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Etwas, das vielleicht damit zu tun hatte, daß Fred Myers kurz vor der Mission die zum Trocknen an seinen Wagenkasten gehängten Skalps abgenommen und unter der Plane verstaut hatte.
Sie hatte viel Zeit, darüber nachzudenken. Jetzt, wo sie Jamie nur noch zum Stillen sah.
Eliza Bradden gab den kleinen Jungen für die kurze Zeit nur sehr widerwillig heraus. Sie behielt Mutter und Kind stets im Auge, ganz so, als gehöre Jamie eigentlich ihr und nicht der richtigen Mutter. Neidisch beobachtete die ältere Frau, wie der Junge Irenes Muttermilch saugte.
Fast empfand die junge Deutsche Mitleid mit ihr. Sie konnte sich vorstellen, was John Braddens Frau durchmachte, nachdem sie ihre eigenen Kinder an das Fieber verloren hatte. Jamie stellte eine Art Ersatz für sie dar.
Aber das Mitleid schwand schnell, als Irene daran dachte, was heute morgen fast mit ihrem Sohn geschehen wäre. Hätte Eliza Bradden tatenlos mitangesehen, wie ihr Schwager die Kehle des Kindes durchschnitt?
Jedenfalls hatte sie geduldet, wie er Jamie als Geisel nahm und ihn in Angst und Schrecken versetzte. Ohne Widerspruch und ohne sichtbare Regung hatte sie danebengestanden und einfach nur zugesehen.
So verhielt sich keine Mutter! Nicht, wenn in ihr auch nur ein Funke Gefühl für ihr Kind glomm.
Jamie gehörte zu Irene, zu niemandem sonst!
Und doch mußte sie ihn hergeben, sobald sein Appetit befriedigt war. Jedesmal weinte Jamie, wenn sie sich trennten, und seiner Mutter brach fast das Herz.
Die Mission lag in einer von Hügeln und Wäldern eingefaßten Ebene am hier noch jungen Molalla River. Ein malerisches Bild, das Irene nicht genießen konnte. Trotzdem hockte sie neben Lewis Bradden auf dem Bock und blickte sich sorgfältig um.
Es hatte keinen Sinn, sich zu verkriechen. Sie mußte wissen, was vor sich ging, wenn sie auch nur eine kleine Chance haben wollte, etwas für sich und vor allem für Jamie zu tun.
Ring um die eigentliche Missionsstation erstreckten sich große Felder bis zum Waldrand. Auf ihnen herrschte reges Treiben.
Erst wunderte sich Irene, was es so kurz nach der Schneeschmelze schon zu tun gab. Dann sah sie, daß die Männer fieberhaft an einem Netz von Gräben arbeiteten. Offenbar hatte die große Schneeschmelze zu Überschwemmungen geführt.
Sobald die Arbeiter aber den Treck entdeckten, ließen sie Hacken, Spaten und Schaufeln liegen und rannten zu den Wagen. Der Winter war eine einsame Zeit gewesen. Die Siedler versprachen Neuigkeiten und Abwechslung.
Fast alle Arbeiter hatten dunkle Haut und unverkennbar indianische Züge, auch wenn die meisten von ihnen die Haare kurz und die Kleidung der Weißen trugen.
»Schauen Sie sich nur die bekehrten Wilden an«, raunte der sonst eher schweigsame Lewis Bradden verächtlich. »Sie tragen das Kreuz Christi um den Hals, aber die meisten von ihnen haben darunter die indianische Medizin versteckt!«
»Woher wissen Sie das?« erkundigte sich Irene.
»Das ist doch klar!« erwiderte der Sohn des Treck-Captains und spie aus.
»Sind es Nez Perce?« fragte Irene, die Verachtung in Braddens Worten absichtlich überhörend.
»Yeah, zumindest die meisten. Vielleicht sind auch ein paar Spokane, Coeur d'Alene, Cayuse und Walla Walla darunter. Diese Betbrüder hängen doch jedem das Kreuz um, den sie packen können.«
»Mögen Sie die Missionare nicht?«
»Nein. Sie behandeln die Roten wie Lämmer. Dabei sind es wilde Wölfe, die sich nur bei den Weißen etwas Winterspeck anfuttern. Wenn sie die Nase voll davon haben, bringen sie die angeblichen Brüder mit der hellen Haut um und ziehen nach Art ihrer Vorfahren wieder mordend und plündernd durchs Land.«
Am liebsten hätte Irene ihm gesagt, daß die Leute aus Greenbush es waren, die mordend und plündernd durchs Land zogen. Aber sie wollte ihn nicht unnötig reizen.
Also fragte sie nur: »Wie viele Indianer leben hier?«
»An die vierzig Männer, schätze ich. Dazu noch Squaws und Kinder. Alles in allem wohl an die zweihundert Rothäute.«
»Und wie viele Weiße?«
»Nur drei, wenn sich in der Zwischenzeit nichts verändert hat. Simon Mercer, seine Frau Narcissa und der alte Walt Hickly. Er ist so eine Art Mädchen für alles.«
Je näher die Wagen der Missionsstation kamen, desto länger wurde der Zug der sie begleitenden Indianer. Jetzt kamen auch Frauen und Kinder aus der Hüttensiedlung angelaufen, in der die bekehrten Roten lebten.
Die Indianer riefen den Neuankömmlingen Fragen zu, in der Sprache der Weißen. Sie fragten nach dem Leben jenseits der Cascade Mountains, nach Bekannten in Greenbush und bei den frei lebenden Nez Perce.
Auch wenn sich die Leute aus Greenbush um Freundlichkeit bemühten, fielen ihre Antworten eher einsilbig aus.
Irene fragte sich, warum die Weißen den Roten gegenüber so freundlich taten. Weil dies hier bekehrte Indianer waren, gegen die man keinen Groll hegte? Oder weil eine bestimmte Absicht dahintersteckte?
Aber welche?
Zwischen der Indianersiedlung und den anderen Gebäuden der Mission lagen ein paar hundert Yards freies grasbewachsenes Gelände. Hier ließ John Bradden den Treck anhalten und ritt dann zu Irenes Wagen.
»Da kommen die Mercers«, sagte er und wies auf die Gebäude zur Rechten, zu denen eine einfache, aber große Kirche, mehrere Häuser und Ställe, eine Schmiede und eine durch die Wasser des Molalla River betriebene Mühle gehörten.
Von dort liefen den Wagen drei Weiße entgegen, zwei Männer und eine Frau. Das mußten die Mercers und Walt Hickly sein.
»Du weißt, wie du dich zu verhalten hast, Dutch-Lady!« zischte der Treck-Captain.
Es war weniger eine Frage als eine Erinnerung an die Anweisungen, die John Bradden der Deutschen gegeben hatte. Trotzdem nickte Irene.
»Ja, ich weiß Bescheid. Und ich werde mich danach richten.«
FürJamie, dachte sie. Nur für ihn!
»Schön. Denk immer an deinen kleinen Sohn, dann wird es dir leichtfallen.« John Bradden blickte seinen eigenen Sohn an.
»Paß gut auf die Dutch-Lady auf, Lewis!«
Der Treck-Captain riß seinen Rappen herum und ritt den Weißen von der Mission entgegen. Die hatten den Wagenzug fast erreicht und begrüßten Bradden freundlich.
»Was ist los, Bruder John?« fragte der Mann, den Irene für Simon Mercer hielt. »Warum kommst du uns gleich mit vier Wagen besuchen? So viel Tauschmaterial kannst du so kurz nach dem Winter doch gar nicht haben.«
Er war ein großer knochiger Mann, irgendwo zwischen Fünfzig und Sechzig. Das eisgraue Haar fiel ihm in wirren Locken in den Nacken. Lange und ebenfalls graue Koteletten wuchsen bis zum Kinn hinunter. Das sonst bartlose Gesicht drückte eine gutmütige Strenge aus. Die Augen konnte Irene nicht erkennen, weil die dicken Gläser einer großen Brille das Licht der tiefstehenden Sonne reflektierten. Er trug eine schwarze Hose und eine dazu passende Weste über einem weißen Hemd, dessen Kragen von einer schwarze Schleife geziert wurde.
»Wir wollen uns hier ausruhen, Dr. Mercer«, erwiderte der Treck-Captain und beugte sich im Sattel nach vorn, um dem Missionar ins Gesicht zu blicken. »Wir sind unterwegs zur Küste.«
»Zur Küste?« echote Mercer mit einem fragenden Gesicht, das Verständnislosigkeit ausdrückte. »Weshalb?«
»Wir wollen nach Kalifornien. Dort ist in letzter Zeit eine Menge Gold gefunden worden. Warum sollen nur die anderen Glück haben?«
Das Gesicht des Missionars verdüsterte sich.
»Bruder John, es ist nicht Gottes Wille, daß der Mensch dem Gold nachjagt. Warum bleibt ihr nicht bei den anderen in Greenbush und bestellt euer Land, wie es dem Herrn gefällt?«