügter Bambusrohre, die das Wasser vom Fluß her zuführten, breite und gut erhaltene Wege - kurz, das allgemeine Bild fröhlichen Gedeihens; auf den den Horizont umgebenden Hügeln erhoben sich weiße, bienenstockähnliche Hütten, die eine, übrigens ziemlich dünne Einwohnerschaft bargen.
Dennoch wies hier verschiedenes darauf hin, daß man sich an der Grenze der Wüste befand, und wäre es nur die erstaunliche Menge Raubtiere, Wiederkäuer und andere gewesen, die die Ebene bevölkerten. Da und dort verdunkelten ungeheure Schwärme von Vögeln jeder Art und Größe die Luft. Man sah ganze Gesellschaften von Gazellen oder Antilopen, die über den Weg hineilten; dann wieder erhob ein riesiges Flußpferd den plumpen Kopf aus dem Wasser, schnaufte geräuschvoll und verschwand darauf mit dem Tosen eines Wasserfalls in den wirbelnden Wellen.
Ganz eingenommen von diesem Schauspiel, versah sich Cyprien sehr wenig dessen, was der Zufall ihm hinter der
Ecke des kleinen Hügels aufgespart hatte, den er eben mit seinem Begleiter überschritt.
Es bestand in nichts Geringerem als in der Person Anni-bal Pantalaccis, der, noch immer zu Pferd, Matakit mit verhängtem Zügel verfolgte! Nur 1 Meile lag etwa noch zwischen beiden, während sie wenigstens 4 Meilen von Cyprien und den Chinesen trennten.
Bei der hellen Sonne, die ihre Strahlen fast senkrecht herabsandte, und in dieser von einer Fülle von Licht übergos-senen Ebene, nebst der durch einen frischen, noch immer anhaltenden Ostwind gereinigten Atmosphäre konnte ein Zweifel an dem Gesehenen gar nicht aufkommen.
Beide waren von dieser Wahrnehmung so entzückt, daß es ihre erste Bewegung war, sie durch eine wirkliche arabische Fantasie zu feiern! Cyprien stieß sein Hurra hervor und Li sein Hugh, das dieselbe Bedeutung hatte, dann setzten sie ihre Giraffen in scharfen Trab.
Offenbar hatte Matakit den Neapolitaner bemerkt, der gegen ihn an Distanz zu gewinnen schien; seinen alten Herrn und seinen Kopje-Kameraden konnte er jedoch wegen der zu weiten Entfernung am Rand der Ebene gewiß noch nicht wahrnehmen.
Der junge Kaffer trieb auch beim Erblicken Pantalaccis, der nicht der Mann dazu war, lange Umstände zu machen, und der ihn gewiß wie einen Hund niederschießen würde, ohne erst weitere Erklärungen abzuwarten, seinen von einem Strauß gezogenen Karren so schnell wie möglich vorwärts.
Das schnellfüßige Tier flog nur so dahin und sauste weiter wie der Wind, bis es sich plötzlich an einem großen Stein heftig stieß. Das veranlaßte einen so starken Stoß, daß die durch die lange und beschwerliche Fahrt mitgenommene Achse des Karrens glatt abbrach. Da sich gleichzeitig ein Rad aus seinem Lager löste, blieb Matakit mit dem Gefährt, das ihn bisher getragen hatte, mitten auf dem Weg unerwartet sitzen.
Der unglückliche Kaffer mochte durch den dabei erlittenen Sturz stark verletzt sein. Der Schreck aber, der ihm einmal in den Gliedern saß, widerstand auch einem solchen Stoß oder wurde vielmehr dadurch verdoppelt. Fest überzeugt, daß es um ihn geschehen sei, wenn er sich von dem grausamen Neapolitaner fangen ließ, erhob er sich eiligst, spannte den Strauß aus und setzte diesen, indem er sich auf seinen Rücken schwang, in schnellsten Galopp.
Jetzt begann eine halsbrecherische Steeplechase, wie die Welt seit den römischen Kampfspielen wohl noch keine gesehen, bei denen ebenfalls Strauße und Giraffen verschiedene Programmnummern ausfüllten.
Während nämlich Annibal Pantalacci den flüchtigen Matakit verfolgte, eilten Cyprien und Li nun den Spuren des einen wie des andern nach. Sie hatten ja ein lebhaftes Interesse daran, beide zu erreichen, den jungen Kaffer, um die Frage wegen des gestohlenen Diamanten zur Klärung zu bringen, und den schurkischen Neapolitaner, um ihn zu züchtigen, wie er es verdiente.
Die von ihren Reitern angetriebenen Giraffen flogen denn auch, als jene den eingetretenen Unfall bemerkt, bald die langen Hälse weit vorgestreckt, das Maul geöffnet und die Ohren zurückgeschlagen, angespornt und gepeitscht, so daß sie ihr Möglichstes an Geschwindigkeit leisten mußten, fast ebenso schnell wie die besten Vollbluthengste dahin.
Matakits Strauß leistete wirklich Wunder an Schnelligkeit. Kein Sieger im Derbyrennen oder in dem um den großen Preis der Stadt Paris hätte mit ihm in die Schranken treten können. Seine zum Fliegen zwar zu kurzen Schwingen unterstützten ihn doch, seinen Lauf zu beschleunigen. All das ging so schnell vor sich, daß der junge Kaffer schon binnen weniger Minuten gegenüber dem, der ihn verfolgte, einen ganz beträchtlichen Vorsprung gewonnen hatte.
Oh, Matakit hatte sich, als er einen Strauß dazu wählte, ein vortreffliches Reittier zugelegt. Wenn er sich nur eine Viertelstunde in dieser Gangart halten konnte, dann mußte er unzweifelhaft aus dem Bereich jeden Angriffs und aus den Klauen des Neapolitaners gerettet sein.
Annibal Pantalacci begriff sehr gut, daß die geringste Verzögerung ihn um all seinen Vorteil bringen mußte. Schon vergrößerte sich die Entfernung zwischen dem Flüchtling und ihm selbst. Jenseits des Maisfelds, durch das diese wilde Jagd ging, erstreckte sich über Sehweite hinaus dichtes Buschwerk von Mastixbüschen und indischen Feigenbäumen. Wenn Matakit diese erreichte, war es so gut wie unmöglich, ihn wiederzufinden, da er damit den Augen völlig verschwand.
Dahingaloppierend verfolgten Cyprien und der Chinese den Wettstreit mit leicht erklärlichem Interesse. Endlich waren sie am Fuß des Hügels angelangt und jagten nun auch durch das ausgedehnte Feld, aber immer noch trennten sie 3 Meilen ebenso von dem Jäger wie von dem Gejagten.
Dennoch konnten sie sehen, daß der Neapolitaner durch übermenschliche Anstrengung zuletzt ein wenig über den Flüchtling an Wegstrecke gewonnen hatte. Ob der Strauß nun erschöpft war, oder sich an einem Baumstumpf oder einem Felsstück verletzt hatte, jedenfalls erschien seine Schnelligkeit jetzt wenigstens vermindert. Annibal Pan-talacci befand sich bald nur noch 300 Fuß von dem Kaffern entfernt.
Da erreichte Matakit aber den Saum des Dickichts; sofort verschwand er darin; im nächsten Augenblick stürzte Annibald Pantalacci, mit Gewalt aus dem Sattel geschleudert, zu Boden, während sein Pferd querfeldein entfloh.
»Matakit entwischt uns!« rief Li.
»Ja, aber Pantalacci, der Schurke ist in unsere Hand gegeben!« antwortete Cyprien. Beide trieben ihre Giraffen schneller vorwärts.
Eine halbe Stunde später, nachdem sie das Maisfeld fast vollständig durchmessen hatten, waren sie nicht weiter als höchstens noch 500 Fuß von der Stelle entfernt, wo der Neapolitaner gestürzt war. Für sie entstand nun die Frage, ob Annibal Pantalacci sich hatte erheben und das Mastixdickicht erreichen können, oder ob er noch, schwer verletzt von dem Fall - vielleicht gar tot - dort am Boden lag.
Der Bube war noch immer da. 100 Schritt vor ihm hiel-ten Cyprien und Li. Der Grund seines Unfalls erwies sich als folgender:
In der Hitze der Verfolgung hatte der Neapolitaner ein ungeheures Netz nicht bemerkt, das hier von Kaffern ausgespannt war, um die Vögel zu fangen, die deren Ernten unaufhörlich beraubten. In dieses Netz hatte Annibal Pan-talacci sich verwickelt.
Das war aber kein Netz von geringen Abmessungen! Es maß mindestens 500 Meter auf jeder Seite und enthielt schon mehrere tausend Vögel jeder Art, Größe und Gefieders, unter anderm auch ein halbes Dutzend jener riesigen Lämmergeier mit einer Flügelspannweite von 1,5 Meter, die zuweilen in diesen Gegenden des südlichen Afrikas vorkommen.
Das plötzliche Hineinstürzen des Neapolitaners in diese Welt von Vögeln brachte letztere natürlich in ungeheure Aufregung.
Zuerst von dem Fall etwas betäubt, hatte Annibal Pan-talacci fast sofort versucht, sich wieder zu erheben. Seine Füße, Beine und Hände waren aber in den Maschen des Netzes so fest gefangen, daß es ihm im ersten Anlauf nicht gelang, sich daraus zu befreien.
Dennoch hatte er keine Zeit zu verlieren. Er stieß und schlug um sich herum, zerrte aus Leibeskräften an dem Netz, hob es teilweise auf und suchte es von den Pfählen am Erdboden, die es hielten, abzureißen, während die großen und kleinen Vögel dasselbe taten, um ihre Freiheit wiederzuerlangen.
Je mehr der Neapolitaner sich aber abmarterte, desto mehr verwickelte er sich in die festen Maschen des gewaltigen Netzes.
Da sollte ihm auch noch die schlimmste Erniedrigung bevorstehen. Eine der Giraffen hatte ihn erreicht, und ihr Reiter war kein anderer als der Chinese. Li war mit kalter Bosheit zur Erde gesprungen und hatte, in der Meinung, sich des Gefangenen gar nicht besser versichern zu können, nichts Eiligeres zu tun, als die entgegengesetzte Seite des Netzes teilweise abzulösen und dessen Maschenwerk auch noch um jenen herumzuschlagen.
In diesem Augenblick aber ereignete sich ein höchst unerwarteter Theatercoup.
Es erhob sich nämlich urplötzlich ein so heftiger Wind, daß er die Bäume in der Umgebung niederbog, fast als wenn eine Windhose über den Erdboden wegstriche.
Durch verzweifelte Anstrengung war es Annibal Pan-talacci inzwischen gelungen, schon eine ziemliche Anzahl Pfähle aus der Erde zu zerren, die den unteren Rand des Netzes festgehalten hatten.
Jetzt, wo er seine bevorstehende Gefangennahme vor sich sah, verdoppelte er nur seine fruchtlosen Versuche.
Plötzlich, als der Sturm mit erneuter Wut einsetzte, wurde das Netz zerrissen, die letzten Fesseln, die dieses ungeheure Schnurgespinst noch am Boden gehalten hatte, wurden gebrochen, und der Vogelschwarm darin flatterte mit ohrzerreißendem Geschrei aufwärts. Den kleinen Vögeln gelang es zu entkommen, den größeren aber, deren
Krallen noch in den Maschen verwickelt saßen, als ihre Flügel frei wurden, zusammenzuarbeiten. Die Vereinigung all dieser Windflügel und die vielen Brustmuskeln, deren Bewegung gleichzeitig vor sich ging, bildeten, unterstützt von dem wütenden Sturm, eine so gewaltige Kraft, daß 100 Kilogramm dagegen nicht mehr als eine Feder wogen.
Das ausgerissene, halb zusammengerollte, in sich selbst verwickelte Netz, das dem Wind immerhin einen ziemlich großen Angriffspunkt darbot, wurde denn auch plötzlich mit dem an Händen und Füßen gefesselten Annibal Pan-talacci wenigstens 30 Meter hoch emporgehoben.
Cyprien kam in diesem Augenblick hinzu, konnte aber nur der Entführung seines Feindes nach der Region der Wolken noch zusehen.
Jetzt zeigte das gefiederte Volk der Lämmergeier, vielleicht erschöpft von der ersten Anstrengung, offenbar Neigung, unter Beschreibung eines weiten Bogens wieder herunterzukommen. Binnen 3 Sekunden erreichte es den Saum der Mastix- und Feigenbäume, der sich westlich von dem Maisfeld hinzog. Nachdem die Tiere 3 oder 4 Meter über dem Erdboden deren Gipfel gestreift, erhoben sie sich noch einmal in die Lüfte.
Mit Schrecken sahen Cyprien und Li den Unglückseligen in dem Netz hängen, mit dem er jetzt durch die gewaltige Anstrengung der Vögel und mit Hilfe des Sturmwinds mehr als 150 Fuß über den Erdboden erhoben wurde.
Plötzlich gaben einige Maschen den Angriffen des Neapolitaners nach. Man sah ihn einen Moment an den Hän-
den hängen und nach den Stricken des Netzes greifen . . . Da öffneten sich aber seine Hände, er ließ los, fiel, eine schwere Masse nieder, und zerschmetterte auf dem Erdboden.
Das um sein Gewicht erleichterte Netz flog jetzt noch einmal höher, wurde noch einige Meilen mit fortgerissen, und sank dann hinab, als die Lämmergeier ihre Krallen befreit hatten und nun hoch hinauf entflohen.
Als Cyprien hinzugelaufen kam, um ihm Hilfe zu bringen, war sein Feind schon tot . . . tot unter diesen entsetzlichen Umständen!
Jetzt war er also allein und übrig von den vier Rivalen, die zur Erreichung desselben Ziels durch die Ebenen des Transvaal ausgezogen waren.